Ernst v. Wolzogen
Der Kraft-Mayr
Ernst v. Wolzogen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.

Die verfluchte Musik!

Mit den Stiefeletten des Herrn Konsuls in der Hand wollte der Diener das Schlafzimmer seines Herrn verlassen.

»Ach Fritz, Sie könnten mir die Lampe mit dem grünen Schirm bringen! Ich möchte gern, – 's wird ja wohl noch 'n Viertelstündchen dauern mit dem Thee, – holen Sie mir doch die Abendzeitung aus meinem Zimmer; ich glaube, sie liegt noch auf dem Schreibtisch.«

»Sehr wohl, Herr Konsul.«

Der Diener verschwand, und Herr Konsul Burmester, ein kleiner, wohlbeleibter Herr von etlichen fünfzig Jahren, zog seinen Rock aus und warf sich dann mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung in einen niedrigen Polstersessel vor dem Ofen, in welchem ein frisch angeschürtes Feuer just mit vollem Atem zu prasseln begann. Der kleine Herr polierte sich mit seinem seidenen Schnupftuch die stattliche Glatze, bis sie so blank war, daß das flackernde Feuer sich darin spiegeln konnte, dann kraute er sich mit allen zehn Fingern in dem spärlichen blonden Haarkranz, der seinem Schädel noch verblieben war, und ebenso in dem gleichfalls blonden, kurzgehaltenen Vollbart. Dann knöpfte er sich den hohen, steifen Halskragen los, streckte die kurzen, dicken Beine weit von sich, lehnte den Oberkörper zurück und gähnte. Er gähnte langgezogen, stoßweise, tremolierend, aus höchster Lage langsam in ein natürliches Tonregister hinuntergleitend. Er gähnte wieder und immer wieder; das Thema u–ah kunstvoll variierend: ua–ha–ha – uaiaiaiaiai – hu–huhuhuhhhu! Wie ein raffinierter Sybarit kostete er den Genuß des Gähnens mit pedantischer Gründlichkeit aus, bis er sich endlich mit einem kurzen wohligen Grunzen zufrieden gab und die Hände über dem Bäuchlein faltete. Den schlappgeschwitzten Hemdkragen hielt er dabei immer noch zwischen zwei Fingern fest. So erwartete er die Rückkehr seines Dieners.

Zur selben Zeit war die gnädige Frau gleichfalls damit beschäftigt, es sich zum Nachtmahl bequem zu machen. Frau Olga Burmester hatte ihr Schlafzimmer nach vorn hinaus verlegt, neben den Salon. Wenn es Gesellschaft gab, so pflegte sie die Flügelthüren nach dem Schlafzimmer weit zu öffnen. Sie hatte gehört, daß es bei den vornehmen Pariser Damen Stil sei, das Schlafzimmer der Herrin den Gesellschaftsräumen beizuzählen und sogar an Migränetagen, sowie ähnlichen wohlanständigen Elitekrankheiten im Schlafzimmer, welches natürlich zu diesem Zweck einen intimen Boudoircharakter an sich tragen mußte, Besuche zu empfangen. Und da Frau Konsul Burmester, geborene von Studnitzka, mit ganz besonderer Vorliebe ausländische Gepflogenheiten nachahmte, die für deutsche Begriffe noch den Reiz des Ungewöhnlichen besaßen, so hatte sie der Ausstattung ihres Schlafzimmers eine besondere Sorgfalt angedeihen lassen. Das breite, sehr niedrige Himmelbett, ein rares Stück altdeutscher Schnitzkunst, stand auf einem teppichverkleideten Podium, links und rechts daneben verdeckten ein paar große, imitierte Gobelins die Wände, sowie ein dicker Smyrnateppich den ganzen Fußboden. Die Kopfkissen waren mit breiten Spitzen besetzt und lagen auch bei Tage oben auf der kostbaren Steppdecke von bronzefarbenem Atlas zur Schau. Mit bronzefarbenem Atlas waren auch die wenigen zierlichen Polstermöbel überzogen. Ein Trumeau, der fast bis an die Decke hinaufreichte, ein höchst eleganter Toilettentisch und eine schöne Kommode aus der Barockzeit vervollständigten die Einrichtung. Das Waschgerät und die übrigen notwendigen Gebrauchsmöbel waren in ein kleines Vorzimmer verwiesen. Die Gnädige saß bereits in einen weichen weißen Schlafrock gehüllt auf einem niedrigen Lehnsessel vor einem großen Wandspiegel und ließ sich von ihrer Zofe, die vor ihr kniete, die Stiefel ausziehen und die eleganten türkischen Pantoffeln über die Füße streifen. »Wann ist meine Tochter zu Bett gegangen?« fragte sie das Mädchen. »Wissen Sie, ob es ihr besser geht mit ihren Kopfschmerzen?«

»Ich kann's nicht sagen, gnädige Frau; ich habe das gnädige Fräulein seit acht Uhr nicht mehr gesehen. Da saß sie in dem Herrn sei'm Zimmer und las.«

»Las? Mit Kopfschmerzen liest man doch nicht. Ich will doch selbst mal nachsehen.« Und Frau Burmester erhob sich rasch, warf noch einen Blick in den Spiegel, hakte ihr loses Gewand vollends zu und verließ dann raschen Schrittes das Schlafzimmer. Sie durchschritt den Salon und das Eßzimmer, in welchem der Diener noch beschäftigt war, die letzte Hand an das Arrangement des Theetisches zu legen. Mit einem flüchtigen Blick streifte die Gnädige im Vorübergehen den Tisch.

»Wozu denn drei Couverts, Fritz? Meine Tochter hat sich doch schon zu Bett gelegt.«

Der Diener versuchte vergebens ein Lächeln zu unterdrücken, während er erwiderte: »Ich habe das gnädige Fräulein eben noch im Studierzimmer gesehn, als ich die Zeitung für den gnädigen Herrn herausholte.«

»Eben noch?« Dabei warf die Frau Konsul den Kopf auf und blickte den lächelnden Diener verwundert an. Sie zog die Stirn in Falten. »Na, es ist gut, ich werde sehen.« Und sie beschleunigte ihren Schritt und ging hinaus über den Hinterkorridor nach dem Zimmer ihrer Tochter.

Unmittelbar nachdem die Herrin hinaus war, erschien Marie, die hübsche Zofe, im Eßzimmer.

Fritz ging ihr entgegen, faßte sie vertraulich um die Taille und flüsterte: »Ei weih! Jetzt setzt es was ab für Fräulein Thekla. Die sollte wohl schon längst zu Bette sein, was? Eben hab' ich sie noch im Herrn sei'm Zimmer sitzen sehn, – so mit zwei Finger in die Ohren, über die rote Hefte, die Sie ihr jeborgt haben.«

»Ach du lieber Gott!« rief das Zöfchen leise, indem sie sich aus Fritzens Umarmung losmachte. »Wenn sie bloß unsre Gnädige nicht damit abfaßt; denn krieg ich's auch noch.«

Fritz grinste schadenfroh. »Sehn Se, mein süßer Engel, das haben Se nu davon. Was müssen Sie auch so 'n halbes Kind mit so 'ne aufregende Lektüre versehn.«

»Herrgott nee, so 'n armes Mädchen kann einen doch auch leid thun! Nichts darf sie, was sie gern möchte. Immer und ewig nur Klavierspielen und Singen, das ist doch auch reine zum Dollwerden! Mir thut sie leid; sie ist doch sonst so 'n gutes Mädchen. Raus kommt sie auch kaum wo anders hin, als in die feinen Konzerte, wo's nicht mal 'n Glas Bier zu trinken gibt. Man will doch mal was anders vom Leben sehn in den Jahren.«

»Natürlich, und besonders von wegen die sogenannte Liebe möchte man doch gerne Bescheid wissen,« neckte Fritz. »Nu ja, Sie haben ja recht; mir thut sie ja auch leid. So jung und so hübsch wie sie is und die Olle immer hinterher und aufgepaßt, daß sich das Kind nur ja nicht etwa zu jut amüsiert. Ich begreife bloß nich, wie die Leute zu das Kind kommen.«

»Nee, Fritz, Sie werden auch nie richtig deutsch lernen! Zu den Kind heißt es!« belehrte Marie überlegen lächelnd. »Uebrigens wundert's mich gar nich, daß Sie sich wundern. Ich weiß auch was, was Sie nich wissen.«

»Nanu? Des wäre –?«

»Werd' ich Ihnen gerade sagen! Sie und 'n Geheimnis!«

»Nanu machen Sie mich aber neugierig. Sagen Se's doch! Ich bin doch verschwiegen wie so 'n Jrab – und 'n schönen Kuß kriegen Se auch von mir, Mariechen.«

»Na so dumm! Da hab' ich auch recht was von. Lassen Sie mich los. Ich habe zu thun.«

Das niedliche Zöfchen wich geschickt der Umarmung des verliebten Burschen aus und lief hinaus. Ein kleines Weilchen stand sie draußen auf dem Korridor vor der Thüre des gnädigen Fräuleins still und horchte. Richtig. da drin gab's Thränen und strenge Worte.

Wenige Minuten später trat Frau Burmester wieder heraus und schritt, sichtlich erregt, einen kleinen Pack roter Hefte in der Hand haltend, über den Korridor nach ihres Gatten Schlafzimmer.

Der Konsul saß noch immer in Hemdärmeln und las beim Schein der grünbeschirmten Lampe seine Abendzeitung. Sein großes buntseidenes Taschentuch hatte er über die Kniee gebreitet und oben darauf schlängelte sich der welke Hemdkragen über den dicken Schenkel des kleinen Herrn.

»Aber Willy!« rief seine Gattin unwillig, während sie die Thüre hinter sich ins Schloß drückte. Dann blieb sie auf der Schwelle stehen und richtete ihre äußerst schlanke Gestalt zu ihrer ganzen, nicht unbeträchtlichen Länge empor, – ein lebendiges Ausrufzeichen, die Fleisch, oder, genauer ausgedrückt, Haut und Knochen gewordene Mißbilligung – so stand sie dort im Thürrahmen lebendes Bild.

Herr Burmester ließ mit einem betrübten Seufzer die Zeitung sinken und schaute über die Gläser seines goldenen Zwickers hinweg zu seiner Gattin hinauf. »Was gibt's denn, mein Schatz? Sitzt ihr schon beim Thee?«

»Nein,« erwiderte sie nähertretend. »Ich habe ernstlich mit dir zu reden. Aber du thätest mir einen Gefallen, wenn du erst deine Toilette etwas vervollständigen wolltest. Du weißt doch, daß ich diese saloppen Garçonmanieren nicht leiden kann.«

»Ach Gott, jaa,« versetzte der Konsul sanft und erhob sich mit einem ergebenen Seufzer. »Also was gibt's denn so Wichtiges? Zehn Minuten, um meine Zeitung ungestört zu lesen, hättest du mir auch wohl gönnen können.« Und er knöpfte sich einen reinen Kragen um und zog ein bequemes Jaquet an.

Währenddessen hielt ihm seine Gattin die roten Hefte mit aufgeregter Gebärde vor die Augen und sagte: »Da! Schau dir mal das an! Was ist das? Rate mal, wo ich das gefunden habe.«

»Zweihundert Klafter tief unter der Erde«, oder: »Die Blutgräfin«, las der Konsul gleichgültig von dem Titelblatt ab. »Nun was weiter? Ein Schundroman, den du wahrscheinlich im Küchenkasten gefunden hast. Verlangst du vielleicht von mir, daß ich deswegen der Köchin eine Scene machen soll?«

Frau Burmester dämpfte ihre Stimme zu einem erregten Geflüster herab. »Das ist die Lektüre unsrer Tochter!« rief sie, indem sie die roten Hefte verächtlich auf den nächsten Tisch schleuderte. »Thekla schützt Kopfschmerzen vor, um nicht mit ins Konzert gehen zu müssen, und während wir denken, sie liege im Bett, sitzt sie heimlich über dieser Schandlektüre; von der Marie hat sie sich das Zeug geborgt. Ich erwischte sie in ihrem Schlafzimmer. Sie wollte sich geschwind ausziehen, um uns glauben zu machen, sie sei schon längst zu Bett gegangen. Und wie ich hereintrete, will sie gerade die Hefte unter ihrem Kopfkissen verstecken.«

»Hmhmhm,« machte Herr Burmester und versenkte ratlos seine Hände in die Hosentaschen.

»So; ist das alles, was du zu sagen hast? Du weißt wohl gar nicht, was diese schöne Entdeckung zu bedeuten hat? Da kommt es nun heraus; dieser Hang zum Gemeinen, der ist angeboren – das beruht auf Vererbung!«

»Du sagst das in einem Tone, als ob ich was dafür könnte. Es ist doch nicht mein Kind.«

»Meins auch nicht, Gott sei Dank!« versetzte Frau Olga, fast höhnisch auflachend.

Nun wurde der Konsul auch aufgeregt. Er klimperte mit den Schlüsseln in seiner Tasche und wippte mit den Knieen. »Versündige dich, bitte, nicht!« rief er vorwurfsvoll. »Das Kind ist sanft und gut und liebevoll, und wenn es weiter keine lasterhaften Anlagen geerbt hat, als die Lust an geschmackloser Lektüre, so können wir, meine ich, sehr zufrieden sein. Auf den Geschmack kann man doch bildend einwirken. Uebrigens stammt die Idee, ein ganz fremdes Mädchen zu adoptieren, doch von dir, wie du dich vielleicht erinnern wirst. Ich war ja immer dafür, lieber eine arme Verwandte ins Haus zu nehmen.«

»Ich habe dir doch aus meiner Familie allein ein halbes Dutzend junger Mädchen zur Auswahl gestellt,« versetzte Frau Olga pikiert.

Und er fiel prompt ein. »Die waren mir bloß nicht übermäßig sympathisch, aber du hast überhaupt an keiner auch nur ein gutes Haar gelassen. Du wolltest ja durchaus eine Schönheit haben und ein musikalisches Genie daraus züchten. Darum war dir die Tochter des fahrenden Musikanten und des hübschen Hotelzimmermädchens lieber als alle legitimen Töchter unsrer beiderseitigen Familien. Aber jetzt trage auch die Folgen.«

»Was meinst du damit?« rief Frau Olga aufgeregt. Ihre tiefliegenden dunkeln Meerkatzenaugen sprühten kampflüstern ihren Gatten an. Sie setzte sich in den Lehnstuhl, den er vorher eingenommen hatte, und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Ich habe dich ausreden lassen, mein Lieber,«.fuhr sie spitzig fort. »Du willst mich mit ironischen Ausfällen ducken. Na ja, das ist ja ganz amüsant, aber ich denke doch, diese ernste Frage erfordert eine ernste Ueberlegung. Du wäschst deine Hände in Unschuld, nicht wahr? ich soll die Folgen allein tragen. Was denkst du dir eigentlich darunter? Soll ich gottergeben zuschauen, wie die Natur der Mutter in diesem Kinde wieder die Oberhand gewinnt?«

»Die Mutter hat mir einen sehr angenehmen Eindruck gemacht. Sie ist doch auch eine brave, solide Frau geworden. Der Vater scheint mir gefährlicher. Der kann ja ein großer Lump gewesen sein, wenigstens wissen wir nichts vom Gegenteil.«

»Aber er hat gewiß keine Hintertreppenromane gelesen.«

»Dafür hat sie den Hang zum Dienstpersonal doch sicher einmal von ihm! – Uebrigens Scherz beiseite! Hast du's ihr nicht vielleicht an guter und geschmackvoller Lektüre fehlen lassen?«

»Ich? Die ausgewähltesten klassischen und edelsten modernen Werke habe ich ihr zur Verfügung gestellt. Aber natürlich, das langweilt sie.«

»Natürlich,« lachte der Konsul ihr nach. »Das langweilt solche halben Kinder meistens. Uns Erwachsene manchmal nicht minder.«

»Dich freilich,« höhnte die Gattin. »Der Mangel einer klassischen Bildung ist eben durch nichts zu ersetzen. Das zeigt sich recht eklatant an dir, mein Lieber.«

»Du bist außerordentlich freundlich, meine Beste.« Dabei zog der Konsul seine Hände aus den Hosentaschen und steckte sie zur Abwechslung in die Rocktaschen. Aber mit einem Nachdruck, dem man es wohl anmerkte, daß er sich an einer empfindlichen Stelle getroffen fühlte. Er schob ärgerlich seine dicke Unterlippe vor und ging ein paarmal auf und ab. Dann blieb er vor seiner Gattin stehen und sagte: »Auf diese Weise kommen wir zu nichts. Ich werde mal selbst mit Thekla reden.«

Frau Olga rümpfte die Nase. »Bravo! Jetzt hast du dich ja glücklich in die rechte Stimmung hineingeredet, um dem Fräulein gewaltig zu imponieren.«

»Das Imponierenwollen überlasse ich dir. Das gehört durchaus nicht zu meinen Erziehungsgrundsätzen. Ich habe das Kind lieb – ich kann wirklich sagen, wie wenn's mein eigenes wäre. Ich hoffe, daß Thekla das fühlt. Und wenn sie das fühlt, dann wird sie auch auf mich hören. Aber bitte, laß mich allein mit ihr reden.« Er öffnete die Thür und ließ seine Frau vorangehen.

Thekla Burmester saß bereits wartend im Eßzimmer. Beim Eintritt der Eltern erhob sie sich, ging dem Vater einige Schritte entgegen und reichte ihm mit ängstlich befangener Miene die Hand. Er drückte sie ihr warm zur Ermutigung. Da schlug sie die Augen auf und begegnete seinem freundlichen Blick. Mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung begab sie sich wieder auf ihren Platz.

Die Nachtmahlzeit verlief aber doch in recht gedrückter Stimmung, denn die gnädige Frau saß streng und steif da und sprach kaum ein Wort, und der Konsul wollte in ihrer Gegenwart nicht von der Sache anfangen, die sie alle bedrückte. Man beeilte sich, mit dem Essen fertig zu werden. Dann wurde der Diener hinausgeschickt, um im Zimmer des Herrn die Lampe anzuzünden, und dann erhob sich Thekla, um den Eltern »gut' Nacht« zu wünschen.

»Ach bitte, noch ein Weilchen!« rief Herr Burmester. »Ich habe mit dir zu reden, mein Kind. Komm mit mir in mein Zimmer.«

Ohne ein Wort zu erwidern, schritt das junge Mädchen hinter ihrem kleinen dicken Pflegevater her, den feinen runden Kopf mit den zwei langen, üppigen dunkelblonden Zöpfen schuldbewußt gesenkt und mit ängstlich zuckenden Lippen. Sobald sie in seinem reich und behaglich eingerichteten Arbeitszimmer angelangt waren und er die Thür hinter ihr eingeklinkt hatte, fing das große Kind auch schon an zu weinen.

Der Konsul setzte sich in einen Lehnstuhl, hieß Thekla nähertreten, ergriff sie bei beiden Händen und betrachtete sie sich mit mitleidigem Lächeln. Achtzehn Jahre war sie alt, ziemlich groß und reizend gewachsen, schlank und lieblich rundlich dabei. Sie hatte ein schlichtes braunes Tuchkleid an und eine dunkelblaue Matrosenbluse, wie sie jüngere Knaben mit Vorliebe zu tragen pflegen, mit einem hellgelben Ledergürtel um die Taille zusammengehalten. Es zuckte um das feine weiße Hälschen, es zuckte um die niedliche kleine Nase, über die etwas stubenblassen Wangen liefen die Thränen und neue wollten sich aus den langen, dunklen, gesenkten Wimpern hervordrängen.

Herr Burmester wurde selbst ganz weich ums Herz, wie er das Kind so weinen sah, und er wußte seine väterliche Strafpredigt nicht anders zu beginnen, als indem er fragte: »Hat dir's Mama sehr arg bös gegeben?«

Thekla nickte eifrig und dann schluchzte sie mühsam heraus: »Ach Papa – ich bin doch nicht – so schlecht! Niedrige – Instinkte hätte ich – hat sie gesagt. Die scheußlichsten – Verbrecher – hätten alle so angefangen – mit solche Romane zu lesen – hat sie gesagt.« Sie putzte sich die Nase und wischte sich die Thränen ab und dann fuhr sie fließender fort: »Ich habe mir doch wahrhaftig nichts Schlimmes dabei gedacht. Neulich sollt' ich mal die Marie schnell zu Mama rufen, und da hörte sie gar nicht. Sie saß in ihrer Kammer und las: ›Die Blutgräfin‹, und wie ich sie rief, sagte sie, ich möchte entschuldigen, aber die Blutgräfin wäre so sehr spannend, man könnte sich rein gar nicht losreißen, wenn man mal darüber wäre. Na und da sagt' ich, das müßte sie mir auch mal borgen, denn so was Spannendes hätte ich noch nie gelesen. Heute abend hab' ich doch erst angefangen, darin zu lesen, weil ich mal nicht mit ins Konzert brauchte. Sonst hab' ich doch nie Zeit. Und es war wirklich so spannend, wie die Marie gesagt hat; ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit verging. Weiter hab' ich doch wirklich nichts Schlimmes gethan. Und das ist doch noch kein niedriger Instinkt, nicht wahr?«

Der Konsul mußte lächeln. »Na komm mein Kind,« sagte er, »setz dich hierher, wir wollen mal vernünftig miteinander reden.«

Sie holte sich einen Stuhl herbei und nahm vor ihm Platz, die Hände im Schoß gefaltet, und dann fuhr er fort: »Sieh mal Theklachen, erstensmal sollte doch die Tochter des Hauses von ihrem Dienstmädchen nichts borgen, denn das schickt sich nicht. Und zweitens sollte ein junges Mädchen, das eine feine Erziehung genossen hat, an solcher Hintertreppenlektüre keinen Gefallen finden; denn das ist ein Zeichen von sehr schlechtem Geschmack. Menschen ohne festen Charakter, und besonders sehr junge Menschen, werden wirklich durch solche Schundromane leicht verdorben, – darin hat deine Mutter ganz recht. Es wäre ein wahrer Segen, wenn das Gesetz Mittel und Wege fände, das Volk vor diesem giftigen und gefährlichen Zeug zu behüten. Da wird immer mit fürchterlichen Geheimnissen und schrecklichen Verbrechen gearbeitet und die Verbrecher werden zu romantischen Helden. Das vergiftet die Phantasie und reizt zur Nachahmung.«

»Aber Papa, du denkst doch nicht, daß ich so was thun werde, wie in der Blutgräfin steht?« unterbrach Thekla kläglich.

»Nein, mein Herzchen, das glaub' ich dir gerne, daß du dir keinen Giftmord und keinen Einbruch aufs Gewissen laden wirst; aber deine Vorstellungen vom Leben und deinen guten Geschmack verdirbst du dir einmal ganz sicher. Und das ist auch schon schlimm genug. Ein gebildeter Mensch sucht in seiner Lektüre die Wahrheit, denn die ist gesund, und die Schönheit, denn die wirkt erhebend und befreiend. Aber lassen mir das einmal jetzt. Du versprichst mir, künftig der Versuchung, solches Zeug in die Hand zu nehmen, zu widerstehen, nicht wahr? Da, gib mir die Hand darauf – so ist's recht. Nun muß ich dir aber auch sagen, was ich schlimmer finde, als diese Kinderei mit der Blutgräfin. Ich habe dich bisher immer offen und ehrlich gefunden, mein Kind. Es thäte mir sehr leid, wenn du jetzt anfangen wolltest, krumme Wege einzuschlagen. Sieh mal, daß du heute Kopfschmerzen vorschützest, um dich ungestört über deinen Schmöker hermachen zu können, statt ein gutes Konzert zu hören, das ist doch wirklich nicht recht von dir.«

»Aber Papa, ich hatte doch wirklich Kopfschmerzen,« entgegnete Thekla eifrig. »Wenn ich so viel geübt habe, krieg' ich immer Kopfschmerzen. Und wenn ich dann noch ein langes Konzert hören soll, dann werde ich vollends ganz dumm.«

Herr Burmester blickte überrascht auf. Auf ein solches Geständnis war er nicht vorbereitet gewesen. Er spielte mit den Quasten an seinem Sessel und sagte erst nach einer ganzen Weile: »Ja, ist dir denn die Musik so unangenehm? Du weißt doch, Mama möchte so gern eine tüchtige Künstlerin aus dir machen. Na, und wenn du's auch nicht zu treiben brauchst, um dir dein Brot damit zu verdienen, – es ist doch immer gut, wenn ein junges Mädchen in irgend einem Fache etwas Tüchtiges lernt.«

»Das möcht' ich ja auch so gern, Papa,« erwiderte Thekla; »ich möchte gern so viel lernen und gute Bücher lesen und das alles. Die jungen Mädchen, mit denen ich zusammenkomme, die wissen auch alle viel mehr wie ich. Aber die brauchen auch alle nicht so viel Klavier zu üben. Ich habe doch wirklich zu gar nichts anderm mehr Zeit. Singen soll ich auch noch, und dabei habe ich doch bloß eine Stimme wie ein Zwirnsfaden. Und das Klavierüben macht mich so furchtbar müde. Ich bin immer wie zerschlagen danach; die Hämmerchen trommeln immer alle auf meinen Kopf los, so daß ich manchmal das Gefühl habe, als wäre er schon ganz weich, – als brauche ich nur ein bißchen stark zuzudrücken, und ich könnte mit dem Finger ein Loch hineinbohren. Und nachts träume ich immer so schreckliche Sachen: unser Flügel steht da wie ein großer, schwarzer Sarg, und dann wird der Deckel ein bißchen gehoben und aus der Spalte kriechen lauter Notenköpfe hervor mit Armen und Beinen dran. Die haben alle Hämmerchen auf dem Rücken; damit rennen sie mir nach und wollen mich schlagen; dann muß ich im Hemd aus dem Bett und auf die Straße hinaus und immer weiter laufen in der finstern Nacht, und den Wind hör' ich so schrecklich pfeifen. Und die Töne, die mir nachlaufen, hör' ich alle klingen. Und sie schreien hinter mir drein: ›Siehst du nicht, daß ich ein  b vorhabe, du Gans?‹ Und ein andrer schreit: ›Ich heiße cis, verstanden? Ich werfe dir mein Kreuz an den Kopf, wenn du nochmal c spielst –‹ ach lieber Papa, du glaubst es gar nicht, es ist so schrecklich! Denke dir, sie haben alle die Stimme von Herrn Mayr, die Noten, wenn sie mir so was nachrufen. Und außerdem steht Herr Mayr noch hinter ihnen und kommandiert und hetzt sie auf mich. Ich habe solche Angst vor Herrn Mayr.«

»Mein armes Kind, was sind das bloß für Ideen!« rief der Konsul erschrocken, und dann stand er auf, zog das Mädchen zu sich empor, drückte ihren Kopf an seine Schulter und strich ihr beruhigend über das dichte, weiche Haar. Eine lange Zeit hielt er sie so, ohne ein Wort zu sprechen. Dann nahm er ihren Kopf zwischen beide Hände, küßte sie auf Stirn und Wangen und sagte: »Geh jetzt schlafen, mein Liebling, und rege dich nicht so auf mit solchen krankhaften Phantasien. Ich will schon mit Mama reden. Wir müssen dir's erleichtern, ich seh's ja ein. Du darfst uns nicht krank werden über der verf–, ich meine, über der verehrten Musik.«

»Du bist so gut, Papa; nicht wahr, du hilfst mir?« sagte Thekla, indem sie seine kurze, fette Hand ergriff und einen raschen, heißen Kuß darauf drückte. Dann ließ sie sich sanft von ihm zur Thür hinausschieben.

Sobald sie aber draußen war, reckte Herr Konsul Burmester seine beiden Fäuste hoch empor, bekam einen ganz roten Kopf und sprach es leise, aber deutlich aus, was er vorhin verschluckt hatte: »Die verfluchte Musik!«

In den wenigen Minuten, in denen sich sein gequältes und verängstigtes Kind an seiner Schulter ausgeweint hatte, war ihm sein ganzes Leben in der Erinnerung vorbeigezogen. Sein Vater hatte in Lübeck die Firma begründet und aus einer anfänglich recht bescheidenen Stellung sie zu einem der angesehensten unter den großen Welthandelshäusern seiner Vaterstadt emporgebracht. Aber viele freundliche Erinnerungen hatte Wilhelm Burmester nicht an sein Vaterhaus. Eine thörichte Ehe, die der alte Burmester in jungen Jahren mit einem ungebildeten, durchaus unbedeutenden und überdies entwickelungsunfähigen Mädchen von nicht eben sanftem Charakter eingegangen war, hatte ihn früh um alle Lebensfreude gebracht. Es ward ein bloßes Arbeitstier aus ihm. Ein strenger Herr und harter Vater. Und so hatte auch dem Sohn das beste Teil einer guten Erziehung gefehlt, nämlich die reine, friedevolle Sonntagsstimmung, welche eine harmonische Ehe über ein ganzes Haus auszugießen vermag. So war auch er ein Alltagsmensch und ein Arbeitstier geworden. Und als er in reiferen Jahren erkannt hatte, woran es lag, daß man in seinem Hause nicht recht froh werden konnte, da hatte er sich selbst das Wort gegeben, sich vor einer übereilten Heirat ängstlicher als vor Pest und Cholera zu hüten. Aber vor lauter Besorgnis, sich durch die Leidenschaft hinreißen zu lassen, war überhaupt die Fähigkeit zur Leidenschaft in ihm abgestorben. Er war ein alter Knabe und ein großer, angesehener Handelsherr geworden, bevor er sich entschloß, eine rein vernünftige Ehe einzugehen. Er brauchte, um seinem Hause auch gesellschaftlich zu dem Ansehen zu verhelfen, welches sein Reichtum und die Solidität der Firma beanspruchen durften, eine Dame aus der wirklich besten Gesellschaft, welche die feine Form absolut beherrschte und auch Geist genug hatte, um nicht nur gleichgültige Schmarotzer, sondern auch eine wirklich intelligente Gesellschaft an das Haus, dem sie vorstand, zu fesseln. Und so hatte er denn das feinerzogene ältliche Fräulein aus verarmter, adeliger Familie geheiratet; von Liebe war weder bei ihm, noch bei ihr die Rede gewesen; aber er meinte, sich begründeten Anspruch auf ihre ewige Dankbarkeit dadurch zu erwerben, daß er sie in eine Umgebung setzte und ihr reichlich die Mittel gewährte, um ihre gesellschaftlichen Talente glänzend zu entfalten und ihren Hang nach verfeinertem Wohlleben zu befriedigen. Seine Frau war niemals hübsch gewesen, aber sie sah trotz ihrer tiefliegenden Augen und ihrer erschreckenden Magerkeit doch ganz vornehm aus und wußte sich so geschmackvoll zu kleiden und besonders ihrem üppigen, fast schwarzen Haar so viele originelle Wirkungen abzugewinnen, daß sie zuweilen, wenn Schneiderin und Friseuse sich wirksam in die Hände gearbeitet hatten, sogar für eine ganz interessante Erscheinung gelten konnte. Was hatte er auch für einen Anspruch auf Schönheit? Er war sich wohl bewußt, ein reichlich garstiger, fetter Geselle zu sein. Uebrigens war er mit dem Ausfall seiner Ehe ziemlich zufrieden, solange er noch in Lübeck wohnte und in seinem Geschäft thätig war. Nach fünfjähriger, vorsichtiger Minierarbeit wußte sie's endlich durchzusetzen, daß er das Geschäft einem Neffen übergab, der schon längere Zeit unter ihm gearbeitet hatte, und sich mit dem Titel eines Konsuls von Uruguay in Berlin niederließ. Allerdings verstand sie es vortrefflich, in den vornehmsten Kreisen festen Fuß zu fassen und ihrem eigenen Hauswesen den entsprechenden Stil aufzuprägen, aber er war das Opfer dieses gesellschaftlichen Aufschwungs. Die Musikschwärmerei seiner Gattin war der Schlüssel gewesen, welcher ihr die Thüren der vornehmen Gesellschaft geöffnet hatte. Sie war bei allen musikalischen Ereignissen dabei und sah die berühmtesten Virtuosen bei sich zu Gaste. Damit lockte sie die Gesellschaft an. Und er mußte, obwohl er ganz unmusikalisch war, sich von Konzert zu Konzert schleppen lassen, fahrendem Musikantenvolk beiderlei Geschlechts, mochte es noch so dumm und eitel sein, den Hof machen, Begeisterung heucheln, wo er gähnende Langeweile empfand, und sich mit Leuten scheinbar anfreunden, zu denen er innerlich nicht die geringsten Beziehungen hatte. Da er schlechterdings nichts zu thun hatte, so fehlte es ihm an jeglichem Vorwand, sich um die Pflichten, die seine Frau ihm aufbürdete, herumzudrücken. Und that er es doch einmal, in höchster Verzweiflung, so ließ sie ihn mit kalter Rücksichtslosigkeit fühlen, daß er aufgehört habe, in ihrem Lebensplan überhaupt noch einen Wert darzustellen. Die lächerliche Rolle eines gänzlich kaltgestellten Gatten wollte er nicht spielen und für einen Dummkopf wollte er auch nicht gehalten werden; so nahm er denn lieber das Martyrium auf sich, fortzuheucheln, wie seine Frau es verlangte.

Damals, als sie nach Berlin zogen, hatten sie auch das vaterlose Kind adoptiert; in der Gesellschaft galt Thekla allgemein als ein legitimes Fräulein Burmester, und auch er widersprach dieser Annahme nicht, denn er war eitel auf das schöne Mädchen, und er liebte es wegen seiner Herzenseinfalt und Güte. Nein, das Kind hatte er sich durch seine Liebe zu eigen gemacht, er wollte trotzen auf sein Vaterrecht. Das sollte nicht auf denselben Dornenpfad gejagt werden, auf dem er seinen müden, schweren Leib dahinschleppte. Ihre Klage hatte ihn aufgeschreckt aus seiner lahmen Gleichgültigkeit. Das Kind hatte ja so recht, er konnte ihr alles so nachfühlen. Ja, ja, dumm wird man davon und stumpf! Und wieder ballte er die Fäuste und knirschte vor sich hin: »Die verfluchte Musik!«


 << zurück weiter >>