Ernst v. Wolzogen
Der Kraft-Mayr
Ernst v. Wolzogen

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Neuntes Kapitel.

Der reine Thor.

Florian Mayr war mit der Einrichtung dieser Welt und der gesamten Menschheit, die sie bevölkerte – sich selber eingeschlossen – an diesem schönen Maientage außerordentlich zufrieden. Er hatte sich der Stiefel und des Rockes entledigt und lag, wohlig hingestreckt, zum erstenmal auf seinem Himmelbett, um in aller Ruhe sein gutes Diner zu verdauen, das er in Gesellschaft der schönen Ilonka und noch mehrerer liebenswürdiger Kollegen und Kolleginnen im Hotel »zum Erbprinzen« genossen hatte. Es war seiner ungarischen Freundin nicht leicht geworden, ihn zu einer solchen Ausschweifung zu verführen, denn er war ein äußerst genauer Haushalter und sich stets bewußt, was seine Mittel ihm erlaubten und was nicht; aber in seiner heutigen frohen Stimmung wollte er kein Spielverderber sein. Er war nicht ganz sicher, ob nicht einige von den Anwesenden auch gestern bei der Gesellschaft im Garten des Hotels Chemmitius gewesen wären, die durch ihr Benehmen sein Mißfallen erregt hatte. Jedenfalls benahmen sich die heute anwesenden Herrschaften durchaus korrekt, ja sogar zurückhaltender, als man es unter Künstlern gewohnt ist. Florian hatte das Bewußtsein, sich in einem sehr feinen Kreise zu befinden, und Fräulein Badacs, die neben ihm saß, bestärkte ihn darin, indem sie ihm der Reihe nach von allen Anwesenden eitel rühmliche Dinge zuflüsterte. Alle diese jungen Damen waren von außerordentlich guter Familie – Excellenztochter war schon ziemlich das Geringste – hatten die vortrefflichste Erziehung genossen und mußten mit großer Vorsicht behandelt werden. Die Herren der Gesellschaft waren ihrer Meinung nach alle »sähr bädeitend«, einige sogar – schlankweg genial, alle »serieuse Menschen und perfekte Kavaliere«. In einer Gesellschaft, deren Mitglieder so viele äußere und innere Vorzüge vereinigten, fühlte sich der gute Florian zunächst sogar ein wenig bedrückt. Aber er war um Ilonkas willen herzlich froh, daß sie für gewöhnlich mit so auserwählten Leuten verkehrte. Gleich zu Anfang des Diners hatte er sich nämlich auf die Frage, welchen Eindruck das Treiben in Weimar auf ihn gemacht habe, ziemlich kräftig über die Hanswursten, Trottel und närrischen Fexen, die ihm auf der Straße aufgestoßen, sowie besonders über die Schwefelbande, die gestern bei der Bowle gesessen, ausgelassen, und alle diese ehrenrührigen Beiwörter waren von der Tischgesellschaft mit verständnisvollem Blickwechsel und zustimmendem Kopfnicken aufgenommen worden. Florian war sehr froh darüber, solche edlen Gesinnungsgenossen unter seinen Kollegen zu finden, und um zu zeigen, daß er zu leben verstehe und eine frohe Geselligkeit zu schätzen wisse, traktierte er zum Schluß die ganze Tafelrunde mit zwei Flaschen Sekt – allerdings nicht von der teuersten Sorte. Als es ans Zahlen ging. wurde er plötzlich ganz nüchtern und war nicht zu bewegen, mit diesen charmanten Damen und Herren weiter zu ziehen. Das Opfer von dreiundzwanzig Mark dünkte ihm für heute völlig genügend.

Während er so friedlich und mit sich selbst zufrieden seine Mittagsruhe hielt, beruhigt in der Ueberzeugung, für sein vieles Geld doch zum mindesten einige ehrenvolle Bekanntschaften und vermutlich auch deren gute Meinung über sich selbst erkauft zu haben – währenddessen amüsierte sich die zurückgebliebene Gesellschaft weiter, und zwar immer noch auf Florian Mayrs Kosten. Er hatte nämlich nicht sobald das Lokal verlassen, als die sämtlichen anwesenden Damen zu kichern anhoben und die Herren laut herauslachten.

Gleichfalls lächelnd, aber doch ein bißchen verlegen, blickte Ilonka im Kreise ihrer Freunde umher und schmollte: »Ober nein, geht's! Ihr said unartig! Wos gibt zu lochen?!«

Da brach ein wahrer Sturm der Heiterkeit los. Man puffte sich gegenseitig; die Herren schlugen sich auf die Schenkel und bogen sich vor Lachen, die Damen schüttelten sich, eine verschluckte sich am Kaffee und mußte auf den Rücken geklopft werden, um wieder zu sich zu kommen. Ein blutjunger Rumäne, ein bildhübscher Bursch, höchst elegant in Kleidung und Manieren, warf der Badacs über den Tisch hinüber Kußfinger zu und rief begeistert: »Mein Kompliment, Gnädigste, aber glänzend – glänzend! Wie Sie diesen Biedermann an der Nase herumgeführt haben! In welchem Kuriositätenladen haben Sie dies Exemplar aufgetrieben? Heiliger Nepomuk, was muß der Mensch für einen Respekt bekommen haben vor uns! Wozu haben Sie mich gemacht, bitte?«

»Je vous ai fait prince, mon charmant bébé! Ich hob' gesagt, daß die Ispirescu ein uraltes Fürstenhaus sind, die eigentlich berächtigt wären, den rumänischen Thron zu bestaigen. Und dann hob' ich gesogt, daß die nationale Opposition hot värschiedene Augen auf Sie geworfen als zukünftiger Prätendent für Nationaldynastie, weil Sie hoben schon in frihester Jugend bedaitendste Anlagen gezeigt; ober Sie, mon bébé, hätten vorleifig auf dem Thron verzichtet, weil Sie vorziegen, Kenig auf dem Klavier zu werden.«

»Bravo, bravo, eljen!« rief man lachend durcheinander. Und nun mußte Ilonka zum besten geben, was sie über jeden einzelnen der Anwesenden dem neuen Kollegen für artige Bären aufgebunden hatte. Sie war eine solche Virtuosin im Lügen und besaß eine solch blühende Einbildungskraft, daß sie bei dieser Gelegenheit die Märlein, die sie Florian aufgetischt hatte, noch bedeutend erweiterte und ausschmückte und allerlei scharfe Spitzen darin verbarg, die von allen außer den Betroffenen mit Jubel aufgenommen wurden.

Und währenddessen ging der Oberkellner mit dem ungemein feinen Lächeln ab und zu, spitzte die Ohren und dachte sich seinen Teil; hatte er doch mit kaum minderem Talent als die ungarische Künstlerin dem guten Florian einen ungeheuren Bären aufgebunden – und darum fühlte er sich gewissermaßen solidarisch mit dieser ausgelassenen Gesellschaft und ließ jedem der Gäste von seinem unvergleichlich feinen und liebenswürdigen Lächeln einen Strahl zukommen. Und als die Herrschaften gingen, konnte er sich's nicht versagen, dem letzten Herrn, dem er in den Paletot half, die Geschichte von der Begegnung des Herrn Mayr mit dem Masseur ins Ohr zu raunen. Am selbigen Abend kannte sie natürlich ganz Weimar, und nach der Personalbeschreibung erkannte auch jedermann den Masseur, einen höchst eleganten Kavalier und vornehmen Künstler dabei, der mit Recht den Ruf eines verführerischen Don Juan genoß. Auch der betreffende Herr selbst erfuhr noch am selben Abend an seinem Stammtisch im »Russischen Hof«, daß ihn der Oberkellner des »Erbprinzen« zum Leibarzt und Masseur der ungarischen Pianistin ernannt habe. Er wurde mit gutmütigen Bosheiten überschüttet und hatte den guten Humor, selbst mitzulachen, obwohl es ihm durchaus nicht angenehm war, sich gleich bei seinem ersten Besuch bei seiner alten Freundin so schnöde ertappt zu sehen. Ilonka selbst war gewohnt, dergleichen Unannehmlichkeiten abzuschütteln wie ein Wasservogel den Regen. Sie war recht böse auf den Herrn Hans von Oettern, oder vielmehr Jean d'Oettern, wie er sich als Halbpariser lieber nennen hörte, und schwur, sich niemals wieder mit ihm sehen zu lassen. Aber damit war's auch genug, und sie nahm es nicht sonderlich übel, wenn man sie unter ihren Kollegen mit ihrem Masseur aufzog.

Florian Mayr war noch an diesem selben Abend ein berühmter Mann geworden. Der ganze Lisztsche Kreis lachte über ihn, und er hatte auch bereits einen Spitznamen angehängt bekommen. Wagners Parsifaldichtung war eben erst erschienen und das litterarische Ereignis der Saison: da lag es denn freilich nahe genug. den trefflichen Florian den »reinen Thoren« zu nennen. Ein Sittenstrenger, das war einmal ganz etwas Neues in diesem Kreise teils harmlos leichtsinniger, mehr aber noch krankhaft nervöser, hysterischer, blasierter und verlebter Menschen. Alle waren sie höchst begierig, den »reinen Thoren« kennen zu lernen, und auch ohne daß man sich feierlich verabredet hätte, bestand alsbald eine geheime Verschwörung aller gegen den einen. Sie wollten ihren Spaß haben an seiner Gutgläubigkeit, und darum wollten sie alle dazu beitragen, ihm möglichst lange seine Illusionen zu erhalten. Wenn sie dann plötzlich zusammenpurzelten, so gab das ja wieder einen neuen Spaß. Ilonka Badacs widersetzte sich heftig den finsteren Plänen ihrer näheren Freunde, welche all ihren Witz aufboten, um die tollen Schwindeleien ihrer Freundin, und besonders die Geschichte mit dem Masseur zu neuen Foppereien auszunutzen. Sie erklärte, sie werde nie zugeben, daß ihr guter, ehrlicher Junge zur Zielscheibe schnöden Spottes gemacht werde. Sie werde ihm selber all ihre Lügen eingestehen und ihm über die lieben Kollegen reinen Wein einschenken. Aber man ließ sich dadurch nicht abschrecken; niemand glaubte, daß es mit ihrer Drohung ernst sei. – –

Florian wachte erst gegen Abend aus seinem angenehmem Mittagsschläfchen wieder auf. Die Engländer zu seinen Häupten hatten ihn geweckt. Die Violinübungen des einen Jünglings hatte er zum größten Teil verschlafen, aber nun begann der andre Jüngling auf seinem Cello ein bösartiges Geheul und Gebrumm zu vollführen, und da war an Ruhe nicht mehr zu denken. Florian sprang vom Bette und begab sich in das dunkle Kämmerchen neben seinem Zimmer, das als Waschraum und Garderobe diente und ein kleines Fensterchen nach der Durchfahrt hinaus hatte. Dies Fensterchen stand offen, und so vernahm er aus dem Parterrezimmer auf der andern Seite der Durchfahrt mit erschreckender Deutlichkeit den Höllenspektakel, den das polnische Mädchen da drüben auf ihrem Klavier vollführte.

»Mein' Seel', des kann hübsch werden!« brummte Florian, während er sich die Hände wusch, und er überlegte, ob er nicht mit den Neben- und Ueberwohnern eine bestimmte Tageseinteilung verabreden sollte, so daß man sich gegenseitig nicht allzusehr störte. Er wollte versuchen, einen Brief an seinen Vater zu schreiben, aber das war unmöglich bei dem Konzert von oben und unten. So gab er es denn auf, zumal da es zum Schreiben doch schon zu dunkel war, und machte sich auf, um sich irgendwo in der Stadt ein Abendbrot zu suchen.

Er konnte sich nicht enthalten, im Vorbeigehen einen Blick in das Zimmer der Polin zu werfen, wo man vergessen hatte, die Vorhänge herunterzulassen. Vor dem Pianino saß ein junges Mädchen, welches nicht älter als höchstens sechzehn Jahre zu sein schien, ein blasses, kümmerlich aussehendes Geschöpf, weder hübsch noch garstig, nur mit einem dunklen Unterrock und einer alten Jacke mit ausgewachsenen Aermeln bekleidet. Um Licht zu sparen, war ein kleiner Tisch dicht an das Klavier gerückt, und auf dessen Ecke stand die Petroleumlampe, welche die Noten schlecht genug beleuchtete und gleichzeitig einer noch jungen, verhärmt und verhungert aussehenden Frau und einem kleinen Mädchen von etwa zehn Jahren zu ihrer Arbeit das nötige Licht spenden mußte. Die Frau schälte Kartoffeln und das Kind hielt die Zeigefinger in die Ohren gestopft, das spitze Gesichtchen dicht über ein Buch gebeugt, aus welchem es augenscheinlich seine Lektion lernte.

Jetzt war die Etüde beendet und das große Mädchen lehnte sich erschöpft in seinen Stuhl zurück, strich sich über die Stirn und preßte seine Schläfen mit beiden Händen zusammen. Dann reichte ihm die kleine Schwester ihr Buch über den Tisch hinüber und ließ sich ihre Aufgabe überhören. Es schien nicht recht zu gehen, denn die Große warf bald ungeduldig das Buch auf den Tisch und schalt die Kleine. Gleich darauf begann sie ihre Etüde von vorn. Die schwarzen Augenbrauen mit schmerzhaftem Ausdruck zusammengebogen, den dünnen Hals weit vorgestreckt, saß sie da, und ihre großen Augen flogen zwischen Notenblatt und Klaviatur hin und her. Das kleine Mädchen weinte, und die Mutter setzte die Schüssel mit den Kartoffeln weg, wischte die Hände an der Schürze ab und nahm das Kind auf den Schoß, um ihm tröstend über den glatten Scheitel zu streichen. Dabei donnerten die Oktavengänge, perlten die Triolenläufe immer weiter unter den Fingern der Aelteren hervor. Plötzlich unterbrach sie ihr Spiel, taumelte vom Stuhl empor, und ihre Hände griffen, eine Stütze suchend, nach dem oberen Rande des Pianinos. Ein hart und hohl klingender Husten durchschüttelte ihren schmächtigen Körper. Die Mutter eilte ihr zu Hilfe, und die Kleine bemerkte in diesem Augenblicke den Späher am Fenster und beeilte sich, das Rouleau herabzulassen.

Mit einem tiefen Seufzer trollte sich Florian davon. Sein gutes Herz stand allezeit dem Mitleid offen, und er hatte so viel Gelegenheit gehabt in seinem jungen Leben, das Elend der kleinen Leute kennen zu lernen, deren kümmerliche Existenz in grausamem Widerspruche steht mit ihrem idealen Streben. Niemals war er mit einem bedauernden Achselzucken oder ein paar billigen Redensarten an solchem Leid vorbeigegangen, sondern er hatte es immer gleichsam persönlich genommen und zunächst sich selber als den zum Helfen verpflichteten Nächsten im christlichen Sinne betrachtet. Auf der Lateinschule und dann später auf der Universität, wo er unter großen Entbehrungen Medizin studierte, noch mehr aber seit Beginn seiner Künstlerlaufbahn hatte er immer wieder und wieder, wie oft er auch Undank erntete und sein Mitleid an Unwürdige verschwendet sehen mußte, mit noch Aermeren geteilt, was er mühsam genug erworben. Er hatte eine wahre Leidenschaft, Not und Elend aller Art aufzuspüren bei Leuten, die ihm irgendwie innerlich näher kamen, und wenn sie seinen Rat und seine Hilfe nicht in Anspruch nehmen wollten, so konnte er ganz traurig werden und sich schließlich gar ganz rücksichtslos aufdrängen. Was er da eben durchs Fenster beobachtet hatte, schnitt ihm ins Herz; die frohe Laune war ihm für den Abend verdorben, und während er in einer obskuren Kneipe sein Bier trank und ein paar Rostbratwürstchen aß, überlegte er fortwährend, auf welche Weise er sich wohl am schicklichsten dieser armen polnischen Familie nähern und ihr vielleicht gar helfen könnte.

Als er so gegen halb neun Uhr bereits heimkehrte, um den Brief an seinen Vater zu schreiben, den es ihn heut abend noch fortzuschicken drängte, da traten just die beiden polnischen Schwestern aus dem Thore. Die große steckte in einem grauen Regenmantel, der ihr zu weit war und bis auf die Füße hinabreichte; auf ihrem Kopfe saß ein billig und geschmacklos garnierter brauner Strohhut. Die kleine hing an ihrem Arm und hatte den Oberkörper zum Schutz gegen die Abendkühle mit einem alten wollenen Shawl umwickelt.

Die beiden Mädchen zuckten zusammen und blieben ganz erschrocken und ratlos stehen, als Florian vor ihnen seinen Hut zog und sie anredete. Er bat höflich um Entschuldigung, daß er zu ihrem Fenster hineingespäht habe; er sei gewiß nicht unverschämt, aber da er sie schon vorher mit solchem Eifer und solcher Tüchtigkeit jene Lisztsche Etüde habe üben hören, so vermute er in seiner Nachbarin eine Kollegin. Sie möchten ihm seine Neugier nicht übelnehmen.

Das große Mädchen blickte hilflos zur Seite und wußte nichts zu erwidern. Ihre Lippen bewegten sich, ohne daß ein verständliches Wort herausgekommen wäre. Dann machte sie einen ungeschickten Knicks und ließ sich von der kleinen Schwester rasch davonziehen.

Die verstehen wohl kein Deutsch, dachte Florian, überlegte ein paar Sekunden und holte dann mit ein paar großen Schritten die beiden Mädchen ein. »Entschuldigen Sie, meine Damen,« rief er sie freundlich lächelnd an, »verstehen Sie vielleicht nix Deutsch? Popolski, was?«

Die Kleine drückte kichernd ihren Kopf an den Arm der Schwester, aber die machte ein noch ängstlicheres Gesicht als vorher, beschleunigte ihre Schritte noch mehr und stieß, ohne Florian anzusehen, hastig hervor: »Wir dürfen nicht.«

Und die Kleine bekräftigte eifrig: »Nein, wir dürfen nicht; Frau Mutter hat verboten!«

»Herrgottsakra, was laufen S' denn so?« rief Florian belustigt und griff nun auch weiter aus mit seinen langen Beinen. »Was dürfen S' denn nicht? Schau ich denn aus wie ein Raubmörder, daß S' so davon lauft's? Ich fress' auch keine kleinen Kinder! Was wollt's denn so bei der Nacht allein laufen? Darf ich Sie net a bißl begleiten, meine Damen?« – Und da immer noch keine Antwort erfolgte und die Mädchen nur immer schneller liefen, so schloß er ein wenig ärgerlich: »Na, wissen S', nix für ungut – aber . . . wir sind doch Kollegen und sozusagen Zimmernachbarn; ich meine, vorstellen könnten wir einander wenigstens und Red' und Antwort stehen! Mein Name ist Mayr: M–a–y–r, bitte, und mit Vornamen schreib' ich mich Florian! Wie heißt denn jetzt du, Kleine?«

»Olga Mikulska!« erwiderte das Kind prompt, »und Schwester heißt Helena.«

»So, dees ist doch jetzt wenigstens was!« lachte Florian, »aber jetzt sagen Sie mir doch, Fräulein Mikulska . . .«

Das Fräulein hörte gar nicht auf ihn. Sie schalt auf polnisch auf die kleine Schwester ein und dann wandte sie sich mit ganz böser Miene an ihn und sagte: »Wir dürfen nicht mit Herren reden: Frau Mutter hat verboten!«

»Ach was, Frau Mutter ist eine . . .,« platzte Florian heraus und verschluckte nur mit Mühe noch die »Gans«. Er ließ die beiden Mädel laufen und trat ärgerlich den Rückweg an. Als er bei der Stubenthür der Frau Mikulska vorbeikam, überlegte er einen Moment, ob er nicht vielleicht hineingehen und dieser Dame mit der ihm eigenen Offenheit erklären solle, daß er sie für eine Gans halte. Aber er versagte sich für diesmal diesen Genuß und beschloß, den polnischen Frauenzimmerchen noch ein wenig Zeit zu lassen. Vielleicht kamen sie doch noch von selber darauf, wie sie sich gegen einen anständigen und wohlmeinenden jungen Mann zu benehmen hätten. – – –

Am nächsten Tage war Florian zum erstenmal mit dem sogenannten Schwarm in der Hofgärtnerei. Liszt pflegte nämlich nur einigen ganz wenigen Auserwählten, die er als eigenartige Künstlernaturen erkannt zu haben glaubte, wirklichen Unterricht zu erteilen, indem er sie einzeln oder doch höchstens zu zweien und dreien und zwar meist in früher Morgenstunde zu sich kommen ließ und die Stücke, die sie gerade studierten, mit ihnen durchging. Die große Menge des fahrenden Volkes jedoch, das aus aller Herren Ländern zusammenströmte und unter dem Vorwande, sich im höheren Klavierspiel ausbilden zu wollen, oder auch nur aus allgemeiner Musikbegeisterung oder persönlicher Verehrung sich um ihn drängte, das wurde im Haufen abgefunden. Von vier bis sechs Uhr nachmittags wurden alltäglich alle die Künstler und Künstlerinnen, vornehmen Dilettanten und wer sonst unter einem möglichen Vorwande um die Ehre nachgesucht hatte, in der Hofgärtnerei empfangen. Es gab Kaffee, Thee und Cognac, Cigarren und Cigaretten und vor allen Dingen eine äußerst lebhafte Unterhaltung in vielerlei Zungen. Wenn der Altmeister nicht gerade durch eine zu arge Zudringlichkeit oder sonst einen Verdruß verstimmt war, so war er gegen alle, auch gegen die unbedeutendsten Menschenkinder, die ihm gar nichts als Entgelt zu bieten hatten, von einer herzgewinnenden Liebenswürdigkeit. Seine Sprachgewandtheit und Weltkenntnis, seine umfassende Bildung, seine lebhafte Teilnahme für jedes ernste Streben auf geistigem Gebiete setzten ihn in stand, mit jedem einzelnen aus dem Schwarm eine Unterhaltung zu führen, bei der er freilich fast immer der gebende Teil war. Begann Liszt einmal über eine allgemeine Sache zu sprechen oder etwa Erinnerungen aus seinem Leben, das Charakterbild einer berühmten Persönlichkeit, der er nahe gestanden, oder Betrachtungen über irgend ein bedeutendes Kunstwerk zum besten zu geben, so verstummte alsbald das Geschwirr der Unterhaltung, und alles lauschte andachtsvoll dem greisen Meister. Mit einer scherzhaften Wendung pflegte er dann zum Schluß die unbefangene Heiterkeit der Stimmung wiederherzustellen.

Florian fühlte sich ungeheuer fremd in dieser Gesellschaft. Diese weitgereisten Menschen, die überall dabei gewesen waren, wo in der Welt etwas los war, die von allen möglichen interessanten Dingen etwas wußten, von denen er nie gehört hatte, die so viele berühmte Persönlichkeiten von Angesicht gesehen und gesprochen hatten und über alles das so unterhaltsam zu plaudern verstanden; diese Damen besonders, von denen jede ihren eigenen Reiz hatte, sei es Schönheit, Eleganz, Witz, übermütige Laune oder auch nur fremdländische Seltsamkeit der Erscheinung und des Benehmens – alle, alle erschienen sie ihm wie seltene bunte Vögel aus fernen Zonen, und er selbst kam sich unter ihnen vor wie ein gelbschnäbeliger, farbloser Spatz. Kein Wunder, daß der greise Meister, den die Bewunderung der erlesensten Gesellschaft Europas von seinem elften Jahre an sein ganzes Leben hindurch begleitet hatte, Gefallen daran fand, diesen heiteren Schwarm von Verehrern, in dem immer wieder neue interessante Gestalten auftauchten, um sich zu sehen und täglich einige Stunden in anmutigem Witzspiel und anregungsreicher, künstlerischer Unterhaltung mit ihm zu verbringen. Was konnte Florian, der arme Schulmeisterssohn, der sich wohl bewußt war, an Weltkenntnis, Unterhaltungsgabe und überhaupt an allen gesellschaftlichen Befähigungen selbst unter der jüngsten und oberflächlichsten dieser abenteuerlichen jungen Damen zurückzustehen, dem Meister bieten, was konnte diesem stolzen Selbstherrscher im Reiche der Musik daran gelegen sein, ob Florian Mayr aus Bayreuth, dieser lange, dürre. ungeschickte Jüngling noch ein wenig besser Klavierspielen lernte oder nicht? Sein Mut, der durch das Lob des Meisters so üppig geschwollen war, sank wieder tief herab, und es drängte sich ihm die Ueberzeugung auf, daß, um als Künstler eine Ausnahmestellung und besondere Ehre und Ruhm in Anspruch nehmen zu dürfen, tüchtiges Können, echtes Empfinden und eiserner Fleiß doch wohl noch nicht genügend seien, sondern daß Weltgewandtheit, ein feiner Schliff des Geistes und der Umgangsformen notwendig dazu gehörten. Er nahm als selbstverständlich an, daß alle diese Herren und Damen als Musiker bereits mehr leisteten als er selbst, und war ungeheuer gespannt darauf, sie etwas vortragen zu hören.

Eigentlich hatte er sich eine Unterrichtsstunde bei Liszt anders vorgestellt. Ueber eine Stunde war schon mit Schwatzen, Kaffeetrinken und unter den fesselnden Erzählungen des Meisters vergangen, und noch hatte er niemanden zum Vorspielen aufgefordert. Da endlich!

Liszt hatte eben eine höchst fesselnde Schilderung seiner Bekanntschaft mit Hektor Berlioz zum besten gegeben, und es war just eine kleine Pause in der Unterhaltung eingetreten, als eine große, üppige Dame, welche bisher sich an keinem Gespräch beteiligt hatte, sondern nur durch ihre kostbare Kleidung und durch ihren überreichen Juwelenschmuck aufgefallen war, an den Meister herantrat und, sich über die Lehne seines Polstersessels beugend, ihm zuflüsterte: »Pardon, Herr Hofkapellmeister, ich möchte gern vor meiner Abreise . . .«

Liszt mußte lächeln über die Anrede »Herr Hofkapellmeister«. Er ließ die Dame nicht weiter reden, sondern erhob sich rasch, ergriff ihre feinbeschuhte Hand und tätschelte sie freundlich zwischen seinen beiden. »Oh, meine schöne gnädige Frau, Sie wollen uns schon verlassen?« sagte er und ließ dabei seine Augen aufmerksam über die Juwelen hinspazieren, welche wie glänzende Laternen zur besonderen Beleuchtung ihrer Reize aufgesteckt schienen.

Florian stand ganz in der Nähe und konnte jedes Wort der halblaut geführten Unterhaltung verstehen.

»Ja, ich bin nur auf der Durchreise hier,« versetzte die stolze Schöne, »aber ich wollte Weimar doch nicht verlassen, ohne ein Andenken an den großen Tonheros und an diese selten schöne Stunde mit fortzunehmen.«

Florian bemerkte, wie Liszts Antlitz ob dieser greulichen Phrasen schmerzlich zusammenzuckte, und unwillkürlich machte er es ihm nach. Die Dame überreichte dem Meister in einem offenen Couvert sein eigenes Kabinettbild und bat um seine Unterschrift.

»Pcha!« machte Liszt und drehte das Bild unschlüssig in der Hand herum, indem er dabei seine Mundwinkel unwillig herabzog. Die Autographensammler waren ihm gar sehr zuwider. Dann wandte er sich wieder an die Dame und fragte mit kühler Höflichkeit, mit wem er eigentlich das Vergnügen habe.

»Frau Oberstlieutenant von . . .« Florian verstand den Namen nicht. Ein wenig pikiert setzte die Dame hinzu, sie sei im Laufe der beiden Tage schon dreimal dagewesen, ohne vorgelassen zu werden.

»Ich empfange nur von Vier bis Sechs,« erwiderte Liszt kurz, und damit wandte er der Frau Oberstlieutenant den Rücken, um nach seinem Schreibtisch zu gehen.

Mit einem Schritte war die Dame wieder an seiner Seite und hielt ihn mit vorgestrecktem Fächer auf: »Pardon, Herr Abbé, Sie sollen nicht glauben, daß Sie Ihr Autograph einer Unwürdigen geben. Wenn ich Ihnen vielleicht etwas vorspielen dürfte? Es wäre mir von hohem Werte, Ihr maßgebendes Urteil . . .«

»O, bitte sehr!« wehrte Liszt mit einer bescheidenen Verbeugung ab und lächelte dabei ganz wunderbar schalkhaft, »gnädige Frau sind also auch Künstlerin?«

Die Schöne neigte affektiert den Kopf und spendete dem Meister einen glänzenden Blick aus ihren schwarzen Augen »Anch' io sono . . .« kicherte sie, »obwohl ich es natürlich nicht nötig habe. Ich bin eine geborne . . .« und sie nannte den Namen eines bekannten großen Bankhauses.

»Bravo!« rief Liszt höchlich belustigt. »Ich hege keinerlei Vorurteile.« Und mit einer einladenden Handbewegung wies er nach dem Flügel.

Ohne eine Spur von Verlegenheit nahm sie Platz, löste ein halbes Dutzend Armbänder von ihren Handgelenken und zerrte die rehfarbenen Mousquetaires von ihren vollen Armen, dann suchte sie mit den Füßen, die in schmelzbestickten Lackschuhen steckten, nach den Pedalen, indem sie dabei den Saum ihres seidenen Gewandes ein wenig hob, schlenkerte die Hände prüfend in den Gelenken und harpeggierte dann herausfordernd durch ein halbes Dutzend Tonarten hindurch. Alle diese Vorbereitungen nahmen ziemlich lange Zeit in Anspruch und erhöhten die Spannung der Gesellschaft beträchtlich. Liszt hatte wieder in seinem Polstersessel Platz genommen und bemühte sich, sehr ernst dreinzuschauen.

»Wäre Ihnen der Schubertsche ›Erlkönig‹ angenehm?« wandte sich die Frau Oberstlieutenant von Soundso, geborne Xheimer, über ihre Schulter zurück an den Meister. »Natürlich in Ihrer eigenen Bearbeitung.«

»Sehr freundlich!« erwiderte Liszt höflichst lächelnd und mit der zustimmenden Handbewegung eines echten großen Herrn.

Die Dame hatte vergessen, ihre Ringe abzuziehen. Sie holte das jetzt nach und legte sie, einen neben den andern, auf das Notenpult – sieben Stück. Dann endlich griff sie in die Tasten.

Alsbald erhob sich ein allgemeines unterdrücktes Kichern und Flüstern; man vernahm sogar einige »Ahs!« und »Ohs!« der Ueberraschung und Entrüstung. Aller Augen richteten sich auf den Altmeister. Der strich sich mit einer heftigen Bewegung sein langes weißes Haar zurück, zog die Stirne in drohende Falten und machte den breiten Mund ein paarmal hintereinander rasch auf und zu, aber er sagte nichts; er stand nicht auf, um diese zudringliche Auch-Künstlerin vom Platze zu weisen, welche den »Erlkönig« in einem Tempo spielte, als ob der besorgte Vater das fiebernde Kind nicht angstgepeitscht auf windschnellem Rosse, sondern höchst gleichgültig auf einem Lastwagen mit Ochsengespann zum Arzt beförderte. Seelenlos und hart stachen diese unkünstlerischen Finger die Gesangsmelodie aus den Tasten heraus, und die leidenschaftlich vorwärtsstürmende Begleitfigur blieb durchweg ein plump polterndes Lastwagengerassel.

Und das konnte der Meister geduldig, wenn auch nicht ruhig, mit anhören von Anfang bis zu Ende! In sich zusammengesunken, mit festgeschlossenen Lippen, saß er da; grollend, aber in sein Schicksal ergeben. Ratlos erstaunt blickte die ganze Gesellschaft auf ihn. Kopfschütteln, erregtes Flüstern hinter vorgehaltenen Fächern und Händen zeigte den allgemeinen Unwillen an. Niemand begriff, wie der Meister es über sich gewann, da nicht mit einem kräftigen Donnerwetter dazwischen zu fahren.

Florian Mayr stand hinter Liszts Sessel und zappelte vor Aufregung, die Wut kochte in ihm und er konnte sich nicht enthalten, einige Schmeicheleien wie: »Unverschämtes Weibsbild« und dergleichen zwischen den Zähnen zu zerkauen. Liszt hörte ihn und bewegte verweisend seinen mächtigen Zeigefinger gegen ihn.

Endlich war das Kind tot. Die Dame tupfte sich mit ihrem Spitzentüchlein im Gesicht herum und wartete offenbar auf Beifall. Lautlose Stille. Die Gäste hielten vor Spannung fast den Atem an; aber der Meister sagte nichts, er saß wie versteinert in seinem Sessel. Die Frau Oberstlieutenant wurde dunkelrot. Sie schob sich auf dem Drehstuhl langsam herum, und als sie das finstere, starre Antlitz des Meisters sah, sprang sie auf, raffte ihre Ringe zusammen und sagte, während sie sie hastig überstreifte, bebend vor zorniger Enttäuschung: »Pardon, Herr Abbé, es scheint – es scheint Ihnen keinen Spaß zu machen, wenn ich Ihnen etwas vorspiele?«

Jetzt endlich regte sich der Meister. Er zuckte nur die Achseln und machte »pcha!« mit unzweideutiger Verachtung. Dann trat er langsam auf die lebende Juwelenausstellung zu, heftete die Augen auf ihren wogenden Busen und zwang sich zu einem höflichen Lächeln: »Nun, meine gnädige Frau, Sie haben jedenfalls eine sehr – abweichende Auffassung von diesem Stücke!«

Er sah sich im Kreise seiner Schüler um. Sein Gesicht war wieder ernst und streng. Da fiel sein Auge auf Florian Mayr, der mit geballten Fäusten dastand und sich offenbar Gewalt anthun mußte, um der schönen Dame nicht thätlich zu Leibe zu gehen. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »O, o, wir sind zu aufgeregt, mein Sohn! Aber Temperament ist gut. Spielen wir vielleicht den Erlkönig?«

»Gewiß,« antwortete Florian hastig, »und ich glaube, nicht schlecht.«

Liszt wandte sich an die große Dame, die, immer noch rasch atmend, mitten im Zimmer stand, und sagte ruhig: »Herr Mayr wird Ihnen den Erlkönig vorspielen, Madame!«

Diesmal hatte Florian keine Spur von Angst. Der Erlkönig war eines von seinen Bravourstücken und außerdem – Donnerwetter, der Person wollte er es einmal zeigen und den andern überhaupt auch, daß auch er an dieser Stätte Daseinsberechtigung habe! Er schüttelte sein Haar zurück, streifte die Aermel ein wenig in die Höhe, wie wenn er zum Faustkampf anzutreten gedächte, und dann legte er los in einem rasenden Tempo, einem wahren Carrieretempo, bei dem einem Hören und Sehen vergehen konnte. Er griff ein paarmal daneben – was der Frau Oberstlieutenant nicht passiert war – aber das störte nicht im mindesten. Die leidenschaftliche Wucht des Vortragt, diese heftigen Crescendi, der höchst effektvolle Farbenwechsel bei dem schmeichelnden Locken des Geistes, die gelungene Unterscheidung der Kinder- und der Männerstimmen durch den Anschlag und die Steigerung des Brausens gegen den Schluß hin: das alles gelang vortrefflich, und jeder der Anwesenden – die mitstrebenden Kunstgenossen nicht ausgenommen – hatte die Empfindung, daß jenes hochdramatische Musikstück von diesem Spieler wirklich poetisch nachempfunden und mit sicherer Künstlerschaft gestaltet worden sei.

Als er geendet hatte, sprang er rasch vom Stuhl empor und wandte sein vom Eifer durchglühtes braunes Gesicht dem verehrten Meister zu.

Liszt nickte ihm zufrieden schmunzelnd zu und dann trat er neben ihn, legte den linken Arm um seine Schulter und klopfte und streichelte ihn, während er die stolze Dame, die blaß vor Scham und Aerger ihm gegenüber stand, mit einem vernichtenden Blicke maß. »So spielt man das Stück bei uns, pcha!« herrschte er sie laut und streng an, und dann wandte er ihr den Rücken, streichelte Florian Mayr väterlich die Backen und sagte leise: »Sehr brav gemacht, mein Sohn!«

Die Frau Oberstlieutenant von Soundso konnte nun nichts Besseres thun, als sich eilig davonzumachen: sie mußte sich ja doch moralisch hinausgeworfen fühlen. Sie war kaum hinaus, als Liszt sich an die ganze Gesellschaft wandte und, auf die Thür deutend, die sich eben hinter der gemaßregelten Dame geschlossen hatte, zornig ausrief: »Pcha, zu so etwas sind wir nun gut genug!«

Die Urteile, die nun über die Dame laut wurden, waren schonungslos grausam. Die schöne, heitere Stimmung war für diesen Nachmittag dahin. Liszt überwand seine Mißstimmung am allerersten. Auf einem Tischchen lag noch sein Photogramm, das ihm die Frau Oberstlieutenant zur Unterschrift überreicht hatte. Er nahm es auf und sagte: »Oho, das ist fremdes Eigentum, ich will mich nicht rechtswidrig bereichern. Spiridion muß erfahren, wo sie wohnt. Ich will ihr auch etwas draufschreiben, damit sie mich in gutem Andenken behält. Schönen Frauen darf man nicht lange grollen.« Und er schrieb auf die Rückseite der Photographie: » Presto! Presto! Addio! Franz Liszt.«

Das Autogramm ging herum und erregte schadenfrohe Heiterkeit. Es wurde dann noch ein wenig geplaudert, und zum Schluß durften auch noch zwei von den jungen Damen etwas vorspielen. Ihre Leistungen waren korrekt und geschmackvoll, wenn auch keineswegs hervorragend. Der Meister belohnte sie beide durch sein freundliches »Bravo!« Und als Florian Mayr ihm dieserhalb mit verwunderter Frage anblickte, ging er zu ihm und sagte leise, indem er dabei wie entschädigend die Schultern hochhob: »Was willst du, mein Sohn? Es sind gute Kinder, sie laufen mir überall nach und geben sich so viel Mühe; warum soll ich ihnen wehethun?«

Der Schwarm verlief sich allmählich, und schließlich blieben, einem Winke des Meisters gehorchend, nur noch Ilonka Badacs und Florian Mayr zurück. Der Meister zündete sich eine Cigarre an und hieß Florian das Gleiche thun. Ilonka wußte schon, wo die Cigaretten für die Damen standen, und rauchte zur Gesellschaft auch mit. Behaglich an der vortrefflichen Havanna saugend, schritt der Meister ein paarmal auf und ab und murmelte dabei halb für sich: »Das war eine dumme Geschichte; aber jetzt wollen wir wieder gut sein – pcha, basta!« Die Hände auf dem Rücken gefaltet, blieb er vor den beiden stehen, betrachtete sinnend erst sie und dann ihn und dann nahm er Ilonka rechts und Florian links unter den Arm und begann so mit ihnen auf und ab zu wandeln.

»Ihr kennt euch schon, ihr beiden; hab' gehört – weiß alles, haha! Ich habe etwas mit euch im Sinne: ihr sollt einander – hm – ergänzen!« Er lachte vergnügt und tätschelte ihnen beiden die Hand.

Dann fuhr er also fort: Kissázonyi Badacs Ilonka, galambom, ist ein kleiner Satan – das höllische Feuer schlägt ihr manchmal zu allen Poren hinaus – da soll unser Sankt Florian etwas Wasser hineinschütten, haha! und mein Täubchen, mein höllisches, soll dem Sankt Florian ein wenig warm machen, damit er mir menschlicher wird. Habt ihr das kapiert?«

»Jawohl, Maister, versteh' ich ausgezaichnet,« rief Ilonka mit leuchtenden Augen, und dabei wippte sie auf den Zehenspitzen und breitete die Arme aus. als wollte sie gerne einen Kuß haben.

Der Meister winkte ihr lächelnd ab. »Nein, nein; heute nicht: erst verdienen! Ich will sehen, ob ihr der Sankt Florian gut bekommt!« Und dann wendete er sich diesem zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Wenn es dir Freude macht, mein Lieber, so kannst du jeden Morgen um acht Uhr zu mir kommen und mir bei meiner Arbeit helfen!«

Florian hätte aufjauchzen mögen über diese Auszeichnung, und er beugte sich rasch über die gütige Hand des verehrten Meisters und küßte sie. – Die beiden waren für heute entlassen. Sie gingen zusammen in den Park. Florian war ganz außer sich vor Freude und Stolz. Alle hatten sie ihn heute beglückwünscht, diese feinen, auserlesenen Menschen, die doch so viel vor ihm voraus hatten, mit denen er gar nicht wagte, sich auf eine Stufe zu stellen. Und nun durfte er doch mit Fug und Recht sich für bevorzugt halten; denn weder der heimliche Thronprätendent von Rumänien, noch der moskowitische Bojar, noch irgend einer von der ganzen bedeutenden, geistreichen und tugendhaften Gesellschaft, die er gestern kennen gelernt hatte, war jemals aufgefordert worden, dem Meister bei der Arbeit zu helfen. Er wälzte sich vor Freude im Grase, stand Kopf und schlug Rad, als just niemand in der Nähe war. Und Ilonka lachte ausgelassen über seine Tollheiten und erklärte ihn mit inniger Ueberzeugung für einen »furbar verrickten, lieben Kärl«. Sie verabredeten, daß er täglich gegen Abend auf eine Stunde zu ihr kommen sollte. Sie wollte zunächst ihr ganzes Konzertrepertoire sorgfältig mit ihm durchstudieren und dann erst neue Werke einüben.

Als sie bereits der Stadt wieder nahe waren, fragte Ilonka mit drolliger Schüchternheit, was er denn für seinen Unterricht an Honorar verlange.

Und Florian wollte sie ein wenig necken, setzte eine ganz ernsthafte Miene auf und sagte: »Nun, ich mache es wie die berühmten Aerzte: ich liquidiere nach dem Vermögen der Patienten. Zehn Mark habe ich in Berlin von ganz gewöhnlichen Bankierstöchtern bekommen. Wenn ich mich in Ihren Augen nicht dadurch herabsetze, daß ich nur zehn Mark für die Stunde nehme . . .«

»Zehn Mark,« siel sie entsetzt ein, »jo wos denken denn von mir, lieber Freind? Wollen S' mich am Bettelstob bringen?«

»O, eine große Dame wie Sie, mein gnädiges Fräulein –! Sie wühlen doch gewiß nur so im Golde und wickeln sich die Locken auf Banknoten?«

»O main Gott, wos sind Sie für ein schrecklicher Mensch! Ich bin orm wie ein Zigeiner: heit' hob' i bißl wos, morg'n hob' ich gor nix. Bloß Glick hob' ich: kommt immer wos, wenn gor nix mehr do ist!«

»Woher denn?«

»O, das ist värschieden: kommt wos von dem, kommt wos von dem – von Konzert maine ich natirlich.«

Florian guckte sie betroffen von der Seite an und fragte etwas zögernd: »Aber sind denn Ihre Eltern nicht reich? Ich meine doch, Sie müssen aus sehr vornehmem Hause sein?«

»Wer, ich?« rief Ilonka belustigt. »Werd' ich Ihnen sogen: maine Mutter wor eine klaine Tänzerin bei der großen Oper in Budapest. Main Voter – schau'n S', liebär Freind, do waiß man nix Gewisses. Ise meglich ein Zigeinerprimas, ise meglich ein Grof. Maine Mutter sogt, daß Grof war; ober ich glaub', daß Zigeinerprimas war, weil ich musikolisches Talent von ihm hob'. Ober Herr Grof hot gezohlt, wose is immer Hauptsoche. Wor liebär Mänsch, Herr Grof, hot mir sähr gute Erziehung bezohlt – erst im Kloster Sacré coeur, nochher in Wien auf Konservatorium.«

»Hm!« machte Florian nachdenklich, indem er sie immer noch scheu von der Seite betrachtete, »ich finde, Sie haben doch auch viel Gräfliches an sich?«

»Nun wie Gott will, liebär Freind, ise meglich, daß olle zwai baide gewäsen sind.« Und sie lachte ihm lustig ins Gesicht, so daß er beide Reihen ihrer prachtvollen blanken Zähne zu sehen bekam.

Florian lachte sie verlegen an, wurde ganz rot und stotterte: »Fräulein, ich – ich muß Ihnen schon sagen – ich finde Sie riesig nett!«

»Is wohr?« rief sie und klatschte vergnügt in die Hände. Sie warf einen raschen Blick umher und plötzlich erhob sie sich auf die Zehenspitzen, zog seinen Kopf zu sich herab und verabreichte ihm einen raschen, kräftigen Kuß.

Der gute Florian stand ganz erschrocken da und schaute sich ängstlich um. Nein, es konnte wirklich niemand zugesehen haben. Da atmete er erleichtert auf, reichte ihr die Hand, drückte sie derb und sprach: »Nun, dann dank' ich auch recht schön.«

Sie schmiegte sich neckisch an ihn und sagte lachend: »Hob' ich bißl Honorar voraus gezohlt!«

»Möchten S' net immer in der Münz' zahlen?« fragte Florian leise, mit schüchterner Annäherung.

Sie blinzelte ihn verliebt an und nickte dazu ein paarmal rasch mit dem Kopfe. Dann aber wurden die Wege belebter, und er geleitete sie ehrbar bis vor die Thüre ihres Hotels.


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