Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Elftes Kapitel

Als Fritz Fiedler am nächsten Morgen in aller Frühe, noch müde und verschlafen, in den Stall trat, harrte seiner eine unliebsame Entdeckung. Der Zappelphilipp lag langausgestreckt in seinem Box und röchelte leise.

»Ich weiß nicht, was der Bestie wieder fehlt,« sagte Nickel, der während der Nacht Stallwache gehabt hatte; »das Abendfutter hatte er bis auf das letzte Körnchen und den letzten Halm genommen – aber von Mitternacht ab wurde er unruhig, warf sich und jappste. Und so ist es bis jetzt gegangen« . . .

In seiner Angst eilte Fritz schleunigst zu Hempel und bat ihn, den Zappelphilipp noch einmal zu untersuchen. Hempel ging denn auch mit gewohnter Sorgfalt zu Werke. Die Sehnenanschwellung war völlig gewichen, aber der Leib aufgetrieben. Nase und Nüster warm, das Auge glanzlos und trübe.

Hempel machte ein bedenkliches Gesicht.

»Das sitzt tiefer,« meinte er, »aber weiß der Geier – wo! Basedow – springen Sie 'mal zum Herrn Grafen herauf; der Herr Graf möchten die Güte haben, gleich in den Stall zu kommen – der Zappelphilipp habe sich von neuem gelegt« . . .

195 Wenige Minuten später erschien Wendelin – bleich, übernächtig, verärgert. Er war in schlechtester Laune und trat schimpfend und fluchend an den Box des kranken Tieres heran. Auch er untersuchte den Gaul genau; der Zappelphilipp ließ sich befühlen und betasten, ohne mit einer Muskel zu zucken, aber als der Graf mit der Hand vorsichtig über die rechte Bauchwand hinabstrich, vibrierte der ganze Körper des Pferdes.

Der Graf schüttelte den Kopf und erkundigte sich eingehend nach der letzten Fütterung. Nickel hatte sie ordnungsmäßig geschüttet – außer ihm war seit gestern Abend kein Mensch in den Stall gekommen.

Auf den Befehl Wendelins wurde nach dem, in der nahen Kaserne wohnenden Oberroßarzt des Regiments geschickt, der nach der ersten Untersuchung schwere Verdauungsstörungen bei dem erkrankten Tiere konstatierte; woher dieselben rührten, ließ sich vor der Hand nicht nachweisen, doch nahm der Arzt an, daß auf irgend eine Weise schädliche Ingredienzien in das Futter gekommen sein mußten. Nachdem Dr. Klinker unter Assistenz Hempels selbst die notwendigen mechanischen Hilfsmittel vorgenommen hatte, um den Magen des leidenden Tieres zu reinigen, verschrieb er eine Arznei und ordnete sodann eine Art Schwitzkur an, für die er genaue Anweisungen gab.

»Ich glaube nicht, daß die Sache viel auf sich hat,« bemerkte der Roßarzt zu Kölpin; »aber man darf so etwas nicht allzu leicht nehmen, weil die Folgen recht unangenehm werden können. Und es wäre doch schade um den Zappelphilipp! Er hat sich im letzten Jahre so hübsch herausgearbeitet! Seit er an Fett verloren, sieht 196 man erst, wie stattlich er gebaut ist. Was hat der Kerl für Lenden und für eine Brust, und wie wölbt sich der Widerrist! – Wo haben Sie den Gaul eigentlich herbekommen, Herr Graf?«

Die Worte des Dr. Klinker beruhigten Kölpin einigermaßen, und plaudernd schritt er mit dem Oberroßarzt über den Hof zurück. –

Die erneute Erkrankung des armen Zappelphilipp bildete für die nächsten Stunden naturgemäß das hauptsächlichste Gesprächsthema im Stall und in den Dienerzimmern. Namentlich Hempel konnte sich über den merkwürdigen Vorfall um so weniger beruhigen, als ihm das Tier stets als kerngesund und von bester Natur bekannt gewesen war. Er suchte eingehend nach etwaig zurückgebliebenen Futterresten in Krippe und Raufe, aber dem Zappelphilipp mußte das gestrige Abendessen noch recht gut geschmeckt haben – er hatte nichts übrig gelassen.

Die Anweisungen des Arztes wurden genau befolgt, und bald lag das Pferd in dicke Woilachs gehüllt und mit Bandagen umschnürt in seinem Box. Nun trat auch für Fritz eine Stunde der Ruhe ein, die er dazu benutzte, sich mit Hempel und dem alten Aalkrug über die Geschehnisse des letztverflossenen Abends auszuplaudern.

Das stürmische Davoneilen des Barons von Krey und die lauten Erörterungen im blauen Kabinett hatten die Dienerschaft aufmerksam machen müssen. Das seltsame Ereignis sprach sich schnell herum und wurde lebhaft kommentiert. Auf den Rat Aalkrugs hütete sich Fritz indessen, irgend einem der übrigen Dienerschaft von 197 seiner flüchtigen Bekanntschaft mit Herrn von Krey Mitteilung zu machen.

»Hab ich dir nicht gesagt, mein Junge, daß man sich diesen Herrn Baron zehn Schritt vom Leibe halten muß?« bemerkte der alte Kammerdiener mit weiser Miene. »Jede Berührung mit dem bringt Unglück – von den männlichen Kreys hat noch nie einer etwas Rechtes getaugt!« –

Eine ähnliche Bemerkung hatte auch Graf Wendelin am Abend dieses Tages nicht unterdrücken können. Er saß in seinem Arbeitszimmer und war mit Prüfung von Rechnungen beschäftigt, als es leise an die Thür klopfte, und Katinka, ein Zeitungsblatt in der Hand, das Gesicht sehr blaß und die Augen gerötet, in das Gemach trat.

»Ah – sieh da, Katinka!« – Der Graf knöpfte seinen gesteppten Hausrock zu, legte die Cigarre fort und erhob sich. Er hatte seine Frau am heutigen Tage noch nicht gesehen. Sie war auf ihrem Zimmer geblieben – einer heftigen Migräne wegen – und hatte sich dort auch die Mahlzeiten servieren lassen. Wendelin glaubte nicht an diese tückische Migräne; er war überzeugt, Katinka grolle ihm wegen des gestrigen Abends und es befriedigte ihn, daß sie nun selbst kam, ihn aufzusuchen.

Er schritt ihr entgegen, nahm ihre Hand und küßte sie. Er war in der Laune, liebenswürdig zu sein, aber das Lächeln auf seinem Gesicht verflog schnell, als er den tiefen Ernst in den starren und bleichen Zügen Katinkas sah.

»Was ist dir, Kind?« fragte er, ernstlich besorgt. »Du siehst so sonderbar aus . . . Bist du immer noch leidend?«

198 Sie reichte ihm das Zeitungsblatt und deutete mit dem Finger auf ein zwischen den Vermählungs- und Todesanzeigen stehendes Inserat.

»Lies!« sagte sie kurz und scharf. »Ich wußte, daß er sich rächen würde, aber ich hatte eine derartige – Infamie nicht erwartet!«

Wendelin nahm das Blatt, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht, während er las.

»Freunden, Bekannten und Verwandten, vor allem meinem sehr lieben Vetter Wendelin Graf Kölpin-Deesenhoff, und meiner teuern Cousine Katinka Gräfin Kölpin, geborenen Freiin von Krey, beehre ich mich anzuzeigen, daß ich mich am heutigen Tage mit der Athletin und Parterreakrobatin Signora Carmella Nera in aller Form Rechtens verlobt habe. Die Hochzeit findet am Sonntag, den 23. Juni dieses Jahres, statt und sind zu derselben speziell die oben genannten lieben Verwandten gebührend geladen. Ebenmäßig gebe ich kund und zu wissen, daß ich mich vom 1. nächsten Monats ab in Karges Vaudevilletheater hierselbst allabendlich mit meinen neun kunstvoll dressierten Hunden verschiedener Rasse öffentlich produzieren werde und bitte das verehrte Publikum um geneigten Zuspruch.

Leopold Freiherr von Krey.«      

Die Hand Wendelins, die das Zeitungsblatt hielt, sank schlaff herab, seine Augen stierten glasig ins Weite. Der infame Streich Leopold Kreys hatte ihn völlig seiner Fassung beraubt. Er war wie gebrochen.

Etwas wie Mitleid überkam Katinka. Ihr ganzes inneres Sein widersprach dem Wesen Wendelins; sie hatte 199 aufgehört, ihn zu lieben, aber in diesem Augenblicke bedauerte sie ihn, bedauerte sie ihn mehr als sich selbst. Der Racheakt Leopolds traf nicht nur den Namen Krey, sondern auch den der Kölpin, und Katinka wußte, wie stolz Wendelin auf diesen alten. fleckenlosen Namen war.

Die Zeitung in der Hand des Grafen knitterte leise. Mit einem heiseren Aufschrei der Wut ballte er das Blatt zusammen, warf es zur Erde und trat es mit Füßen.

»Schurke! – Schurke!« stöhnte er, und dann traf sein umherirrender Blick das blasse Gesicht seiner Frau. Er lachte schrill auf. »Das sind deine Verwandten – deine Kreys!« schrie er in blinder Wut, »rührt man an einen von ihnen, so besudelt man sich! Pfui – pfui!« . . . .

Sie wandte sich stumm und ging. Das brachte Wendelin zur Besinnung zurück.

»Bleibe, Katinka – was soll die Komödie!« herrschte er sie an. »Kann man ruhig bleiben einer so ungeheuerlichen Infamie gegenüber?!«

Die Gräfin blieb an der Thür stehen.

»Tobe dich aus,« sagte sie kalt, »aber verschone mich!«

Wendelin schritt mit auf den Rücken gefalteten Händen im Zimmer auf und nieder.

»Du verstehst es perfekt, meine Heftigkeit immer von neuem zu reizen,« grollte er. »Aber nun laß uns vernünftig sprechen – die Sache ist ernst genug! Was ist zu thun, um weiteren Gemeinheiten Kreys vorzubeugen?« –

»Ich weiß es nicht. Hättest du ihm gestern noch einmal seinen Willen gethan, dann wäre er wahrscheinlich ins Ausland zurückgekehrt.«

200 »Geschehenes läßt sich nicht rückgängig machen! Wir müssen Mittel finden, seinem wahnsinnigen Rachedurst entgegenzuarbeiten.« . . . Kölpin hob das zerknitterte Zeitungsblatt auf, entfaltete es und las das Inserat Kreys noch einmal Zeile für Zeile durch. »Carmella Nera?« – sagte er fragend; »mir ist's, als hätte ich schon einmal diesen Namen gehört« . . .

»Ich habe dir von ihr gesprochen,« entgegnete Katinka, und in ihr Gesicht kehrte langsam eine feine Röte zurück – die Röte der Scham, daß sie dereinst mit einer Dienstmagd hatte rivalisieren müssen. »Carmella war meine Zofe in Monsthal . . . Der Pfeil war auf mich gezielt.«

»Und er hat getroffen,« fügte der Graf bitter hinzu, »– Krey versteht sich auf sein Handwerk! – Ah bah – mag er heiraten, wen er will – uns kümmert's nicht! Aber unter seinem vollen Namen sich dem grinsenden Plebs als Hanswurst zu zeigen – das muß verhindert werden! Das darf er nicht!«

»Hindere ihn daran, wenn du es kannst – ich bezweifle es!«

»Das wollen wir sehen! Morgen früh fahre ich zum Polizeipräsidenten; ich kenn' ihn persönlich – er ist ein Freund Papas und wird mir Rat und Hilfe nicht verweigern! . . . Und nun bitte ich dich, Katinka: reg dich nicht weiter auf! Geschehenes läßt sich nicht rückgängig machen – ich gebe dir deine Worte von vorhin zurück. Willst du schon gehen?«

»Ich bin müde, sehr müde« . . .

»Katinka – ein Wort noch!« . . . Wendelin stand 201 in der Mitte des Zimmers und kaute an der Unterlippe. Seine Stirn lag in Falten und sein Blick huschte mit bittendem Ausdruck zu seiner Frau hinüber . . . »Ich war in den letzten Wochen sehr nervös, verstimmt und verärgert – es kam so vielerlei zusammen, – da mag ich zuweilen heftiger geworden sein, als es angebracht war – – kurz und gut, Katinka, ich möchte nicht, daß du mir zürnst!« . . . Es geht mir nahe, wenn du mich manchmal mit so – so finsterem Blicke ansiehst – wirklich, es geht mir nahe! Ich habe ja meine Fehler, ich weiß es, aber« . . .

Er brach plötzlich ab, eilte auf seine Frau zu und erfaßte ihre Hände.

»Du bist mir gut, Katinka, nicht wahr,« sagte er, »trotz aller meiner Fehler?« . . .

Wie ein Schluchzen stieg es in der Brust der jungen Frau empor. Sie gab ihm keine Antwort, aber unwillkürlich erwiderte sie den warmen Händedruck Wendelins. Und dann machte sie sich frei und schlüpfte hinaus – in ihr stilles Boudoir, wo sie sich weinend auf den Divan warf. Ihre schlanken Glieder flogen vor innerer 202 Erregung und über die blassen Wangen tropften die Thränen.

* * *

Zu früher Stunde am folgenden Morgen fuhr Wendelin zum Polizeipräsidenten, der ihn sofort empfing und mit Aufmerksamkeit seiner Erzählung lauschte. Er versprach dem Grafen auch, sich für die Sache zu interessieren; es sei nicht unmöglich, daß man aus irgend welchen formalen Gründen das öffentliche Auftreten Leopold Kreys in Karges Vaudevilletheater verbieten könne – vielleicht lasse sich auch ein Ausweisungsbefehl gegen Krey und die Nera, die beide österreichische Staatsangehörige, erwirken. Aber all das hänge von den näheren Recherchen ab, die der Präsident umgehend einzuziehen versprach. Schließlich riet er Wendelin noch, sich vorläufig Urlaub zu nehmen und Berlin auf einige Zeit zu verlassen. In der Zwischenzeit wolle er sehen, was in der unglücklichen Sache zu thun sei.

Das leuchtete Wendelin ein. Er dankte dem alten Herrn und fuhr dann zu seinem Kommandeur, dem er die Angelegenheit gleichfalls wahrheitsgetreu schilderte. Der Oberst, ein sehr vornehmer Mann aus hohem Fürstengeschlecht, war offenbar auf das Peinlichste berührt durch die Erzählung Kölpins. Er teilte indessen die Ansicht Wendelins, daß dieser Berlin sofort verlassen müsse und bewilligte ihm einen vorläufigen Urlaub, der verlängert werden sollte, sobald der Kriegsminister dem längst gehegten Wunsche des Grafen, à la suite des Regiments gestellt zu werden, nachgekommen sein würde.

In grimmiger Laune fuhr Wendelin nach Hause 203 zurück. Er trug sich mit der Absicht, ohne Zögern an die Reisevorbereitungen zu gehen; es wäre ihm am liebsten gewesen, wenn er noch am selben Tage hätte abreisen können.

Im Portale kam ihm Hempel mit ernstem und ängstlichem Gesicht entgegen.

»Wollen Sie zu mir?« fragte Wendelin, an der Treppe stehen bleibend.

»Sehr wohl, Herr Graf,« rapportierte Hempel, »ich habe leider eine Unglücksbotschaft zu melden. Der Zappelphilipp ist vor einer halben Stunde gestorben.«

Wendelin stieß eine Verwünschung aus.

»Gestorben?!« – rief er. »Habt ihr Dr. Klinker nicht mehr geholt? Es ist das erste Mal, daß in meinem Stalle ein Gaul gefallen ist! . . .«

Hempel berichtete, daß alle Anweisungen des Oberroßarztes sorgfältig ausgeführt worden seien. Der Zappelphilipp sei indessen von Stunde zu Stunde elender geworden. Um acht Uhr früh habe man noch einmal zu Dr. Klinker geschickt, der auch gekommen sei, das kranke Tier aber aufgegeben habe. Dr. Klinker habe gemeint, der Zappelphilipp sei an einer Darmverschlingung zu Grunde gegangen.

Kölpin schritt in steigender Aufregung nach dem Stalle, wo das ganze Personal um den Box des verendeten Pferdes versammelt war. Fritz standen die Thränen in den Augen; er war sich bewußt, seine Pflicht erfüllt zu haben – um so größer war sein Schmerz um den Verlust des ihm anvertrauten Tieres.

Graf Wendelin rief Fritz zu sich heran.

204 »Hast du alle Befehle des Oberroßarztes befolgt?« fragte Kölpin.

»Alle, Herr Graf.«

»Es scheint aber nicht! Dem Zappelphilipp hat nie etwas gefehlt – er war kerngesund – nur durch deine Nachlässigkeit kann er zu Grunde gegangen sein!«

»Herr Graf verzeihen – aber ich bin mir keiner Nachlässigkeit bewußt!«

»Widersprich nicht,« rief Kölpin heftig und mit drohender Stimme. »Ich weiß, was ich sage! Du bist ein Schlingel – hast du verstanden – ein Schlingel bist du!«

Fritz wurde glühend rot.

»Ich verbitte mir das, Herr Graf,« sagte er festen Tons.

Kölpin war starr. »Ah – ah – du verbittest dir das!?« wiederholte er höhnisch und faltete die Hände über dem Knauf seines Säbels. »Das ist ja eine ganz neue Tonart, die hier einzureißen scheint! Sieh einmal an, du verbittest dir, daß ich dich Schlingel tituliere! Gut – so werde ich dich säuberlicher anfassen und werde dich »Herr« nennen. Also, mein lieber Herr, du wirst auf der Stelle deine Siebensachen zusammenpacken, wirst dir von Hempel deinen Lohn auszahlen lassen und dann schleunigst das Haus verlassen! Aber schleunigst, rate ich dir. So empfindsame Seelen, wie du bist, können wir hier nicht brauchen!« . . . Er wandte sich um. »Schicken Sie zu Dr. Klinker, Hempel, und lassen Sie ihn bitten, am Nachmittage die Sektion des Zappelphilipp vorzunehmen« . . .

205 Und ohne einen Blick auf das tote Tier zu werfen, verließ der Graf klirrenden Schrittes den Stall.

Fritz sprach kein Wort. Stumm schritt er zur Thür; er wollte auf seine Kammer gehen, sich umkleiden und auf der Stelle das Haus verlassen. Wohin er sich wenden sollte, wußte er noch nicht; es drängte ihn nur, möglichst schnell von hier fortzukommen – Bitterkeit und Trotz füllten sein Herz.

Hempel schritt ihm nach.

»Ein Wort, Fritz,« rief er. »Du warst unvorsichtig, my dear boy« – und der alte Jockey schüttelte bekümmert den Kopf – »mein Himmel, ist denn die Bezeichnung ›Schlingel‹ eine so furchtbare Beleidigung? Habe doch oft gehört, daß ihr euch im Stalle ganz andere Redensarten an den Kopf geworfen habt! So böse hat's doch der Graf auch nicht gemeint! . . . Weißt du, Fritz, da giebt es ein englisches Wort, das heißt self-discipline oder zu deutsch Selbstzucht. Lerne ein wenig mehr Selbstzucht, lerne dich selbst beherrschen und zu geeigneter Stunde das Maul halten, dann wirst du glatter durchs Leben kommen. Was nützt dir denn nun dein trotziges Widersprechen? Du verlierst eine gute Stelle und kannst lange suchen, ehe du eine ähnliche findest. Und was soll ich alter Kerl hier ohne dich machen? Ich habe dich lieb gewonnen – wahrhaftig, als ob ich dein Vater wäre – und nun rückst du mir aus! Das ist nicht hübsch von dir, boy, und es kränkt mich« . . .

Fritz biß sich fest auf die Unterlippe, aber er erwiderte nichts. Still ging er an der Seite Hempels 206 über den Hof. Es mochte ja richtig sein – vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte den Mund gehalten, hätte das Schimpfwort des Grafen ruhig heruntergeschluckt; aber der Ärger über die Ungerechtigkeit seines Herrn war ihm wie Siedehitze zu Kopf gestiegen – er hatte nicht schweigen können! –

»Bevor du gehst, will ich dich noch einmal sprechen, Fritz,« sagte Hempel, stehen bleibend. »Ich muß wissen, was du vor hast. Ich bleibe im Stall – da findest du mich« . . .

Fritz nickte und stieg die schmale Holztreppe in seine über den Ställen gelegene Kammer hinauf. Hier begann er sich auszukleiden und an Stelle der bunten Livree das ihm gehörige Civil anzulegen. Dann zog er die unter dem Tische stehende Holzkiste mit den Eisenscharnieren hervor, die ihm die Frau Pastorin beim Abschiede aus Klein-Busedow als Koffer mit auf den Weg gegeben hatte.

Als er den ungefügen Deckel zurückschlug, fiel sein erster Blick auf die verstaubte Bibel aus dem Vaterhause. Sie hatte während der ganzen Zeit, die er in Diensten Kölpins verlebt, in der 207 Holzkiste gelegen. Ein Gefühl der Rührung überkam Fritz beim Anblick des alten Folianten, der ihm die Heimat zurückrief. Vorsichtig nahm er das Buch an sich und fegte mit dem Taschentuche die Staubschicht, die den schweinsledernen Einband bedeckte, herunter. Um eine der Ecken hatte sogar eine kleine Spinne ihr Netzgefüge geschlungen. Fritz legte die Bibel auf den Tisch und schlug sie auf. Zum erstenmale betrachtete er mit einem gewissen Interesse die schön kolorierten Anfangsbuchstaben und die dicken schwerfälligen Typen. Er versuchte einige Zeilen zu lesen, aber er vermochte sie nicht zu entziffern. Das mußte lateinisch sein oder sonst irgend ein Kauderwelsch! Seine Mutter hatte zwischen die Blätter der Bibel gewöhnlich die Briefe gelegt, die sie aufheben wollte – da war zum Beispiel noch einer vom Onkel Ede, dem Lokomotivführer, der später bei einer Kesselexplosion ums Leben gekommen war! Er datierte aus den sechziger Jahren – das war lange her . . . Fritz klappte das alte Buch wieder zusammen, hüllte es aber sorglich in Zeitungspapier, ehe er es von neuem in die Holzkiste legte.

Dann machte er sich daran, mit vorsichtiger Hand die Oblaten zu lösen, mit denen er die Neuruppiner Bilderbogen an die Wände geklebt hatte. Die bunten Dinger sollten nun zum drittenmale ihren Platz ändern – und unwillkürlich seufzte Fritz beschwerten Herzens auf: er hatte noch nicht daran gedacht, wo er in der kommenden Nacht schlafen würde. Er zählte seine kleine Barschaft; viel hatte er nicht erspart, aber immerhin genug, um in den nächsten zwei, drei Monaten sorgenlos 208 leben zu können, und dann blieb ihm auch noch das Sparkassenbuch, das Pastor Hartwig für ihn aus dem Erlös der Versteigerung der elterlichen Hinterlassenschaft gekauft hatte.

Fritz überlegte hin und her, was er nunmehr anfangen solle und kam schließlich auf den Gedanken, mit Sack und Pack zu seinem alten Spielkameraden Otto in der Melchiorstraße zu fahren; ein paar Tage würde er ihn sicher mit Freuden aufnehmen und dann konnte man gemeinsam das Fernere beraten. Otto war ein anschlägiger Kopf – vielleicht konnte er ihm helfen.

Die letzten Habseligkeiten waren schnell zusammengepackt, dann ging Fritz zu Hempel, um von diesem Abschied zu nehmen. Der alte Jockey war sehr bewegt und versuchte seine Rührung dadurch zu verbergen, daß er den kurzen schwarzen Cigarrenstummel, den er wie gewöhnlich in der Mundecke trug, wohl ein Dutzend Mal hintereinander anzündete. Auch er hielt es für das Beste, daß Fritz sich in den ersten Tagen bei seinem Freunde einzuquartieren versuche; er versprach auch, sich sofort in Fritzens Interesse umzuthun und ihm Nachricht zu geben, sobald er von einer sich für ihn eignenden Stellung etwas hören werde.

Zu Ehren Basedows, des langen Nickel und »Mister« Toms muß es gesagt sein, daß alle drei bei der Verabschiedung Fritzens von ihnen sich ihrer gewöhnlichen dummen Redensarten völlig enthielten. Es that ihnen zweifellos leid, einen guten, allzeit necklustigen und ihnen gegenüber nie empfindlichen Kameraden in dem Scheidenden verlieren zu müssen. Selbstverständlich vergaß Fritz 209 nicht, sich auch dem alten Aalkrug und seiner Gattin in aller Höflichkeit zu empfehlen; er traf Spirius, den Küchenchef, zu einer Frühstücksstunde bei ihnen, und alle Drei entließen ihn mit guten Wünschen und der ebenso gut gemeinten Einladung, sich dann und wann wieder einmal zu zeigen, damit man doch gegenseitig wisse, wie es dem Einen oder Andern in der Welt ergehe.

Einen Augenblick hatte Fritz überlegt, ob er auch Vegesack, dem Oberkutscher, die Hand zum Abschiede reichen sollte. Da aber siegte wieder der Trotz in ihm. Er wußte, daß er dem albernen Schleicher immer ein Dorn im Auge gewesen war und hatte das Empfinden, als müsse Vegesack sich freuen, ihn aus seiner Umgebung los zu werden – wozu noch das Komödienspiel des Abschieds! –

Nickel hatte in liebenswürdiger Bereitwilligkeit eine Droschke herbeigeholt, und Tom mühte sich unter Verschleuderung einer Unmasse englischer Kraftflüche damit ab, die Holzkiste Fritzens vor das Portal zu schaffen; Aalkrug, Spirius, Hempel, Basedow, die Zofe der Gräfin, einige Küchennymphen und selbst die alte Henneken, eine taube achtzigjährige Person, die schon den Deesenhoffener Grafen auf ihren Knieen geschaukelt und nun im Kölpinschen Hause das Gnadenbrot erhielt, hatten sich zusammengefunden, Fritz das Geleite zu geben. Gerade als dieser in die Droschke stieg, bog Wendelin, auf seiner »Meermaid« aus der Kaserne kommend, um die nächste Straßenecke. Ein ärgerliches Zucken flog über sein Gesicht, als er den ganzen Troß seines Hauses um Fritz versammelt sah; er sagte indessen kein Wort, faßte nur 210 an die Mütze und grüßte mit gnädigem Kopfnicken seine respektsvoll Platz machenden Leute.

So fuhr denn Fritz in die innere Stadt hinein und damit neuen Schicksalen und veränderten Verhältnissen entgegen. Er machte sich wenig Gedanken darüber, was aus ihm werden solle; daß er sich auch weiterhin in der Welt zurechtfinden werde, war ihm zweifellos – mit einem offenen Kopfe und zwei starken Fäusten kann man, so meinte er, nicht untergehen.

In irgend einer kleinen Winkelstraße, über deren holpriges Pflaster der Wagen stuckerte, hörte er vom Trottoir aus seinen Namen rufen. Der kleine Herr Mausebrei, wie immer mit einem mächtigen Packet unter dem Arme und einem sichtbaren Metermaß in der oberen Rocktasche, winkte ihm lebhaft zu und ruhte nicht eher, bis Fritz halten ließ und Mausebrei ihn sprechen konnte.

»Glückliche Fügung!« krähte der kleine Mann, »habe in den letzten Tagen dreimal den Anlauf genommen, Euch zu besuchen, Sohn der Giganten, aber immer wieder kam mir des Lebens Unverstand störend dazwischen! Elendes Dasein ohne den Glanz der Poesie und des holdesten Scheins! Wo geht die Reise hin?« –

Fritz erzählte mit kurzen Worten sein Geschick, aber Mausebrei schien der Tragik der Ereignisse keine Empfindung entgegenbringen zu wollen.

»Superbus, superbe, sagt der Lateiner,« hob er von neuem an und nickte wohlgefällig mit dem kleinen, spitzen Kopfe, »das kommt mir gerade recht! War eine gute Idee von Ihnen, junger Römer, die Fesseln zu brechen und dem Herrendienst salve zu sagen! Einst wird kommen 211 der Tag, sag' ich Ihnen, da man froh sein dürfte, sie noch an der Kette zu haben, und mit Stolz werden Sie dann dem blutsaugerischen Geschmeiß, so sich vom Marke der Edlen nährt, den Rücken wenden und triumphierend erwidern: quid non! Denn Sie werden steigen und siegen und« –

»Lieber Herr Mausebrei, die Droschke kostet Geld« –

»Geld – pfui, Geld! Schnöder Mammon, für den man das Heiligste kaufen kann, du hast die Welt determiniert! – Also hören Sie zu, Riesenjüngling, und lassen Sie jeglichen Einwurf! Man will Sie sprechen. Meister Sterzinger, der bayrische Herkules, der jetzt mein lieber Freund geworden ist, nachdem ich mit den Waffen des Geistes seinen brutalen Mate–ri–alistmus besiegt, hat Sie zu einer Audienz befohlen. In wichtiger Sache, junger Freund! Ellenweit werden sich vor Ihnen die Thore der Zukunft öffnen! Versäumen Sie nicht, ihm Ihre Aufwartung zu machen! Am besten ist's, Sie erwarten ihn einmal des Abends nach der Vorstellung im Reichshallen-Theater. Das ist ein Mann! Wir haben ihn verkannt an jenem trubulösen Abend in der ›Springenden Münze‹, aber schon Besseren ist das Los des Verkanntwerdens zugefallen! Zum Beispiel Kleon dem Gerber, einem alten Römer, den ein Scherbengericht in die Wüste trieb. Und auch Brutus war ein ehrenwerter Mann« – –

Mausebrei sprang eiligst zurück – die Droschke zog an.

»Schönsten Dank!« rief Fritz zurück, »ich werde der Einladung folgen! Auf Wiedersehen!«

212 Mausebrei reckte den rechten Arm zum alten Tektosagengruße empor, verlor dabei sein Paket und murmelte, während er sich bückte, es wieder aufzuheben:

»Neige dein Haupt, stolzer Sigambrer!« . . .

Otto Hartwig war soeben aus dem Kolleg zurückgekehrt, als Fritz in sein bescheidenes Stübchen trat. Der Student erklärte sich mit Freuden bereit, ihn bis auf weiteres bei sich aufzunehmen.

»Unentgeltlich«, fügte er hinzu, »mein ganzes fürstliches Heim steht dir unentgeltlich zur Verfügung! Nur den Kaffee des Morgens mußt du meiner Philöse bezahlen – da schützt dich kein Gott vor! Zwanzig Pfennig inklusive Brötchen, fünfundzwanzig mit Butter, aber die ist immer ranzig. Dort auf dem Sofa kannst du nachts über die edlen Glieder strecken, – ich werde der Philöse ein Liebesgedicht machen, dann giebt sie uns vielleicht noch ein Kopfkissen extra. Sie ist sehr empfänglich für lyrische Ergüsse – auch ihr Töchterchen Martha, obwohl selbige erst fünfzehn zählt. Du, aber heute müssen wir uns zu deinem Empfange einen Frühschoppen leisten – das geht gar nicht anders! Leg' nicht erst den Mantel ab – der ist ja noch neu und würde wenigstens zehn Mark auf dem Leihamt ergeben – – so, nun komm' – es leben die Rechtsgelehrten und die Schiffahrt und der Handel!« – 213

 


 


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