Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Zwanzigstes Kapitel

Die Vormittagsprobe in der Arène d'hiver war beendet. Die beiden mächtigen, brennend roten, von einem handbreiten weißen Streifen durchquerten Plakate rechts und links vom Haupteingange des Theaters versprachen ganz besondere Genüsse für den heutigen Premierenabend, der die Wintersaison einleiten sollte. Meister Gredelue hatte ein neues Ballett geschaffen, das unter seiner Leitung einstudiert worden war und den poetischen Titel »Dichterträume« führte; Grille d'Enes hatte in der Pantomime die Rolle der Phantasie zu tanzen und sich zu diesem Zwecke eine neue Garderobe anschaffen müssen: zwei Meter Silbergaze und ein Diadem aus Perlen. Das letztere hatte Graf d'Haussonville, der Stammgast in der Parkettloge drei, seiner Angebeteten zu Füßen gelegt; seit Tom Price die Bühne verlassen, liebte Grille d'Enes ihren Grafen mit alter Innigkeit . . . Neben dem Ballett, das als pièce de résistance den Abschluß des Programms bildete, waren auch die übrigen Nummern neu besetzt worden: alle Agenturen der Welt hatten, wie Monsieur Roche-Crevet sich bombastisch ausdrückte, ihr Vollkommenstes, Edelstes und Bestes an Specialitäten nach der Arène d'hiver geschickt – die Saison sollte glänzend eröffnet werden. Da gab 366 es »Flammenmenschen« – die Gebrüder Pitter-Pritt – zwei wunderliche Kerle in Teufelskostüm, die es mit Hilfe einer komplizierten, von ihnen erfundenen und konstruierten elektrischen Maschinerie fertig brachten, sich gänzlich in lodernde Flammen einzuhüllen und Feuerströme aus Mund und Nase zu entsenden; ferner einen »Eidechsenmann«, der sich gleich der Schlange im Paradiese um den Stamm eines Apfelbaumes zu winden verstand – einen »Schnellbildhauer«, Signor Arrigo Rubini, eine Trommelvirtuosin, eine Seiltänzergesellschaft, die auf schlappem Drahte Phänomenales vollführte, ein paar weibliche Parterre-Akrobaten und was noch der Wunder mehr.

Diejenigen Künstlernamen, von denen die Direktion sich eine besondere Anziehungskraft versprach, waren mit fetten Lettern gedruckt worden. Nach der Numero fünf des Programms hatte man sogar zwei Zeilen ausgelassen, um das dann Folgende um so auffälliger in die Augen springen zu lassen. Da hieß es nämlich: 367

Auftreten des weltberühmten Tiroler Herkules
Herrn August Sterzinger junior
in seiner neuen Glanz- und Parade-Nummer:
›Der Troubadour mit der eisernen Brust.‹

Herr August Sterzinger junior wird sich die Brust mit Eisengewichten von einem Centner Schwere belasten lassen, dabei die Arie des Manrico aus dem letzten Akte des ›Troubadour‹ singen und sich selbst auf der Violine begleiten, – eine Leistung einzig in ihrer Art!

Auftreten der unvergleichlichen gigantessa italiana
Signora Nera Carmella
in ihren überraschenden Kraft-Produktionen!

»Bum, bum!« hatte Fritz zu Carmella geäußert, als er die Reklamezettel am Theatereingang gelesen, »Roche-Crevet muß verrückt geworden sein, uns in so rücksichtsloser Weise an den Pranger zu schlagen! Zum Teufel, was muß man sich alles gefallen lassen!«

Carmella hatte nur mit den Achseln gezuckt; sie war das gewöhnt und machte sich nichts aus dem Pranger. –

Der Direktor und artistische Leiter war außerordentlich zufrieden mit der »Programmerweiterung« Fritzens und versprach sich namentlich von der Troubadour-Scene einen vollen Erfolg, der Kapellmeister der Arène d'hiver, Monsieur Legrandier, hingegen nahm die Gelegenheit wahr, Fritz nach beendeter Probe in einem dunklen Coulissenwinkel noch einmal vor der Gefährlichkeit dieser Produktion zu warnen.

»Es ist geradezu lächerlich,« meinte er, »wie sehr Sie durch diese wahnsinnige Kraftproduktion auf Ihre Gesundheit einwüten! . . Kommen Sie ein bißchen näher 368 heran, – drüben steht Roche-Crevet, und der Esel braucht nicht zu hören, was wir miteinander zu verhandeln haben . . . Ich habe Ihnen mehrfach gesagt: Sie besitzen eine so wunderschöne Stimme und ein so ausgesprochenes musikalisches Talent, daß es jammerschade wäre, wenn Sie auf eine Ausbildung Ihrer Begabung verzichten wollten. Sich aber Lunge, Kehlkopf, Brust und Stimmbänder durch eine blödsinnige Produktion absichtlich zu ruinieren, – lieber Freund, das ist einfach gottlos!«

»Ich weiß, wie gut Sie es meinen, Herr Kapellmeister,« gab Fritz zurück, »und danke Ihnen herzlich für Ihr Wohlwollen! Meine Brust ist indessen kräftig genug, eine Centnerlast zu tragen, und dieser kräftigen Brust verdanke ich Brot und Leben. Meine Stimme würde mich nicht ernähren; die gesangliche Ausbildung verschlingt Tausende – Sie selbst haben es mir gesagt – und ich bin ein armer Kerl! Ich käme vielleicht auf halbem Wege vorwärts und müßte dann liegen bleiben« . . .

Legrandier stieß ärgerlich mit seinem Krückstock auf den Boden.

»Wenn ich es je bedauert habe, selbst arm zu sein,« entgegnete er, »so ist es jetzt! Ich habe eine große Familie und kann von meinem geringen Gehalte als Kapellmeister nicht leben, bin daher darauf angewiesen, Unterricht zu erteilen. Wie gern möcht' ich Sie in meiner Schule haben! Dieses schnöde Geld, – es ist eine Schande! – Und doch wiederhole ich: seien Sie vorsichtig – ich meine es wirklich gut!« –

Und der schon alte Mann stampfte mit schweren Schritten davon. Fritz blickte ihm mit finsterer Miene 369 minutenlang nach. Das schnöde Geld – ja, es war eine Schande! Die Armut hielt ihn mit ehernen Banden im Dunkel dieses Coulissenlebens fest, und nie hatte er sich mehr als in den letztverflossenen Tagen aus ihm hinausgesehnt. Er fühlte, daß Legrandier recht hatte. Als er, um sich die Manrico-Arie einzuüben, zum erstenmale wieder seit seinen Kindertagen in Klein-Busedow zu der alten Fiedel griff, die er, wie das schweinslederne Bibelbuch aus dem Nachlasse seines Vaters, auf all' seinen Fahrten mit sich geführt hatte, – da wurden ihm unwillkürlich die Augen feucht. Er versuchte, ob ihm noch die lustigen Gassenhauer in der Erinnerung geblieben wären, mit denen er so oft auf der Wiese hinter dem Kantorshause die Dorfkinder entzückt hatte, – und siehe da, wie er den Bogen nahm und über die Saiten strich, da kehrte Melodie auf Melodie zurück. Fritz jauchzte auf, als er den lustigen Klingklang hörte, der ihm Heimat und Kindheit vor Augen zauberte, – er hätte die Geige am liebsten gar nicht mehr aus der Hand gegeben! Legrandier, der ihm die Arie einübte, war in der That auf das Höchste erstaunt über das seltene musikalische Talent des tirolischen Herkules. Im Umsehen hatte sich Fritz mit der Notenschrift bekannt gemacht, so daß er schon nach kurzer Zeit vom Blatte zu spielen im stande war. Mehr aber noch überraschte den Kapellmeister das schöne, ausgiebige und umfangreiche Stimmmaterial Fritzens, in dem der gewiegte alte Musiklehrer den Fundus für hervorragende tenoristische Leistungen zu entdecken glaubte. Fritz selbst war mit Herz und Seele bei der Sache; er hatte immer den Gesang geliebt, – aber daß seine Stimme der Ausbildung wert sei, war ihm 370 neu. Er fluchte seiner Armut, die es ihm unmöglich machte, in der Welt vorwärts zu kommen, und eine tiefe Verbitterung bemächtigte sich seiner. Er kam sich vor wie ein gefangener Vogel, dem man die Flügel gestutzt hat und der sich vergeblich emporzuschwingen müht. Nicht auf dem Comptoirsessel oder hinter dem Ladentische war sein Platz, – aber zu einem künstlerischen Höhenfluge spürte er die Kraft in sich, der Herkules der Arène d'hiver . . .

Noch andres kam hinzu, ihn um Stimmung und Laune zu bringen. Das Kind Carmellas war plötzlich erkrankt, und ihr Klagen und Jammern tönte ihm beständig im Ohre wieder. Sie hing an dem Kleinen mit zärtlichstem Mutterherzen, und auch Fritz hatte das süße Bürschchen mit seinen großen, schwarzen, verwunderten Augen herzlich lieb. Seit gestern früh nun war der Junge unruhig geworden und zeigte Fieberneigung, die sich gegen Abend verstärkte, so daß Carmella es für geboten erachtete, am heutigen Morgen zum Arzte zu schicken, der eine leichte Entzündbarkeit der Luftröhre konstatierte und die erforderlichen Gegenmaßregeln anordnete; er hielt das Krankheitsbild an sich nicht für bedenklich, schärfte der Mutter und Wärterin aber trotzdem die größte Vorsicht ein, da der Kleine noch in sehr zartem Alter stehe und Erkrankungen des Halses und der Luftwege gegenwärtig in ganz Paris epidemisch seien.

Carmella, die in der Generalprobe für die heutige Premiere mitwirken mußte, hatte sich nach Beendigung derselben in fliegender Hast die Trikots vom Leibe gerissen und mit ihrer Straßentoilette bekleidet. Dann eilte sie vor die Garderobe Fritzens und klopfte an.

371 »Ich bin es, Fritz!« rief sie durch die Thür. »Begleitest du mich?«

Fritz öffnete, – auch er hatte bereits das Kostüm gewechselt.

»Selbstverständlich,« entgegnete er, sich den Mantel zuknöpfend; »ich ängstige mich nicht minder als du um den Jungen« . . .

Sie stiegen vor dem Theater in eine Droschke und fuhren nach der Wohnung Carmellas. Die besorgte Mutter flog förmlich die Treppe hinauf. Im Vorderzimmer trat ihr die Wärterin, eine hübsche blonde Dänin, ein treues und anhängliches Geschöpf, mit auf den Mund gelegtem Finger entgegen.

»Er schläft Madame,« flüsterte sie, »– pssst!« . .

372 Carmella schlich sich auf den Zehenspitzen in das Nebengemach. Das Fenster war hier verhängt, Dämmerlicht herrschte im Zimmer. Neben dem Bette Carmellas stand die Wiege des Kindes. Die Kleine schlief, aber es war kein gesunder, erquickender Schlummer, – jeden Atemzug begleitete ein leises, surrendes Röcheln. Das süße Gesichtchen war von fieberischer Röte bedeckt, die Händchen lagen geballt, aber von Zeit zu Zeit nervös zuckend, dicht an den Wangen.

Carmella blieb lauschend vor der Wiege des Jungen stehen und starrte ihn unverwandt mit thränenerfüllten Augen an. Ihr Herz war von Jammer überlastet; sie hätte schreien können. Sacht sank sie in die Knie, bekreuzte sich und faltete die Hände in fast krampfhafter Umschlingung. »Maria und Josef,« betete sie mit unhörbarem Murmeln der Lippe, »schützt mir mein Kind und laßt es gesunden, und ich will gut werden und allabendlich zu Euch beten wie früher« . . .

Sie erhob sich wieder und beugte sich zu dem Kleinen herab. Sein rotes Mündchen wölbte sich ihr entgegen, – was hätte sie nicht darum gegeben, ihn küssen und herzen zu dürfen, – das liebe Geschöpf an die Mutterbrust zu betten und ihm den Odem ihrer eigenen üppigen Lebenskraft einzuflößen! – Aber still! – der Kleine regte sich, – er mußte ja weiterschlafen . . . Und sie schlich in das Vorderzimmer zurück.

Hier stand Fritz im Gespräche mit der Wärterin am Fenster.

»Nun?« fragte er. »Wie scheint dir sein Befinden –?«

Statt aller Antwort warf sie sich, ohne der Wärterin 373 zu achten an seine Brust und schluchzte laut und heftig. Im Nebengemach begann gleich darauf der erwachte Kleine heiser und jämmerlich zu schreien – ein Schreien aus armer, wunder Kinderbrust. Und im Nu riß Carmella sich wieder los, stürzte in das Schlafzimmer zurück und warf sich abermals vor der Wiege nieder.

»Mein süßer Liebling – mein einziger – weine nicht, ich bin hier! Mein Herzchen, – mein alles! Weine doch nicht – weine doch nicht« . . .

»Gehen Sie hinein,« flüsterte Fritz in herrischem Ton der Wärterin zu, »und versuchen Sie, das Kind zu beruhigen. Ich werde den Doktor holen – so geht das nicht weiter!«

Er setzte den Hut auf und sprang die Treppen herab. Der Arzt wohnte nicht weit und war auf der Stelle bereit, Fritz zu begleiten. Er verhehlte ihm nicht, daß der Zustand des Kleinen ein besorgniserregender sei; direkte Gefahr liege jedoch nicht vor – bis jetzt nicht. Die Hauptsache sei, das Kind bei Kräften zu erhalten und von den Schleimabsonderungen in der Luftröhre, die erstickend wirken könnten, zu befreien.

»Es thut mir innig leid um die junge Mutter,« setzte er auf der Treppe zur Wohnung Carmellas hinzu, »– sie schien mir heut früh bei meinem ersten Besuche ganz aufgelöst zu sein vor Kummer und Schmerz« . . . Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann mit einem Seitenblick auf Fritz fort: »Sind Sie der Vater – wenn ich fragen darf?«

»Nein,« entgegnete Fritz rauh und unter Erröten; »ich bin nicht der Gatte der Signora Nera« . . .

»Ah – das vermutete ich,« fiel der Arzt, verlegen 374 werdend, ein, »ich fragte nur – pardon, mein Herr, ich hatte nicht die Absicht, indiskret zu werden!«

Sie waren vor der Thür Carmellas angelangt, und hier sagte Fritz, ehe er den Doktor einließ:

»Signora Nera ist mit einem Deutschen verheiratet, und aus dieser Ehe stammt der Kleine« . . .

Die harte Betonung, mit welcher Fritz diese Worte sprach, ließ den Arzt erstaunt aufblicken, aber er erwiderte nichts.

Seine Untersuchung war sorgfältig und währte geraume Zeit. Sein Gesicht war dabei ernst geworden, und er schüttelte mehrfach bedenklich den Kopf. Die Krankheit sei zweifellos vorgeschritten, äußerte er zu der in Thränen gebadeten Mutter, aber noch nicht alle Hoffnung vergeblich. Er habe viel schwierigere Fälle zu glücklichem Ausgang gebracht.

Er verschrieb ein Rezept, verordnete breiige Umschläge und versprach dann, gegen Abend wiederzukommen.

Carmella war eine schlechte Krankenpflegerin. Ihre leicht erregbare und leidenschaftliche Natur gestattete ihr keine ruhige Hand, keine stille, geräuschlose Emsigkeit. Dafür nahm sich Fritz mit Hilfe der sehr geschickten und zuverlässigen Wärterin des armen Kleinen an, der ihn mit den dunklen, fieberglänzenden Augen fremdartig anstarrte und mit seinen heißen Händchen in das Gesicht patschte.

Das Pulver des Arztes wirkte schleimlösend, und die Umschläge schienen dem Kinde Beruhigung zu bringen. In den ersten Nachmittagsstunden schlummerte es von neuem ein. Fritz und Carmella zogen sich in das Vorzimmer zurück.

375 »Willst du nicht etwas essen, Carmella?« fragte Fritz; »Du bist seit heute früh nüchtern und überanstrengt dazu. Vergiß nicht, daß dir am Abend noch diese unselige Theaterarbeit bevorsteht« . . .

»Ich kann nichts genießen,« gab Carmella zurück, »es würde mir im Halse stecken bleiben . . . Aber der Abend! O Gott, ich denke mit Grauen daran!«

»So bleib' hier,« entschied Fritz. »Sei vernünftig und bleibe hier! Ich werde es vor der Direktion zu verantworten wissen, werde dich als plötzlich erkrankt anmelden. Meine neuen Produktionen genügen für das Programm. Bleib' bei dem Kinde!«

»Das ist unmöglich,« fuhr Carmella auf; ihre Erregtheit steigerte sich von Stunde zu Stunde. »Nicht nur um meinetwillen, auch um deiner! Wir sind laut dem neuen Kontrakte zu gemeinsamem Auftreten verpflichtet und setzen uns hoher Konventionalstrafe aus, wenn wir schon am ersten Abend unpünktlich sind. Es geht nicht! . . . Die Pflege kann ich auch getrost Friederike überlassen, – wenn nur die Sorge nicht wäre, ob ich den Kleinen noch lebend wiederfinde! – Friederike ist eine bessere Pflegerin als ich selbst, aber diese Angst, den Jungen verlieren zu müssen, verwirrt mir die Gedanken! Mir ist, als sollte mein Herz brechen! . . . Fritz, sag' es mir ehrlich: glaubst du, daß er sterben wird?!«

Sie schaute mit Augen voll unsäglicher Qual zu ihm auf und umschlang ihn dabei.

»Ich hoffe zu Gott, er wird am Leben bleiben,« gab Fritz tonlos zurück. –

Die Stunden verrannen. Der Kleine schlummerte 376 weiter, und neues Hoffen regte sich in Carmella. Sie saß brütend, mit blassem Gesicht und heißen Augen, in einem Sessel. Von Zeit zu Zeit wandte sie sich mit einer kurzen, hastig hervorgestoßenen Frage an Fritz, sprang wohl auch einmal auf und lauschte an der offenen Thür des Nebengemachs auf das noch immer röchelnde Atmen des Kindes.

Einmal fragte sie: »Glaubst du, Fritz, daß Leopold auch so in Sorge sein würde wie ich und du, wenn er hier wäre?«

Fritz hatte Carmella, um ihr eine neue unnötige Aufregung gerade in dieser Zeit zu ersparen, noch nicht von seiner letzten Begegnung mit Krey erzählt, – er erwiderte daher nur:

»Gewiß, – ist es nicht sein Kind?!«

Carmella nagte an der Unterlippe, schwieg einige Minuten und meinte dann mit vollem Augenaufschlag zu Fritz:

»Es ist merkwürdig – und es ist vielleicht Unrecht, daß ich es sage: aber ich glaube, du, Fritz, liebst den Kleinen mehr, als der eigne Vater . . . Das macht, du hast mehr Herz als er . . . Sag' einmal, Fritz: hab' ich eigentlich Herz oder nur tierisches Empfinden?«

Fritz schaute voller Verwunderung zu ihr hinüber.

»Wie kommst du zu dieser närrischen Frage?« gab er zurück.

Sie lachte leise auf. »Ich habe neulich in einer Zeitung oder irgendwo gelesen, Mutterliebe sei nur tierischer Instinkt und gerade so verhielte es sich mit der sinnlichen Liebe . . . Das wäre doch etwas Gräßliches, wenn es wahr sein sollte! Ich habe die ganze Nacht davon geträumt, ich sei in ein Tier verwandelt worden« . . .

377 Fritz schüttelte den Kopf, und sein Blick ruhte fast mitleidsvoll auf dem seltsamen Geschöpf. War sie denn wirklich mehr als ein schönes Tier? – Die Gedankenfrage, die so plötzlich in ihm aufstieg, widerte ihn an. Er erhob sich rasch und trat an das Fenster.

»Red' nicht so thörichtes Zeug!« sagte er rauh, und sie kauerte sich betroffen tiefer in die Polster des Sessels. –

Der Nachmittag schritt vor. Vom nahen Kirchturm schlug es fünf Uhr, und dann setzte summend ein Glockenspiel ein.

»Es ist Zeit, Carmella,« sagte Fritz. »Ich bitte dich, entschließe dich kurz. Ich verspreche dir, alle Schuld auf mich zu nehmen, wenn du heut' nicht in das Theater kommst.«

»Davon kann keine Rede sein,« entgegnete Carmella, rasch einfallend, und sprang empor, »– ich komme mit!«

Sie nahm ihn am Arm und zog ihn auf die Schwelle des Schlafzimmers.

»Pst – er schläft noch immer!« – Sie beugte sich vor, um das Gesicht des Kleinen sehen zu können. Es war in Fieberglut getaucht wie vorher, dunkelrot und mit glänzenden Schweißperlen bedeckt, aber der Atem schien leichter zu gehen, das beängstigende Röcheln hatte ein wenig nachgelassen.

Carmella winkte die neben der Wiege sitzende Wärterin zu sich heran.

»Gottlob, – es scheint ja besser geworden zu sein,« flüsterte sie ihr zu. »Ich muß nach dem Theater, Friederike, – du weißt, wo es ist, und wirst sofort zu mir schicken, wenn auch nur die leiseste Verschlechterung im 378 Befinden des Kleinen eintreten sollte! Verstehst du – sofort! Der Junge des Schneidermeisters von nebenan wird dir gern den Gefallen thun und nach dem Theater kommen; er soll sich dann eine Droschke nehmen und durch den kleinen Seiteneingang gehen, der direkt nach der Bühne und den Garderoben führt. Ich werde dem Portier sagen, daß er ihn durchläßt . . . Hoffentlich passiert nichts!«

»Es wird nicht, Madame,« setze die Wärterin hinzu; »ich glaube, das Schlimmste ist überwunden, – und dann will ja auch der Arzt noch einmal wiederkommen, und ich bin ja auch hier« . . .

Carmella nickte dankbar; das Geschwätz der treuen Person beruhigte sie mehr als alles ärztliche Hoffen.

Man fuhr nach dem Theater, in dem die Vorstellungen an den Premièren-Abenden stets schon um halb sieben Uhr begannen, – im Gegensatz zu fast allen übrigen Pariser Bühnen, die sich meist erst um acht dem Publikum zu öffnen pflegen.

Die Kassen waren umlagert. Roche-Crevet, der, wie immer in glänzendem Cylinder und schwarzem Gehrock mit roter Ordensrosette, dann und wann einen Rapport einholte, hatte alle Ursache zu einem vergnügten Schmunzeln. Es gab ein ausverkauftes Haus, und mehr als das; morgen konnten die Zeitungen melden, daß »Hunderte an der Kasse umkehren mußten, weil kein Billet mehr zu haben war.«

Roche-Crevet ging in der Eingangshalle auf und ab und grüßte die Habitués und Bekannten mit respektvoller Lüftung des Huts oder vertraulichem Händedruck. Er gab sich als Gastgeber, hielt wohl auch diesen oder 379 jenen an, um mit ihm ein paar flüchtige Worte zu wechseln und dabei gleichzeitig auf geschickte Art für den Abend Stimmung zu machen. Seine geschäftliche Gewandtheit wurde nur noch durch seine Gewissenlosigkeit übertroffen.

Inzwischen drängte sich das Publikum in das cirkusartig erbaute Theater und verteilte sich in der ungeheuren Weite des mit Tischen und Stühlen besetzten Parterreraums, der Bogengänge und Galerien. Es hastete und wogte, brauste und summte durcheinander, bis sich der Lärm der Menge in den Klängen der beginnenden Ouverture allgemach verlor. –

Carmella hatte sich rasch in ihr schillerndes Kostüm geworfen, das blaßgrüne Gesicht mit Rouge übertüncht und die Frisur geordnet, hatte dann einen dunklen Radmantel um die Schultern gehängt und war in die Garderobe ihres Partners geeilt.

»Laß' mich ein!« rief sie, an die niedrige Holzthür pochend; »ich ertrage es nicht mehr vor Unruhe und Ungeduld!« . .

Fritz öffnete, und sie schlüpfte in den kleinen, von einer einzigen Glasflamme erhellten Raum und ließ sich erschöpft auf einem Schemel nieder.

380 »Ich bin in grenzenloser Aufregung, Fritz,« begann sie in ihrer hastigen Art von neuem und zog den Mantel fröstelnd dichter um die nackten Schultern, »– vielleicht wär' es doch besser gewesen, ich hätte deinem Rate gefolgt und wäre daheim geblieben!«

»Kleide dich um und gehe,« gab Fritz zurück, »es ist noch möglich! Ich werde dem Direktor melden, du seiest ganz plötzlich erkrankt« . . .

»Dann kann ich morgen früh auf meine Kündigung gefaßt sein! Roche-Crevet hat mich auch schon gesehen und Grille d'Enes, der Neidhammel, begegnete mir auf der Treppe! Nein – ich muß ausharren! Sei's d'rum, – an Mut fehlt's mir nicht, aber die Unruhe ist unerträglich! Wär' diese Hetze doch erst vorüber!«

Und sie rang die Hände und ihr Blick irrte fiebernd im ganzen Gemache umher, als suche sie nach einem Ruhepunkte.

Fritz bemühte sich, von allerhand Gleichgültigem zu sprechen, erzählte ihr von dem neuesten Coulissenklatsch und beendete dabei eilfertig seine Toilette.

»Jetzt komm',« – und er erhob sich; – »noch eine Viertelstunde, und die Sklavenarbeit ist gethan! Dann fahren wir sofort nach Hause. Sei vernünftig, Carmella, und versuche, dich zu sammeln!«

Sie stützte sich einen Augenblick auf seinen Arm und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter.

»Wär's nur erst vorüber!« wiederholte sie leise, und Fritz spürte, wie sie zitterte. –

Die Musik präludierte zu der Auftrittsnummer der Beiden Melodien aus Verdis »Troubadour«, dann ging 381 der Vorhang auseinander. Hand in Hand trat Fritz mit Carmella vor das Podium und verneigte sich. Die Claque setzte ein, – ein donnernder Applaus folgte, in der Logenreihe erhob man die Operngucker: die wundervolle Erscheinung der »Gigantessa« in ihrem knappen Kostüm erleichterte den Erfolg der Piece . . . Roche-Crevet, der im Zuschauerraum hinter einem Pfeiler stand, nickte vergnügt . . .

Die Produktionen begannen mit den gewöhnlichen leichteren Übungen, die von beiden gemeinsam ausgeführt wurden. Das Publikum war guter Laune und nahm das oft Gesehene mit Wohlwollen auf. Der Beifall steigerte sich indessen schon bei dem Übergange zu dem schwierigeren Teil der Nummer: Carmella nahm eine Eisenstange, schlug sie auf den rechten Oberarm-Muskeln ihres Partners krumm und ließ die Stange dann in das Parterre reichen, um sie dem Publikum zur Prüfung zu übergeben. Nun folgte der Glanzpunkt der Piece: der Troubadour-Tric.

Fritz ließ sich auf einem Stuhle nieder und beugte den Oberkörper ziemlich weit nach hinten über die breite und niedrige Lehne desselben. Dann legte ihm Carmella ein Brett auf die Brust und belastete dasselbe mit einer Anzahl Eisengewichte, auf die mit weißer Ölfarbe Ziffern gemalt waren, welche die Schwere jedes einzelnen Eisenstückes anzeigen sollten. Schließlich reichte sie ihm noch Geige und Bogen; Fritz stemmte das Instrument unterhalb des Bretts gegen den Leib und begann dann, während die Musik leise accompagnierte, die Manrico-Arie gleichzeitig zu spielen und zu singen.

Das war noch nicht da gewesen! Das Publikum war anfangs wie erstarrt. Trotz der kolossalen Belastung 382 der Brust klang die Stimme des Singenden klar, kräftig und schmiegsam durch den weiten Raum. Auch kein Geigenstrich ging fehl, keine Dissonanz wurde hörbar . . . Roche-Crevet schmunzelte hinter seinem Pfeiler, – das war ein Abend glänzender Siege! – Kapellmeister Legrandier ließ während des Dirigierens kein Auge von Fritz. Er war der einzige im ganzen Saale, der wußte, wie Gesundheit vernichtend diese thörichte Produktion werden konnte und welch' kostbares Stimm-Material auf so wahnwitzige Art vergeudet und verwüstet wurde. Er war auch der einzige, dessen Gesicht sich nach der schmetternden Schluß-Cadenz des Sängers in finstere Falten legte und der, während das Publikum in johlenden Beifall ausbrach, mißmutig in seinen grauen Bart murrte: »Verrückt – verrückt! Alle – alle! Der junge Mann und der heulende Pöbel! Verrückt! – verrückt!« . .

Carmella war rasch neben Fritz gesprungen, hatte ihm Geige und Bogen aus der Hand genommen und ihn von seiner eisernen Last befreit. Er stand auf und verbeugte sich lächelnd, obwohl ihm die Brust gewaltig schmerzte, und erneuter Beifall rauschte durch das Haus, der in rasende Bis- und Bravorufe und einen tollen Jubel ausartete, als sich die Gardine schloß. Dreimal mußte Fritz von neuem erscheinen, und noch immer wollte sich die Menge nicht beruhigen. Roche-Crevet war eiligst hinter die Coulissen gestürzt – die Stimmung des Publikums mußte ausgenutzt werden. Mit dem Taschentuche winkte er Fritz zu sich heran und flüsterte ihm zu:

»Zweihundert Francs Zulage – mein Wort darauf! – wenn Sie die Da capo-Nummer bringen!«

383 Und wie um seinen Worten Nachdruck zu geben klopfte er auf die rechte Brustseite seines Überrocks, wo sich hinter den Nähten der Tasche die Umrisse seines Portefeuilles abzeichneten.

»Los – los, Sterßengschèr – zweihundert Francs Zulage – mein Wort darauf! Die Telamonen-Nummer!«

Fritz zog Carmella auf die Bühne zurück, und die Gardine öffnete sich abermals. Die für alle Fälle eingeübte sogenannte Da capo-Nummer bestand aus einer gemeinsamen Produktion – einer Art Kugelspiel, das im Jargon der Artisten-Welt die etwas barock klingende Bezeichnung der »Telamonen-Nummer« trägt. Telamonen sind männliche Statuen von Giganten, die auf ihren Schultern, dem Nacken oder den emporgehaltenen Händen schwere Lasten, in der Architektur meistens Bogen und Balkone, tragen und, freistehend, die Säulen ersetzen; sie bilden also gewissermaßen die männlichen Pendants zu den Karyatiden, – eine Art Atlanten. Die »Telamonen-Nummer« der Athleten beginnt damit, daß die sich Produzierenden zunächst ein paar eiserne Kugeln, die dicht hinter ihren Füßen liegen, mit den Absätzen rückwärts in die Luft schleudern und sie dann mit dem Nacken oder mit den Händen wieder auffangen. In dieser Pose, die dem architektonischen Urbild der Telamonen und Karyatiden ähnelt, bleiben sie einige Sekunden stehen, bis die Produktion wiederholt wird oder wechselt.

In demselben Augenblick, da Fritz sich vor seiner Kugel in Position stellte und soeben im Begriffe war mit leiser Stimme das Kommando »Los!« zu geben, erbleichte er jählings. Er hatte zwischen der ersten und zweiten 384 Coulisse, von zwei Theaterarbeitern zurückgehalten, einen etwa zehnjährigen Jungen erblickt, dessen Gesicht er kannte. Ein furchtbarer Schreck durchzuckte ihn und staute alles Blut vor seinem Herzen. Das war der »Junge des Schneidermeisters von nebenan«, der Carmella Nachricht bringen sollte, wenn in der Krankheit ihres Kleinen eine Verschlechterung zu befürchten stände! – Die Wärterin hatte ihn geschickt – der arme Kleine rang vielleicht jetzt schon mit dem Tode! . . .

Fritz raffte sich zu voller moralischer Kraft zusammen, – die Produktion mußte ausgeführt werden, ehe Carmella den Jungen mit seiner Hiobspost gesehen hatte! –

»Los!«

Die Kugeln sausten empor, – dann gellte ein furchtbarer Schrei von der Bühne herab und in wilden Dissonanzen schwieg die Musik. Eine plötzliche Stille entstand, – aber unmittelbar darauf erhob sich im Zuschauerraum ein Rufen, Kreischen und Toben, – man stürmte das Orchester, kletterte auf Stühlen und Tischen am Proscenium empor . . . In wirren Massen strömte es die Galerien herab, – die Logen entleerten sich.

Wie ein Rasender stürzte Roche-Crevet auf den Inspizienten los.

385 »Klingelzeichen! Gardine zu! Courtine herunter!«

Die elektrische Glocke arbeitete gellend. Der Vorhang schloß sich, und langsam senkte sich die eiserne Courtine und sperrte den Bühnenraum vom Publikum ab. Durch eine Seitenthür im Proscenium trat Roche-Crevet vor die Rampe und winkte dem erregt tobenden Publikum, gleich einem Parlamentär vor dem Festungswalle, mit seinem weißen Taschentuche Ruhe zu. Aber er winkte vergebens; das Publikum, das nur den gellen Schrei gehört und die Gestalt der schönen Gigantessa auf dem Podium hatte zusammenbrechen sehen, gab nicht so bald Ruhe, – man schrie durcheinander, tobte und johlte . . . Endlich kam Roche-Crevet auf den guten Gedanken, von einem der Musiker im Orchester einen Trommelwirbel anschlagen zu lassen, dann schwenkte er von neuem das Taschentuch und brüllte sein »Rrruhe! Rrruhe, meine Damen und Herren!« in das Auditorium hinein.

Der Einfall wirkte, – die Wogen der Erregung glätteten sich, Roche-Crevet konnte zu Worte kommen.

»Meine Damen und Herren,« schrie er, und in der eignen Aufregung vergaß er ganz, sich Pose zu geben, »– ich bitte nur, sich fünf Minuten gedulden zu wollen, – die Vorstellung wird dann ohne Unterbrechung fortgesetzt werden! Signora Carmella Nera, die schon ein wenig leidend das Theater betrat, ist von einer leichten Ohnmacht befallen worden – einer ganz leichten Ohnmacht, die kaum schwerere Folgen nach sich ziehen dürfte! Ich bitte, sich zu beruhigen und gefälligst Ihre Plätze wieder einnehmen zu wollen, meine Damen und Herren, – die Sache hat nichts auf sich, gar nichts – ich wiederhole es Ihnen! Musik, Herr Kapellmeister!«

386 Der alte Legrandier griff, noch halb betäubt von dem Vorgefallenen, nach dem Taktstock, und die lustigen Rhythmen der Angot-Quadrille erklangen, indes hinter dem Vorhang ein gequältes Mutterherz brach . . .

Im Moment, da Carmella ihre Kugel emporschleuderte, hatte sie bei der zum Auffangen des Eisenballs notwendigen Drehung des Nackens zur Seite geblickt und den Schneidersjungen in der Coulisse erkannt. Dann kam jener furchtbare Schrei, der ein Todesschrei war . . . Nun lag sie lang ausgestreckt auf dem Teppich, der das Podium bedeckte, und Fritz kniete neben ihr und hielt den dunklen, blutenden Kopf in seinen Armen. Die Kugel hatte im Rückfall ihr Hinterhaupt gestreift und eine entsetzliche Wunde geschlagen, Fritz fühlte, wie eine warme, klebrige Masse über sein nacktes Fleisch rieselte.

Der Kreis von Arbeitern und Mitgliedern der Bühne, der sich um die Verunglückte gebildet, lichtete sich, als 387 zwischen den Coulissen die zankende Stimme Roche-Crevets hörbar wurde. Er hatte den heulenden Schneidersjungen am Rocke hervorgezerrt und schimpfte wütend auf ihn ein.

In diesem Augenblick war es Fritz, als bewegten sich die Lippen Carmellas noch einmal – ganz sacht – und als träte ein neues Leben in ihr fast erloschenes Auge zurück.

»Lassen Sie mich, mein Herr,« jammerte der Schneidersjunge, »ich kann ja nichts dafür, – der Portier hat gesagt, ich sollte nur 'raufgehen – nur immer geradeaus, die Madame müßte noch in ihrer Garderobe sein! Und ich sollte Madame doch bestellen, daß der Arzt da gewesen sei und gesagt habe, nun wäre alle Gefahr vorüber und morgen würde ihr Kleiner wieder ganz gesund sein, – sie solle sich nicht weiter ängstigen, hat mir die Friederike gesagt – und ich habe doch nicht gewußt, daß ich hier nicht herein darf« . . .

Im brechenden Auge Carmellas spiegelte sich noch einmal der Widerschein eines unbemessenen, seligen Glückes ab. Und dann verdunkelte sich ihr Blick mehr und mehr, und ganz plötzlich setzte der Atem aus. –

Der Theaterarzt hatte sich eingefunden, Polizisten kamen herzu, – ein kurzes Protokoll wurde aufgenommen, dann hüllten Theaterarbeiter die Leiche in Leinentücher, legten sie in eine Tragbahre und trugen sie von der Bühne. Zehn Minuten später rollte der Eisenvorhang von neuem in die Höhe und die Gardinen teilten sich: Grille d'Enes tanzte über den kaum verwischten Blutflecken ihren wirbelnden Cancan . . .

Fritz war, ob des gräßlichen Geschehnisses fast unfähig, seine Gedanken zu sammeln, eiligst in die Garderobe 388 gestürzt und hatte sein Kostüm gewechselt. Dann kehrte er zu der im Garderobengange niedergestellten Leiche zurück, schüttete sein Portemonnaie in die Hände der Arbeiter und trug ihnen auf, ihm in die Wohnung Carmellas zu folgen.

Als Fritz den Arbeitern mit der Bahre voran auf die Straße trat, löste sich aus dem Dunkel der gegenüberliegenden Häuserfront die Gestalt eines kleinen Mannes und eilte ihm entgegen.

»Fritz, Kleiner – ich bin es, der Hempel! . . . Ich war im Theater und habe alles mit ansehen müssen! Mein armer boy, – mein armer kleiner Fritz! Kann ich dir nicht behilflich sein, dir irgendwie nützen?« . .

Fritz hing sich an den Arm des alten Jockeys. Es dünkte ihm zu dieser Stunde wie ein Sonnenblick aus schwarzem Gewitterhimmel, einen Getreuen an seiner Seite zu haben. Er vermochte kein Wort zu sprechen, aber er preßte den Arm Hempels fest an sich und schritt dicht neben ihm die Straße hinab. –

Die Verzweiflung der Wärterin, als sie die Leiche ihrer Herrin erblickte und von dem unseligen Mißverständnisse erfuhr, dem diese zum Opfer gefallen, war grenzenlos. Sie warf sich an der Bahre nieder und schluchzte herzbrechend, indes der verwaiste Kleine nebenan in süßem Schlummer seiner Genesung entgegenging.

Um Mitternacht entfernte sich Hempel mit dem Versprechen, am nächsten Morgen wiederzukommen; Kölpins hatten noch einige Tage für den Pariser Aufenthalt zugelegt, – erst in kommender Woche wollte man sich zur Rückreise rüsten.

389 Nun blieb Fritz allein zurück bei seiner toten Freundin. Die Bahre stand mitten in der Stube; auf einem Nebentisch brannte die Lampe, – Fritz hatte sich auf das Sofa gesetzt und starrte mit glanzlosem Auge, das kein Schlummer schließen wollte, vor sich hin.

Er spürte eine entsetzliche Öde in sich, ein Gefühl tiefster moralischer Gebrochenheit. Die entseelte Hülle der schönen Carmella war die dritte Leiche auf seinem Lebenswege, seitdem er sich den Leib mit dem farbigen Flitter der Jahrmarktsgaukler behängt hatte. Zuerst Sterzinger und dessen kleine Geliebte, – nun sie! Und in der Erinnerung an all' den Jammer und an den Wust von Unrat, den er im Zigeunerleben der letzten Jahre hatte erschauen müssen, erfaßte ihn plötzlich eine heiße Wut auf alles, was unter der gleißenden Hülle dieses falschen Künstlertums lebte und atmete. Er ballte die Fäuste – und dann fiel sein Blick auf die Linnentücher, die den Körper Carmellas umhüllten, und er legte den Kopf in die Hände und weinte . . .

Die Nacht verrann, und fahl flutete das Morgenlicht durch die Fenster des Stübchens. Fritz erhob sich, weckte die an der Wiege des Kleinen eingeschlafene Wärterin und trug ihr auf, für die Waschung und würdige Bekleidung der Leiche Carmellas zu sorgen. Mit thränenden Augen versprach Friederike, alles zu thun, was nötig sei, ihrer verstorbenen Herrin die letzte Ehre zu erweisen. Fritz nahm Hut und Mantel und streifte indessen ruhelos durch die Straßen des Viertels.

Es war Tag geworden, als er nach Hause zurückkehrte – blaß, übernächtig und um den Mund einen harten, 390 tief eingegrabenen Zug, der seinem Gesicht ein völlig verändertes, charakteristisches Gepräge gab: das einer gereiften Männlichkeit.

Friederike hatte die Wiege des Kleinen in die Vorderstube geschoben und die Leiche mit Hilfe der Nachbarsleute auf das Bett Carmellas geschafft. Das Gesicht der Toten war nicht entstellt; der Ausdruck seligen Mutterglücks, der sich in ihrem brechenden Auge wiedergespiegelt, schien noch immer in sanftem Abglanz auf dem schönen Antlitz zu ruhen.

Gegen zehn Uhr kam Hempel erregt und in Hast mit einer unerwarteten Botschaft auf das Zimmer. Er habe dem alten Herrn Grafen von dem traurigen Vorfall erzählt und durch ihn habe wiederum Gräfin Katinka davon gehört. Die Herrschaften seien unten im Wagen, – sie bäten, die Tote und das Kind sehen zu dürfen, sie nähmen innigen Anteil an beiden.

Und dann stiegen die Herrschaften die vier Treppen hinauf, reichten Fritz mit freundlicher Begrüßung die Hand und traten in das Zimmer, in dem Carmella aufgebahrt lag. Gräfin Katinka hing fest am Arme ihres Schwiegervaters und schaute der Toten lange in das blasse Gesicht, und wohl mochte die Erinnerung an das Glück, das dieses blasse Gesicht und die geschlossenen Augen ihr dereinst gestohlen, mächtig in ihr wühlen, denn ihr Blick verschleierte sich und voll tiefer Bewegung wandte sie sich ab.

Graf Klaus erkundigte sich bei Fritz noch einmal nach allen Einzelheiten des traurigen Begebnisses, räusperte sich dann etwas verlegen unter seinem seidenen Foulard und fragte schließlich:

391 »Ist es Thatsache, lieber Herr – lieber Herr Fiedler, daß der Baron Leopold Krey nach den Formen des Gesetzes mit der – mit der Unglücklichen verheiratet gewesen ist –?«

»Thatsache, Erlaucht,« entgegnete Fritz, »wie der unter den Papieren der Verstorbenen befindliche Trauschein beurkunden wird.«

»Und – und der arme Kleine in der Wiege nebenan ist das rechtmäßige Kind aus dieser Ehe?« fuhr Graf Klaus zögernd fort.

»Das rechtmäßige Kind aus dieser Ehe,« wiederholte Fritz mit starker Betonung.

Der Graf, der sich mit dem Rücken gegen das Fensterbrett gelehnt hatte, richtete sich würdevoll auf, und sein vornehmes Greisenantlitz wurde noch ernster als zuvor.

»Sie wissen,« sagte er, »daß der Baron Leopold Krey im Auslande weilt und – schwerlich zurückkehren dürfte; der Kleine steht also verwaist auf der Welt. Da 392 die Kölpins in verwandtschaftliche Beziehungen zu den Kreys getreten sind, so ist es unsre Pflicht, uns des kleinen Burschen anzunehmen. Ich habe bereits mit meinem Sohne und meiner Schwiegertochter über die Angelegenheit gesprochen: wir sind gewillt, das Kind so erziehen zu lassen, wie es dem Namen, den es trägt, zukommt; wir wollen, daß ein braver Mensch aus ihm werde!«

Und ohne eine Entgegnung Fritzens abzuwarten, trat der Graf in das Vorderzimmer zurück. Da saß Katinka auf einem niedrigen Sessel neben der Wiege des Kleinen, hielt ihn in ihren Armen und herzte und küßte ihn. Auf ihrem seinen und zarten Gesicht lag eine lichte Röte, und in ihrem Auge glänzte etwas wie die Ahnung kommenden Mutterglücks. Der kleine Bursche aber, der die gefährliche Krisis der Krankheit völlig überstanden hatte, lachte ihr aus dem Steckkissen mit seinen dunklen Augen freundlich entgegen, und seine rosigen kleinen Fäuste patschten vergnügt in die Luft.

Ein Lächeln flog über das Gesicht des alten Grafen beim Anblick des reizenden Bildes. Er trat an seine Schwiegertochter heran, beugte sich tief zu ihr hinab und legte seine Hand auf ihren welligen Scheitel.

»Er soll der unsre werden, der süße, kleine Bursche,« sagte er mit leiser Stimme, »und soll nie fühlen, daß er ein Waisenkind ist!« –

Schon am Nachmittage sollte Friederike, die man vorläufig zur Pflege des Kleinen behalten wollte, mit diesem nach dem Grand Hôtel übersiedeln. Dann verabschiedeten sich der Graf und die Gräfin von Fritz. An der Thür wandte sich der erstere noch einmal um.

393 »Sie werden mir verzeihen, Herr Fiedler,« sagte er, »wenn ich die Bitte an Sie richte, die Sorgen für das Begräbnis der Verstorbenen mir zu überlassen. Sie hat den Namen Krey geführt und soll würdig beigesetzt werden.«

Fritz verneigte sich schweigend. –

Am Nachmittage fanden sich abermals Polizeibeamte ein, und die protokollarischen Scherereien begannen von neuem. Fritz hatte sich ihrer kaum erledigt, als es die Treppe hinaufstürmte und Roche-Crevet in das Zimmer trat.

»Ich bin in fliegender Hast,« meinte er und fächelte sich mit den abgezogenen Handschuhen Luft zu, »– war bereits in Ihrer Wohnung, fand Sie dort leider nicht vor, – ahnte aber schon, daß Sie hier weilen würden und ließ mich deshalb ungesäumt herfahren . . . O, mein lieber Herr Sterßengschèr, welch Unglück! Auch für mich, lieber Herr Sterßengschèr, denn Carmella Nera war eine große Künstlerin, für die nicht so leicht Ersatz zu schaffen ist! Ein Unglück mit folgenschweren Weiterungen! Mein ganzes Programm ist zerstört, – ich möchte behaupten, die Zukunft meines Instituts steht auf dem Spiel, denn die Blätter werden natürlicherweise die ganze schaudervolle Angelegenheit in all' ihren Einzelheiten breit treten und werden noch mancherlei hinzudichten, hinzu erfinden! O diese Zeitungen! Brauchte ich sie nicht, – wahrhaftig, ich würde jedem Journalisten den Eintritt in die Arena verbieten! Aber man braucht dieses Volk! Man braucht es – leider, leider! . . . Sagen Sie, mein guter Herr Sterßengschèr,« – und Roche-Crevet drängte sich schmeichelnd dichter an Fritz heran und klopfte wie absichtslos auf die Brustgegend seines Rockes, wo seine Brieftasche saß –, 394 »sagen Sie: Sie produzieren sich doch heute abend wieder in Ihrer prächtigen Troubadour-Nummer – was? . . Das Publikum erwartet es zuversichtlich – es war ja ganz außer sich am gestrigen Abend! Ich mache Ihnen übrigens noch nachträglich mein Kompliment, Herr Sterßengschèr, – die Produktion ist einfach vollendet! Gigi Rollon, – wissen Sie, der berühmte bretonische Athlet, der im vorigen Jahre in den Folies bergères solch' Aufsehen erregte, – würde es Ihnen nicht nachmachen können! Nein, das würde er nicht! . . Also nicht wahr: Sie lassen mich nicht im Stiche und zeigen sich in der Troubadour-Nummer? Unter uns: ich belasse Ihnen die volle Gage, – trotz des Todes – o, des bedauernswerten Todes Ihrer Partnerin!« . .

Mit einer heftigen Gebärde des Ekels wandte Fritz sich ab.

»Ich trete überhaupt nicht mehr auf, – nie wieder!« stieß er brüsk hervor.

Roche-Crevet schrak zurück, – er glaubte nicht recht gehört zu haben, aber er erblaßte doch unwillkürlich. Der »Troubadour mit der eisernen Brust« sollte auf seinem Programm fehlen –? Das war ja eine Unmöglichkeit, ein barer Unsinn! Roche-Crevet war darauf gefaßt gewesen, Fritz würde ihn um einige Tage Urlaub ersuchen, und er hatte sich bereits fest vorgenommen, ihm diese Bitte rundweg abzuschlagen, ihn mit List oder Gewalt schon heute abend wieder auf die Bühne zu locken, – und nun sprach dieser entsetzliche Mensch davon, überhaupt nie wieder aufzutreten!

Nie wieder?! Ja, war denn der Sterzinger junior 395 über Nacht verrückt geworden? Wozu gab es denn Kontrakte auf der Welt! –

Roche-Crevet wirbelte mit seinen Handschuhen in der Luft herum.

»Pardon, lieber Herr Sterßengschèr,« sagte er, noch immer in seiner süß höflichen Weise, »– ich habe nicht ganz verstanden! Ich erlaubte mir nur eine Bitte, nur eine Bitte, verehrter –«

Fritz wandte sich rasch nach ihm um und schnitt ihm das Wort ab. Über sein Gesicht huschte eine dunkle Flamme, sein Auge sprühte.

»Geben Sie sich keine Mühe, mich zurückzuhalten, Herr Roche-Crevet,« sagte er in wachsender Erregung. »Ich trete nicht wieder auf, – auf Ihrer Bühne ganz sicher nicht! Eher will ich zu Grunde gehen, eher Hungers sterben, als auf denselben Brettern, auf denen sich ein armes Weib zu Tode verblutete, meine Narrenrolle weiterspielen! Suchen Sie sich einen neuen ›Troubadour‹ und einen neuen Herkules! Ich schenke Ihnen die Trikots und die Lappen und Fetzen und die Eisenkugeln, die noch in meiner Garderobe liegen – mein Nachfolger mag sie benutzen! Mit meiner Herkulesrolle ist es vorbei, – die Kraft ist mir ausgegangen. Und damit Gott befohlen, Herr Roche-Crevet!«

Er schritt an das Fenster und legte die Stirn an die Scheiben.

Roche-Crevet wagte kaum noch zu atmen, er war starr und fassungslos. Dann stieg ihm plötzlich Grimm und Ärger zum Hirn; er schlug mit den Handschuhen auf den Tisch und lachte höhnisch auf.

396 »Und Ihr Kontrakt, mein Herr?!« schrie er heiser. »Sind wir gesetzlos?! – Und die Konventionalstrafe – hehe?«

Fritz fuhr jach herum. Seine Hand deutete nach der Thür.

»Klagen Sie!« rief er, »thun Sie, was Sie, was Sie wollen, aber verlassen Sie mich!«

Roche-Crevet knirschte. Er riß den Hut vom Tische und warf Fritz einen Blick wütenden Hasses zu.

»Ich gehe schon,« sagte er, »aber, mein Freund, wir sehen uns wieder! Oho – wir werden uns wiedersehen! Sie werden zu Kreuze vor mir kriechen und glücklich sein, meine Bühne von neuem betreten zu dürfen!«

»Ich will ehrlos sein zeitlebens, thu' ich das je!«

Krachend fiel die Thür ins Schloß. Fritz aber atmete hoch auf und sein Blick wurde heller. Eines von jenen Zielen, die er mit Tom Price erträumt und erstrebt, hatte er erreicht: er hatte mit der Vergangenheit gebrochen.

* * *

Als Fritz am Abend dieses Tages, um nach seiner 397 Wohnung zurückzukehren, über den hell erleuchteten Boulevard St. Michel schritt, fiel ihm im Schauladen einer Kunsthandlung die Photographie eines jungen Weibes auf, in dessen schönen Zügen er eine entschiedene Ähnlichkeit mit Fanny zu entdecken vermeinte. Das Bild stand in einer Reihe von Kabinettphotographien meist hervorragend schöner weiblicher Köpfe auf einer Etagere im Fenster.

Die Ähnlichkeit frappierte Fritz so, daß er in den Laden trat, sich die Photographie kaufte und dabei den Kunsthändler fragte, ob er zufällig wisse, wen das Bild darstellen solle.

Der Mann zog die Achseln hoch.

»Ich bedaure aufrichtig,« erwiderte er höflich, »ich habe die ganze Kollektion erst vor wenigen Tagen als Galerie schöner Frauenköpfe aus Prag bezogen. Es sind wohl durchweg Aufnahmen mehr oder weniger bekannter Schauspielerinnen . . . Die Namen kenne ich nicht, – meine Kunden interessieren sich auch mehr für die Gesichter als für die Namen, mein Herr« . . .

Fritz nahm das Bild mit nach Hause und betrachtete es dort noch einmal lange, sehr lange, ehe er es zu dem Briefe Fannys legte, den er vor Monaten von ihr erhalten hatte. Er faßte es als ein günstiges Omen auf, gerade an diesem heutigen Tage an diejenige erinnert worden zu sein, die er im regellosen Leben einer ganzen Reihe von Jahren nicht hatte gänzlich vergessen können, weil sein Herz an ihr hing. 398

 


 


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