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Der kleine, im Laufe der Jahre ziemlich schäbig gewordene Regulator aus Mahagoni, der über dem Pulte des ersten Buchhalters hing, begann leise zu schnarren und schlug dann mit blechern klingender Glockenstimme an. Ein Uhr – Mittagszeit! Und die Federn, die bisher emsig und in ununterbrochener Arbeit über das Papier geflogen waren, hielten plötzlich inne, ein Aufatmen ging durch den ganzen Raum. Der erste Buchhalter klappte geräuschvoll den mächtigen Folianten zu, über dem er bisher gebrütet hatte wie eine pflichteifrige alte Klucke über dem Eierneste, wischte sich die Stahlbrille ab, nahm verstohlen eine Prise und griff dann eiligst nach Hut und Überrock, um zu der Mittagsmahlzeit in der Weißbierstube nebenan auch nicht um eine Minute zu spät zu kommen.
Er war immer der erste, der beim Schlusse der Geschäftsstunden das Bureau der Holz- und Kohlenhandlung von Leo Leppiehn, Berlin SW., Zimmerstraße 13 parterre, verließ, und man konnte es ihm nicht übel nehmen, daß er sich so schnell als möglich aus dem zwar mäßig großen, aber niedrigen, stets halbdunkeln und 399 von dumpfer Luft erfüllten Hofzimmer, welches das Comptoir der Firma bildete, hinaussehnte. Trotz dieser menschlichen Anwandlung war Herr Fichte aber ein gestrenger Herr, der sein Bureaupersonal in Zucht und Ordnung hielt und bisweilen sogar seine kleinen tyrannischen Launen zeigte; die Physiognomie des Comptoirs änderte sich denn auch jedesmal blitzähnlich, sobald Herr Fichte die Thür hinter sich geschlossen hatte. Heute, wie immer.
Der alte Buchhalter war kaum verschwunden, als Leben in die Schreibmaschinen hinter den alten, von Würmern angefressenen Pulten kam. Der kleinste Schreiber, ein sechzehnjähriger Bengel und eine echte Berliner Pflanze, hatte nichts Eiligeres zu thun, als sich auf seinem lederüberzogenen Drehsessel auf den Kopf zu stellen und mit den Beinen in der Luft herumzufuchteln. Sein nur um zwei Jahre älterer Nachbar changierte währenddessen in einer Art wilden Krakowiaks durch das ganze Zimmer, und ein dritter Angestellter jauchzte in hellen Fisteltönen den jüngsten Gassenhauer in die Luft. Nur einer, ein großer blonder Mensch mit sehr hübschem, ernstem Gesicht, saß noch tief über seiner Arbeit und malte Buchstaben auf Buchstaben mit gleichmäßig schöner Handschrift auf das vor ihm liegende Papier: »Preßkohlen, an 10 000 Stück = M 60, – 20 Centner Nuß-Steinkohlen = M 27,50 – Buchenholz, 6 Meter, vierschnittig = M 75 – Patent-Feueranzünder, an 5000 Stück = M " – –
Der Schreibende schaute von der Rechnung, die er auszufüllen im Begriffe stand, auf.
400 »Sind nicht die Feueranzünder seit dem ersten September heruntergegangen, Schindler?« fragte er. »Fichte hat sie noch mit fünf Mark fünfzig pro Mille notiert« . . .
»Dieser pp. Fichte dürfte seinen Rest von Verstand bald völlig in Weißbier ersäuft haben,« erwiderte der Angeredete, der Sänger von vorhin; »er wird immer duseliger. Natürlich sind die Anzünder heruntergegangen – die Konkurrenz ist ja rasend geworden – im letzten Vierteljahr sind fünf neue Patente angemeldet worden! Schwerebrett, ich möchte mich aufs Erfinden legen, – dabei ist noch etwas zu verdienen! Wissen Sie, wieviel unser Chef als erster, der die Feueranzünder vor acht Jahren eingeführt hat – er hatte das Patent irgend einem armen Teufel für eine Lumperei abgekauft – wissen Sie, wieviel er aus der Geschichte herausgeschlagen hat? An eine viertel Million, sage ich Ihnen – Mark natürlich, aber ich würde auch schon mit einer viertel Million Groschen zufrieden sein!«
»Ich nehme sie auch,« entgegnete der am Pulte und tauchte die Feder ein; »also was kostet das Mille –?«
»Viere fünfundzwanzig,« gab Schindler zurück und schlüpfte in seinen Paletot, indes sich auch die übrigen zum Fortgehen rüsteten. »Nun aber punktum, Fiedler, – seien Sie nicht so nachahmenswert fleißig! Wo essen Sie heute? Kommen Sie mit zum Herzog von Lichtenhain? – Ach, hören Sie, der hat seit einigen Tagen eine neue Kellnerin, der man wirklich alle Hochachtung zollen könnte, wenn sie nicht so furchtbar unnahbar wäre! Ein entzückendes Mädel mit solchen Augen« – er 401 malte ein Rad in die Luft – »und prachtvoller Figur! Käthe heißt dies Ideal.«
»Legen Sie Käthe meine Bewunderung zu Füßen,« sagte Fiedler lachend, »ich selbst kann es leider nicht. Sie müssen sich schon allein weiter an dieser Schönheit betaumeln.«
»Ah – das ist schade! Sie kommen nicht mit?«
»Ich habe einen Besuch zu machen, der sich nicht gut aufschieben läßt.«
Der andere bedauerte nochmals, grüßte dann freundlich und ging zu seiner Käthe.
Fiedler legte die Feder fort, schloß seine Bücher ein und rüstete sich gleichfalls. Das kleine, sehr bescheidene Stübchen, das er bewohnte, lag unweit des Comptoirs von Leo Leppiehn – er hatte es erst vor kurzem gemietet, um auf dem Wege vom Geschäft nach Hause möglichst wenig Zeit zu verlieren, denn er gebrauchte seine freie Zeit in jeder Stunde.
Er beeilte sich heute mehr als sonst. Nur einmal blieb er unterwegs stehen – vor einem Bäckerladen. Er schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um, ob keiner seiner Comptoirbekannten zufällig in der Nähe sei, dann huschte er rasch in den Laden hinein und kaufte sich einige Schrippen, die er in seinen Taschen verbarg. Dann ging es eiligst weiter, – durch den offenen Thorweg einer fünfstöckigen Mietskaserne quer über den Hof in ein Seitengebäude und vier schmale schwarzgraue Stiegen hinauf.
Es war nicht viel mehr als eine Mansarde, das niedrige Stübchen, in dem Fritz Unterkommen gefunden 402 hatte. Die eine Wand stieß in schiefem Winkel an ihre Nachbarn an, und durch das einzige Fenster sah man über einem Chaos von Dächern, Schornsteinen und Telephongerüsten, einem lustigen Wirrwarr, der sich beim Mondenscheine gar phantastisch ausnehmen konnte, nur einen schmalen Strich Himmel. Bett, Stuhl und Tisch und eine alte Kommode bildeten das Mobiliar, aber über der Kommode hing ein Stück Erinnerung – ein Neu-Ruppiner Bilderbogen, der letzte, der Fritz von seinen kolorierten Schätzen aus dem Pastorate von Klein-Busedow verblieben war. Die andern waren verloren gegangen, einen – Garibaldi mit dem Rubens-Barett – hatte Tom Price als Andenken mit hinüber nach England genommen. Auch das Überbleibsel war nicht mehr in sonderlicher Frische erhalten; die eine Ecke war abgerissen, so daß man von dem »Elefanten in Indien« nur noch die Füße sehen konnte, und auf dem Fell des Zebras schimmerte ein großer Fettfleck. Aber trotz der abgerissenen Ecke und des Fettfleckes auf dem Zebrafell liebte Fritz den alten Bilderbogen doch mit fast rührender Zärtlichkeit, mit einer Art sentimentaler Pietät; er sah etwas von einem Fetisch in ihm und stäubte ihn allmorgendlich, wenn er sein Zimmer aufräumte, säuberlich mit einem Tuche ab, um ihn vor den weiteren Einflüssen der rauh vernichtenden Zeit zu bewahren.
Fritz nahm seine Semmeln aus der Tasche, zog dann die Kommode auf und holte aus dem ersten Schubfache einen eingewickelten Wurstzipfel hervor, den er in Scheiben schnitt und mit einer der Schrippen fast gierig verzehrte. Er hatte einen wütenden Hunger, aber keine 403 Zeit, ihn vollauf zu befriedigen; Professor Schmidt wartete nicht – und mit leerem Magen sang es sich immer noch besser als mit gefülltem . . .
Fritz klopfte das Herz stärker, da er der nächsten Stunden gedachte. Er wechselte seine Kleidung, legte den dürftigen Comptoirrock ab, zog sein schwarzes Jackett an und trat dann vor den kleinen Spiegel, um sich das Haar zu scheiteln und den Bart zu bürsten. Um Wangen und Kinn sproßte ihm jetzt ein blonder üppiger Vollbart; er hatte etwas wild zu werden gedroht, drum hatte Fritz am gestrigen Abend einen Fünfziger geopfert und sich die Manneszier im Friseurladen fein nach der Mode zurechtstutzen lassen. Er wollte »anständig« vor dem Professor erscheinen, nicht als Naturmensch. Der Professor gab etwas auf das Äußere – Fritz wußte das, und während er mit der Bürste glättend das Haar strich, begann das Herz 404 wiederum lauter zu schlagen – tick – tick – tick, wie eine Uhr . . .
Dummes Herz, sei doch still! Hast doch so manche Prüfungsstunde durchlebt und hast nicht so thöricht geklopft! Still, Herz, und mutig – wie einst unter den Eisengewichten und wie am Grabe der Liebe! –
Die Last, die ihm das Herz bedrückte, als er zum letztenmal im feuchten Herbstnebel am Grabe Carmellas auf dem Kirchhofe von Montmartre stand, war freilich noch schwerer gewesen als das Plastron des »Troubadours mit der eisernen Brust«! . . . An die zwei Jahre lagen zwischen damals und heute, aber wären es auch hundert Jahre gewesen, – Fritz hätte jenen regendurchschauerten Herbsttag nicht vergessen. In einem pomphaften Sarge, den Graf Klaus Kölpin bestellt, hatte man das unglückliche Weib nach dem Friedhofe gefahren. Hier warteten bereits die beiden Kölpins und Gräfin Katinka am offenen Grabe. Leise und eintönig rieselte es vom Himmel herab und ebenso eintönig und wie gelangweilt durch die Monotonie des Tages sprach der Geistliche seine Gebetsworte in den Regen hinein. Dann fielen die Schollen polternd auf den Sarg hinab, – die Totengräber schaufelten die feuchte Erde zu einem Hügel zusammen, über den der geistliche Herr noch einmal segnend seine Hände ausbreitete und ein letztes Amen murmelte . . . Fritz blieb noch einige Minuten allein am Grabe zurück. Er betete nicht, aber das, was in diesen Minuten durch seine Gedanken ging, war so gut wie ein Gebet . . . Es sah schauerlich herbstlich aus im Umkreise. Der Regen streifte die gelben Blätter von Baum und Strauch und wühlte 405 sich in die zerfallenen Georginen, Astern und Herbstrosen ein, mit denen liebende Hände die nächsten Gräber geschmückt hatten. Auf dem ganzen Friedhofe war kein Mensch zu sehen, – Fritz stand vereinsamt vor dem frischen Hügel, der seine Liebe barg, seine erste glühende Liebe und die erste schwere Sünde seines Lebens. Wie er mit brennendem, doch thränenlosem Auge auf den gelben, grobkörnigen Sand des Grabes blickte, tauchten in seinem arbeitenden Hirn noch einmal alle Stadien dieser Liebessünde auf, alle Einzelheiten – von seiner ersten Begegnung mit Carmella an bis zu dem verhängnisvollen Abend im Restaurant Civré, wo ihr heißer Kuß das Gift der Leidenschaft in seine Seele trug.
Es war etwas Eignes um diese Leidenschaft gewesen. Es hatte Stunden gegeben, in denen es Fritz wie ein wilder Haß gegen Carmella überkam, aber es war doch kein Haß, sondern nur ein Gefühl der Scham darüber, daß er dies Weib, das nach Gesetz und Recht einem anderen angehörte, so rasend lieben konnte. Rasend –, das war der rechte Ausdruck für die zügellose Leidenschaft, die der erste Kuß Carmellas in ihm entfacht hatte. Seine Liebe war wirklich nur eine Raserei der Sinne gewesen, und da auch im ruhelosen Umherzigeunern Charakter und Seele in ihm noch nicht Schiffbruch gelitten hatten, so empfand er in stillen Stunden das moralisch Widrige seiner Leidenschaft oft genug tief – um so tiefer, als er das Bewußtsein hatte, daß die Fesseln, die ihn in neuster Zeit an Carmella ketteten, fester waren als Stahl und Eisen. Im langen und innigen Verkehr mit dem ungemein feinfühligen Tom Price hatte sich auch das 406 Empfindungsleben Fritzens subtiler ausgebildet – und so glaubte er denn zuweilen sein Verhältnis zu Carmella wie eine Art folternden ästhetischen Mißbehagens fühlen zu müssen. Es drückte auf ihn – mehr noch, als seine ganze soziale Stellung und sein Beruf ihn bedrückte, – doch seine Leidenschaft war stärker als der Wille, sich frei zu machen. Seine Leidenschaft beherrschte ihn. Wie oft dachte Fritz nicht in dieser Zeit, in der sich, so kurz bemessen sie auch war, ein Prozeß neuer Wandlung in ihm vollzog, an die Mahnungen Toms zurück! Und dann kochte die Wut in ihm auf, und um nicht in das glänzende Auge Carmellas schauen und ihre Stimme hören zu müssen, griff er nach Hut und Stock und eilte ins Freie – weit hinaus in die äußerste Vorstadt, wo sich an die Ringbefestigungen der Capitale die Villen-Kolonien mit ihren im Herbstschmucke prangenden Gärten und Anlagen anschlossen . . .
Nun hatte der Tod die Ketten gesprengt, die er zu lösen zu schwach gewesen war. Im Nebelgeriesel war Carmella zur Erde gebettet worden, und er stand thränenlos an ihrem Grabe. Er betrauerte sie tief und mitleidsvoll, nicht aber die Schicksalswendung, die sie aus dem Leben gerissen hatte. Es dünkte ihm gut für sie, daß sie gestorben, ehe sie im Schlamme erstickt war. Für ihn aber, der an dem halb entblätterten Rotdorn vor ihrem Grabe lehnte und mit starrem Auge die Kiesel zu zählen schien, die den Hügel deckten, war ihr Tod Erlösung und Befreiung gewesen. Denn auch ihn hätte sie, die ihn mit tausend Polypenarmen der Leidenschaft umstrickte, hinabgezogen in den erstickenden Schlamm. –
407 Als Fritz an jenem Begräbnistage in seine Wohnung zurückkehrte, erwartete ihn dort ein Stadtsergeant mit einem Haftbefehle. Roche-Crevet hatte denselben gegen ihn ausfertigen lassen; da Fritz drei Tage lang nicht aufgetreten war, so galt der Kontraktbruch als erwiesen, und da Fritz fernerhin Ausländer war und fluchtverdächtig erschien, so mußte dem Ansinnen des Direktors, der gesetzlichen Anspruch auf die kontraktlich stipulierte Entschädigungssumme hatte, polizeilicherseits nachgegeben werden. Fritz wurde vorläufig im Untersuchungsgefängnis untergebracht, in dem er möglicherweise eine ganze Spanne Zeit hätte vertrauern können, wäre ihm der alte Hempel nicht schon am nächsten Tage als Retter in der Not erschienen. Die Kölpins wollten nun wirklich abreisen, und Hempel kam, seinem little boy Lebewohl zu sagen. Er war nicht wenig erstaunt, als er durch Fritzens Wirtin von dessen neuem unfreiwilligem Aufenthalt hörte, und er zögerte nicht, unter Beihilfe des Grafen Wendelin, der an seinem ehemaligen Stalljungen noch etwas gut zu machen hatte, ein Arrangement mit dem Direktorium der Arène d'hiver zu treffen und Fritz aus seiner unangenehmen Klausur zu befreien.
Zwei Tage danach saß der verabschiedete Herkules auf der Bahn und dampfte der deutschen Grenze entgegen. Er hatte Rechnung mit sich selbst gemacht, hatte einen Strich unter das Facit seines bisherigen Lebens gezogen, wollte ein neues Konto beginnen. Der Zukunftsplan, den er sich entworfen, lag fest und in bestimmten Umrissen vor ihm, und in heimlicher Stunde hatte er sich, im Gedanken an den einzigen Freund, den 408 er sich im Vagabundenleben erworben, fest zugeschworen, nicht einen Schritt weit von dem Wege abzuweichen, der ihn dem Ziele zuführen sollte – ob früher oder später, – gleichviel! –
Und er hatte gedarbt und gehungert in Berlin, um seinem Ziele näher zu kommen. Nach unsäglichen Bemühungen war es ihm endlich gelungen, eine kleine Comptoirstellung in dem Holz- und Kohlengeschäft von Leo Leppiehn zu erlangen; sie brachte ihm herzlich wenig ein, aber immerhin genug, um sein Leben zu fristen und um in den wenigen Mußestunden, die ihm verblieben, an seiner musikalischen Ausbildung weiter zu arbeiten. Kurz vor seiner Abreise aus Paris war er noch einmal bei dem alten Legrandier gewesen, um von ihm ein ehrliches Schlußurteil über seine Stimme zu hören. Und Legrandier hatte ihm wiederholt, was er ihm schon mehrfach gesagt: daß sein Organ nur der Ausbildung und der Schulung bedürfe, um zu »Hoffnungen nicht gewöhnlicher Art zu berechtigen«, wie der Kapellmeister der Arène d'hiver sich vorsichtig ausdrückte. Fritz wußte, daß Legrandier ihm nicht nur wohl wollte, sondern daß er auch ein Mann war, der es ehrlich meinte und der nicht um des Anscheins liebenswürdiger Gesinnung halber eine Phrase sprach. Und so entschloß sich denn Fritz, den Versuch, sich einen neuen Lebensberuf auf Grund seiner musikalischen Begabung zu suchen, mutvoll zu wagen. Eine Harlekinade, jener Herkules-Tric vom »Troubadour mit der eisernen Brust«, hatte seine alte, fast erloschene Neigung für die Musik von neuem geweckt – und mit fieberndem Eifer und glühender Passion bildete er zum Studium aus, was 409 ihm in sorgenlosen Kindertagen die unbemessen freie Zeit verkürzen half.
Der erste Gesangslehrer, den er in Berlin gefunden hatte und der sich seiner gegen geringes Entgelt annahm, war an einer Mädchenschule dritter Ordnung angestellt und so sehr mit Arbeit überlastet, daß er Fritz eines Tages selbst erklärte, er könnte sich nicht in dem Maße mit ihm beschäftigen, wie seine Stimmmittel es verdienten. Fritz mußte sich demzufolge nach einem neuen Lehrer umsehen, der ihm denn auch mit Hilfe eines alten guten Bekannten, des ehemaligen Schauspielers und gegenwärtigen Anmessers bei Landré und Bonnheimer, des wackeren Herrn Mausebrei, zugeführt wurde. Herr Mausebrei, mit dem Fritz zufällig eines Tages auf der Straße zusammentraf und der in hohem Maße begeistert that, seinen einstigen Schützer und Schützling wiederzufinden, stand nämlich in gutem Rufe bei Erich Schilling, dem Organisten der Dreifaltigkeits-Kirche. Herr Schilling war ein tüchtiger Musiker und ein Gesangslehrer, dessen Praxis als nicht unbedeutend galt; er hatte in Neu-Ruppin als Sohn eines dort angesessenen Bäckermeisters das Licht der Welt erblickt, und Neu-Ruppin war auch die glückliche Stadt, die sich der Heimatsberechtigung Mausebreis rühmen durfte. Obwohl der würdige Organist die sociale Kluft, die ihn von seinem Landsmanne trennte, nie außer Augen zu lassen pflegte, so gestattete er doch, daß Mausebrei dann und wann des Sonntags bei ihm zu Mittag speiste und ihn durch die drolligen Schilderungen seines Wanderlebens als Heldenvater und schleichender Intrigant ergötzte. Einen solchen Sonntag nun benutzte der gute Mausebrei, dem Organisten 410 seinen jungen Freund zu empfehlen. Fritz hatte Glück; bei Schillings gab es an jenem Sonntage jungen Gänsebraten mit Grünkohl und danach gebackene Äpfelschnitten mit Fruchtsauce – Leibgerichte des Hausherrn, der infolge dessen sehr guter Laune war und sich Fritz zuführen ließ. Fritz sang ihm einige Lieder von Mozart und Lortzing und eine Wagnersche Arie zur Klavierbegleitung vor; der Organist rief »Bravo«, ging dann mit über der Brust gekreuzten Armen und mit mächtigen Schritten einige mal im Zimmer auf und ab und blieb schließlich, seine Löwenmähne zurückwerfend und Fritz mit flammenden Augen anschauend, dicht vor dem Sänger stehen.
»Sie gefallen mir, junger Herr,« sagte er, »ich nehme Sie an. Aber ich verlange eisernen Fleiß! Merke ich nur ein einziges Mal, daß Thatkraft und Lust zur Sache erlahmen, ist's aus mit uns! Kommen Sie morgen nachmittag sechs Uhr wieder. Adieu!«
Von diesem Tage ab war Fritz der eifrigste Schüler des Organisten Schilling. Gleich nach der ersten Lehrstunde hatte er sich nach dem Honorar, das er zu zahlen habe, erkundigt, aber Schilling hatte die Frage abgelehnt. »Erst lernen Sie etwas,« hatte er gesagt, »dann wollen wir vom Zahlen sprechen« . . .
411 Und Fritz lernte tapfer. Bis sechs Uhr nachmittags war er in seinem Bureau beschäftigt, saß er auf dem hohen Bockschemel hinter seinem wurmstichigen Pulte und schrieb Rechnungen aus, addierte und subtrahierte und machte sich mit den Geheimnissen der Kohlenpreise und des Steigens und Fallens der Briquettes vertraut. Es war für ihn eine lähmend langweilige, geisttötende Arbeit, aber er führte sie gewissenhaft aus, und nie fand der erste Buchhalter oder sein Prinzipal Grund zur Klage über ihn. Erst die Abendstunden gehörten ihm selbst. Wenn er nicht Unterricht hatte, übte er entweder in seinem kleinen Stübchen und dann mußte die alte treue Fiedel, die er aus der Kinderzeit in den Trubel des Lebens hinübergerettet, ihm dabei Hilfsdienste leisten, – oder er ging zu Mausebrei. Dieser würdige Mann befaßte sich unter anderm nämlich auch mit dem Geschäft des Zimmervermietens, und sein gegenwärtiger Zimmerherr, ein musikalischer Referendar, befand sich im glücklichen Besitze eines Pianoforte »auf Leihkontrakt«. Da nun der Herr Referendar in den Abendstunden nie zu Hause weilte, so hatte sich Mausebrei für diese Zeit die Benutzung seines Instruments erbeten, was der gefällige Jusbeflissene auch gern gestattete.
Mausebreis größte Freude war es, den Übungen seines jungen Freundes zuhören zu dürfen. Er schwor auf dessen Zukunft und stellte ihn unbedenklich schon heute mit Niemann und Bötel in eine Reihe. Der kleine Mann saß während der Übungsstunden im Zimmer des Referendars, gewöhnlich ganz eng zusammengekauert und in einen entsetzlich schäbigen, ehemals himmelblau 412 gewesenen, sammetnen Theaterschlafrock gehüllt, in einer Sofaecke und ergötzte sich an dem Gesange Fritzens. Er machte, obwohl er von Musik so viel wie gar nichts verstand, stets ein ungemein wichtiges Gesicht, nickte zuweilen ernsthaft mit dem Habichtskopfe und ließ zeitweilig ein leises »Bravo!« oder ein »bonus« oder auch ein »manjibib« (womit er magnifique meinte) fallen. Er hatte es auch versucht, Fritzen die Anfangsgründe des Sichbewegens auf der Bühne beizubringen und vor ihm höchstselbst eine Reihe von Posen – Antonius vor der Leiche Cäsars, Romeo unter dem Fenster der Julia, Carl Moor in der Unterredung mit der Magistratsperson u. a. – als Muster zur Nacheiferung gestellt, war aber im höchsten Maße in seiner künstlerischen Ehre verletzt worden, als Fritz plötzlich laut und herzhaft herauspruschte – ein Pruschen, das sich allgemach in ein homerisches Lachen auflöste. Fritz bedauerte seine ungezügelte Heiterkeit nachträglich aufrichtig, denn Mausebrei sprach infolgedessen acht Tage lang kein Wort mit ihm und durchbohrte ihn mit Blicken, wenn er ihn sah, – aber der kleine närrische Schneider hatte eine so urkomische Art, als Romeo mit den Augen zu schmachten, als Carl Moor die Stirn in dräuende Falten zu legen und als Antonius die mageren Arme über der Heldenbrust zu kreuzen, daß auch eine hypochondrische Natur bei diesem Anblicke in eitle Fröhlichkeit hätte ausbrechen müssen. Fritz versöhnte ihn schließlich dadurch, daß er ihm eines Tages eine antiquarische Ausgabe von Schillers gesammelten Werken als Geschenk mitbrachte – Schiller war nämlich der Lieblingsdichter des kleinen Zweiseelenmenschen. –
413 Ein Jahr hindurch hatte Fritz seinen Unterricht bei dem Organisten Schilling genossen, als dieser ihm gelegentlich mitteilte, er habe seinetwegen kürzlich in einer Gesellschaft mit dem Professor Philipp Schmidt gesprochen, und der Herr Professor habe geäußert, er möchte den jungen Mann wohl einmal singen hören. Die Schmidtsche Opernschule erfreute sich eines bedeutenden Renommees; eine Anzahl Sänger und Sängerinnen von Ruf hatte dort ihre letzte Ausbildung erhalten – Schmidt selbst stand mit den Leitern der ersten Bühnen in intimer Verbindung und übte auch auf die Konzertbureaus und Theateragenturen einen nicht zu unterschätzenden Einfluß aus. Fritz hatte schon öfters von den weit reichenden Beziehungen dieses Mannes gehört und war glücklich über die Aussicht, sich vor ihm hören lassen zu dürfen.
Heute war nun dieser wichtige Tag gekommen. Am Abend vorher hatte nach beendeter Unterrichtsstunde Schilling ganz beiläufig zu ihm geäußert: »Apropos, mein lieber Herr Fiedler, – da hat mir der Professor Schmidt eine Postkarte geschrieben. Sie möchten doch morgen einmal so zwischen ein und drei Uhr zu ihm herankommen und eine Rolle mitbringen. Ganz gleich, welche – nehmen Sie doch den Troubadour!« . . .
Und nun war Fritz pochenden Herzens auf dem Wege zu dem Gewaltigen. Der Professor bewohnte eine luxuriös ausgestattete Etage am Kronprinzenufer. Ein gallonierter Diener öffnete Fritz und ließ ihn in das Vorzimmer treten. In dem achteckig geformten Raume standen sechs Büsten großer Tonmeister auf dunklen Säulen rings an den in pomejanischem Rot schillernden 414 Wänden, um die sich in Manneshöhe ein Relieffries zog, allegorische Darstellungen zeigend. Den Plafond schmückte ein gewaltiges Farbenbild, eine Scene aus »Rheingold«. Man merkt es: in diesem Hause ging die Kunst nicht nach Brot.
In bänglicher Erwartung harrte Fritz über eine halbe Stunde, ehe der Diener von neuem erschien, um ihn in den Musiksaal zu führen. Das weite Gemach war hell und luftig, aber ganz leer, mit Ausnahme eines Bechsteinschen Flügels und einiger Rohrstühle.
Fritz war kaum eingetreten, als durch eine Seitenthür der Professor erschien – ein schlanker Mann Anfang der Sechziger mit wüstem, gelbgrauem Haar und mürrischem, bartlosem Gesicht. Sein Wesen war kurz angebunden und unfreundlich.
»Herr Fiedler?« fragte er, ohne dem sich tief Verbeugenden die Hand zu reichen, und rückte dabei an seinem, von schwarzer Horneinfassung umrahmten Pincenez. »Man hat mir von Ihnen erzählt . . . Darf ich bitten« . . .
Er nahm Fritz ohne weiteres die Musikrolle aus der Hand und blätterte in den Papieren.
»Der Troubadour,« murrte er zwischen den wulstigen Lippen hervor, »dacht' mir's beinahe! Als gäb's gar nichts andres! Der Verdi ist der Abgott aller Dilettanten! Dudelei infame! . . . Läßt unsre deutschen Meister links liegen und schnurreit mit dem welschen Geklimper umher! Mozart und Beethoven scheinen nie gelebt zu haben, und der Wagner – na ja – nun aber bitte! Viel Zeit hab' ich nicht, – woll'n 'mal die Arie aus dem zweiten Akt nehmen!«
415 Er öffnete die Thür, durch die er eingetreten war, und brüllte mit kolossaler Stimme: »Siebenschuh! Sie–ben–schuuuh!«
»Herr – Professor!« schallte es aus der Ferne zurück, – dann kamen eilige Schritte näher, und ein dürres kleines Männchen in abgeschabtem, eng über der hageren Brust geschlossenem schwarzen Rocke erschien, trippelte an den Flügel und ließ sich dort nieder. Professor Schmidt legte ihm die Noten vor, ohne ein Wort zu sagen, und deutete auf die aufgeschlagene Seite. Dann ließ er sich am äußersten Ende des Saales auf einen Stuhl nieder.
»Wenn ich nun bitten darf, mein guter Herr,« sagte er, zu Fritz gewandt; »Siebenschuh wird Sie begleiten« . . .
Fritz stellte sich neben den geheimnisvollen Siebenschuh, der mit geübter Hand ein kurzes Präludium anschlug, und setzte voll ein. Von diesem Augenblick an war alle Befangenheit bei ihm geschwunden.
Das gelangweilte Gesicht des Professors nahm schon nach den ersten Tönen einen interessierteren Ausdruck an. Er schlug die Beine übereinander, stützte das Kinn auf die rechte Hand und schaute unter den buschigen Brauen aufmerksam zu dem Singenden hinüber. So verharrte er regungslos, bis Fritz endete.
»Macht sich,« sagte der Professor kopfnickend; »mehr, als ich erwartet habe! Gar nicht übel! Bitte die Schlußarie!«
Und Fritz begann von neuem. Er hatte noch nicht geschlossen, als Professor Schmidt ein dröhnendes »Halt!« 416 dazwischen rief. Der berühmte Mann hatte sich erhoben und winkte Fritz zu sich heran.
»Habe genug gehört,« meinte er, »um mir ein Urteil über Sie bilden zu können. Stimme ist gut, rein, wohllautend, umfangreich. Bin auch mit der Schulung einverstanden. Schilling hat aus Ihrem Organe gemacht, was innerhalb eines Jahres überhaupt zu erreichen war. Nur auf eines möcht' ich Sie noch aufmerksam machen: auf eine präcisere Atemführung. Ihre kräftige Natur verleitet Sie dazu, häufiger zu voll Atem zu schöpfen, – dadurch verliert der Ton namentlich beim Verklingen an Weichheit. Haben Sie schon eine Theaterschule besucht?«
Fritz verneinte es.
»Hm,« – der Professor dachte einen Augenblick nach . . . »Schadet nichts,« fuhr er sodann fort, »die Theaterschulen können den besten Sänger verderben. Man giebt dort zu viel auf dramatischen Accent, auf deklamatorisches Pathos, auf schauspielerische Mätzchen – und all' das hat mit der Innerlichkeit des Gesanges nichts zu thun. Ich werde Ihnen etwas sagen: ich habe einen sehr tüchtigen Vortragsmeister, der Ihnen die ersten Rollen einstudieren kann. Sind Sie bemittelt?«
»Nein, Herr Professor,« entgegnete Fritz, setzte aber, als er sah, daß die Stirn des vor ihm Stehenden sich zu kräuseln begann, sofort hinzu: »Ich werde indessen das Honorar, das von mir gefordert wird, zu beschaffen wissen« . . .
»Gut – gut,« fuhr der Professor hastig fort; »ich fragte nur, weil – weil – mein Gott, weil ich meine 417 Leute auch zu bezahlen habe!« – Er fuhr mit der Rechten durch sein struppiges gelbes Haar und rückte wieder an seinem Pincenez. »Also das Honorar beträgt pro Stunde zwanzig Mark. Über den Zahlungsmodus werden wir uns schon einigen. Ich werde mit Calliano sprechen. Kommen Sie – warten Sie mal, heut' haben wir Dienstag – kommen Sie Donnerstag Vormittag um elf Uhr wieder zu mir heran.«
Und der Professor nickte und hatte, ehe Fritz die Entgegnung, daß er des Vormittags in seinem Bureau beschäftigt sei, abgegeben hatte, bereits das Zimmer verlassen.
Herr Siebenschuh, der Klavierspieler, lauschte, bis die wuchtigen Schritte seines Chefs in der Entree verhallt waren, gab sich dann ein gewichtiges Ansehen, reckte die magere Brust heraus, trat zu Fritz heran und legte seine spinnenförmige Hand wohlwollend auf dessen Schulter.
»Donnerstag Vormittag um elf Uhr,« wiederholte er die Worte seines Prinzipals und fügte aus eigenem Ermessen kopfnickend hinzu: »Sie haben eine sehr schöne Stimme, lieber Herr, aber der gewisse Avec fehlt noch. Calliano 418 versteht sich darauf, – in einem halben Jahre können Sie auf der Bühne stehen« . . .
Und dann verließ er ebenfalls den Musiksaal. An der Thüre aber wandte er sich noch einmal um und repetierte mit wichtiger Betonung:
»Donnerstag Vormittag um elf Uhr, ich werde Calliano vorbereiten, lieber Herr!« – 419