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Arturo Toscanini

Ein Bildnis

Jeder Versuch, die Gestalt Arturo Toscaninis dem vergänglichen Element der nachschaffenden Musik zu entziehen und in der beständigeren Materie des Wortes zu bewahren, muß unwillkürlich mehr werden als bloß Biographie eines Dirigenten: wer Toscaninis Dienst an dem Genius der Musik und seine magische Macht über jede Menschengemeinschaft zu veranschaulichen sucht, schildert vor allem eine moralische Tat.

Denn in Toscanini dient einer der wahrhaftigsten Menschen unserer gegenwärtigen Welt der immanenten Wahrheit des Kunstwerkes mit einer derart fanatischen Werktreue, mit einer so unerbittlichen Strenge und gleichzeitigen Demut, wie wir sie heute kaum in einer anderen Sphäre des Schöpferischen bewundern dürfen. Er dient ohne Stolz, ohne Hochmut, ohne Eigenwillen dem höheren Willen der von ihm geliebten Meister, und zwar in allen Formen irdischen Dienens: mit der vermittelnden Kraft des Priesters und der Hingebung des Gläubigen, mit der zuchtvollen Strenge eines Lehrers und der rastlos bemühten Ehrfurcht eines ewig Lernenden.

Nie geht es diesem Hüter der heiligen Urformen in der Musik um ein Einzelnes, immer um das Ganze, nie um den äußeren Erfolg, sondern immer um die innere Durchsetzung der Werktreue, und weil er jedesmal und überall nicht bloß seine persönliche Genialität, sondern auch seine einzigartige sittliche und seelische Energie zum vollen Einsatz bringt, werden seine Taten nicht nur für diese eine Kunstform, sondern für alle Künste und Künstler zum vorbildlichen Ereignis. Hier überschwingt ein großartiger individueller Triumph den musikalischen Raum und wird zum überpersönlichen Sieg des schöpferischen Willens über die Schwerkraft der Materie, glorreiche Bestätigung, daß auch in brüchiger und zersprengter Zeit immer und immer wieder ein einzelner Mensch das Wunder der Vollendung zu erschaffen vermag.

Für diese unermeßliche Aufgabe hat sich Jahre und Jahre Toscanini die Seele gehärtet zu einer beispiellosen und darum beispielgebenden Unerbittlichkeit. In der Kunst zählt für ihn – dies seine sittliche Größe, dies seine menschliche Bürde – nur das Vollendete und nichts als das Vollendete. Alles andere, das ziemlich Lobenswerte, das annähernd Vollkommene, das bloß Approximative, ist für seinen Künstlertrotz überhaupt nicht vorhanden oder nur im Sinne der Feindschaft. Toscanini haßt die Konzilianz in jeder ihrer Formen, er verabscheut in der Kunst wie im Leben das freundliche Sichbescheiden, das billige Sichzufriedengeben, das Kompromiß. Vergeblich, ihn zu erinnern, ihn zu mahnen, daß das Vollendete, das Absolute innerhalb unserer irdischen Sphäre eigentlich gar nicht erreichbar ist, daß auch dem grandiosesten Willen immer nur eine äußerste Annäherung verstattet ist an die Perfektion, die einzig Attribut Gottes bleibt und nicht des Menschen; nie wird er – herrlich unweise – diese weise Bescheidung anerkennen, für ihn gibt es nichts als das Absolute in der Kunst, und jenem dämonischen Helden Balzacs gleich verbringt er sein ganzes Leben in dieser »recherche de l'absolu«. Jeder Wille aber, der ständig das Unerreichbare erreichen, das Unmögliche möglich machen will, erreicht in der Kunst und im Leben eine unwiderstehliche Wucht: einzig das Übermaß, niemals das Maß wird produktiv.

Wenn Toscanini will, müssen alle wollen, wenn er befiehlt, alle ihm gehorchen. Es ist undenkbar – jeder Musiker im Schatten seines magischen Stabes hat es bezeugt –, im Banne der von ihm ausbrechenden elementaren Gewalt müde, lässig oder ungenau zu bleiben; in geheimnisvoller Transfusion strömt etwas von seiner elektrisch geballten Energie in jeden Nerv und Muskel, sei es der Mitschaffenden, sei es der bloß Genießenden, über. Toscaninis Wille, einmal dem Werke zugewandt, hat sofort die Macht eines heiligen Terrors, eine das überwältigende Gefühl erst lähmende, dann aber weit über die eigenen Grenzen emportreibende Gewalt; mit seiner entladenen Spannungskraft erweitert er gewissermaßen das musikalische Gefühlsvolumen jedes Menschen über das bislang gültige Maß, er steigert die Kräfte, die Fähigkeit jedes Musikers und, fast möchte man sagen, sogar des leblosen Instrumentes. Wie aus jeder Partitur das Verborgenste und Geheimste, so holt er mit seinen ständigen Forderungen und Überforderungen aus jedem einzelnen im Orchester das Äußerste und Letzte seiner individuellen Virtuosität, er zwingt ihm einen Werkfanatismus, eine Hochspannung des Wollens und Könnens auf, die der einzelne, losgelöst von ihm, nie vormals in gleicher Intensität empfunden hatte und nachher kaum wieder erreicht.

Eine solche Willensvergewaltigung kann, man begreift es, nicht friedlich und gemächlich sich vollziehen. Eine solche Vollendung setzt notwendigerweise einen zähen, einen wilden, einen fanatischen Kampf um die Vollkommenheit voraus. Und es gehört zum Wunderbaren unserer Welt, zu den großartigsten Offenbarungen für jeden schaffenden und nachschaffenden Künstler, zu den wenigen unvergeßlichen Stunden eines Lebens, daß man bei Toscanini dieses Ringen um die Vollendung, diesen Kampf um das Maximum des Maximums erregt, erschüttert, angespannt, mit einer atemberaubten und geradezu erschreckten Bewunderung sichtbar miterleben kann. Im allgemeinen vollzieht sich jener Kampf um die vollkommene Form bei Dichtern, Komponisten, bei Malern und Musikern in der verschlossenen Werkstatt. Höchstens aus ihren Skizzen und Manuskripten kann man späterhin annähernd die heilige Mühe des Schaffens ahnen; bei einer Probe Toscaninis aber erlebt man den Jakobskampf mit dem Engel der Vollendung visuell und akustisch mit, und es ist allemal ein Schauspiel, beängstigend und großartig wie ein Gewitter. Wer immer um die Kunst bemüht ist, und in welcher Sphäre immer, empfängt hier eine beispielgebende, eine unvergleichliche Anfeuerung zur Werktreue, wenn er sieht, mit welcher Gewalt, welcher Intensität und sogar Brutalität hier ein einziger, von dem Dämon der Vollendung getriebener Mann aus jedem einzelnen Instrument, aus jedem einzelnen Menschen die Höchstleistung zwingt, wie er das bloße Ungefähre und Verschwommene mit einer heiligen Geduld und heiligen Ungeduld genau in das Maß seiner eigenen fehllosen und makellosen Vision des Werkes zwingt. Denn bei Toscanini – dies seine Besonderheit – entsteht die Auffassung des Werkes niemals mehr bei der Probe. Jede Symphonie eines Meisters ist längst innerlich ausgearbeitet, rhythmisch und plastisch bis in die leiseste Abschattung, ehe er an das Pult tritt; Proben bedeutet für ihn nicht mehr Schaffen, sondern nur Einpassen und Anpassen an diese innere, herrlich exakte Vision, denn immer ist Toscanini schon fertig mit seiner bildnerischen Arbeit, wenn die Musiker die ihre beginnen. Wochen um Wochen hat er in ganzen Nächten – dieser erstaunliche Körper benötigt nie mehr als drei bis vier Stunden Schlaf –, die Blätter ganz nahe an sein kurzsichtiges Auge pressend, die Partitur durch- und durchgearbeitet, Takt für Takt und Note für Note. Sein eminentes Gefühl hat jede Nuance ausgewogen, seine sittliche Gewissenhaftigkeit über jede Betonung, über jede rhythmische Einzelheit sich geradezu philologische Rechenschaft gegeben. Nun ist seinem fehllosen, seinem unvergleichlichen Gedächtnis das Ganze so gegenwärtig wie jedes Detail, er benötigt die Partitur nicht mehr, er kann sie wegwerfen wie eine lästige Schale. Denn wie auf einem Rembrandt-Stich die leiseste Linie mit ihrer bestimmten Schärfe und Tiefe, mit ihrem besonderen persönlichen Schwung in die Kupferplatte, so ist jetzt schon in diesem musikalischesten aller Gehirne das Werk Takt für Takt unabänderlich eingestanzt, sobald er zur ersten Probe an das Pult tritt. Er weiß mit einer dämonischen Klarheit, was er will: nun gilt es, die anderen diesem Willen willenlos zu unterwerfen, sein platonisches Vorbild, seine vollendete Vision in orchestralen Klang, die musikalische Idee in reale Tonschwingung umzusetzen und einer Vielzahl von Musikern als Gesetz aufzuzwingen, was er, der eine, in sich schon mit sphärischer Vollkommenheit hört. Titanische Arbeit, unmöglich scheinendes Unterfangen: eine Gruppe verschiedenster Naturen und Talente soll mit photographischer, mit phonographischer Treue die geniale Vision eines einzelnen einheitlich erfühlen und verwirklichen! Aber gerade diese Arbeit, obwohl tausendmal schon glorreich getan, ist Toscaninis Lust und Qual, und einmal dies miterlebt zu haben, wie er in ständiger Angleichung jede Vielheit zur Einheit formt, wie er mit gespanntester Kraft das Verschwommene zum Vollkommenen hinaufführt, bleibt eine unvergeßliche Lehrstunde für jeden, der die Kunst in ihren höchsten Formen als Sinngebung des Sittlichen verehrt. Denn nur von diesen Stunden her begreift man Toscaninis Wirken nicht nur als künstlerische, sondern auch als ethische Tat. Die öffentlichen Konzerte, sie zeigen den Könner, den Künstler, den Virtuosen seines Handwerkes, den Führer, den Triumphator, sie sind gleichsam schon der Einmarsch in das unterworfene Reich der Vollkommenheit. In den Proben aber erlebt man den Entscheidungskampf um die Vollendung, in ihnen allein erschließt sich das hintergründige, das wahre, das tragische Bild des ringenden Menschen, nur in ihnen versteht man den Mut und die Wut des hinreißenden Kämpfers in Toscanini; wie Schlachtfelder sind sie erfüllt von dem Tumult des Auf und Nieder, durchjagt vom Fieber um das Gelingen oder Nichtgelingen, in ihnen und nur in ihnen ist der Mensch in Toscanini bis zu seiner nackten Seele entblößt.

Und wirklich, wie zu einem Kampf geht Arturo Toscanini jedesmal zur Probe, schon äußerlich ist er verwandelt, sobald er den Saal betritt. Sieht man ihn sonst, mit sich allein oder in engerem Kreis, so wäre man paradoxerweise versucht, diesen feinhörigsten aller Menschen für schwerhörig zu halten. Denn er geht und sitzt meist mit einem fremden Blick, die Arme an sich gezogen, die Stirn verwölkt, etwas Abwesendes ist in ihm, etwas völlig Versperrtes gegen die äußere Welt. Unverkennbar: es arbeitet in ihm, er horcht, er träumt in sich hinein, und alle Sinne sind nach innen gezogen. Kommt man ihm nahe oder spricht man ihn an, so schrickt er auf, die tiefen dunklen Augen brauchen dann eine halbe Minute oder eine ganze, um sich von innen nach außen zu wenden und selbst einen nahen Freund zu erkennen; derart ist er in sich versonnen und verloren, derart hermetisch abgeschlossen allem anderen außer seiner innen wogenden Musik. Ein Tagträumer, ein Werkträumer, völlig in der Isolation und Konzentration des schaffenden und nachschaffenden Künstlers, so geht Toscanini durch die Stunden. Aber sofort in der Minute, da er den Taktstock nimmt, da er sich vor die Aufgabe stellt, die er sich entgegengestellt fühlt, verwandelt sich diese Isoliertheit in eine höchste Verbundenheit, diese Verträumtheit in leidenschaftlichsten Tatwillen. Mit einem Ruck strafft sich seine Gestalt, plötzlich fährt etwas Militärisches, Martialisches in seinen Schultern hoch, er wird Kommandant, Befehlshaber, Diktator. Wachsam und feurig blitzen die sonst samtig dunklen Augen unter den buschigen Brauen vor, um den Mund spannt sich streng die Falte des Willens, an der Hand jeder Nerv, alle Organe sind sofort in einem Zustande höchster Wachheit, in angriffsmäßiger Bereitschaft, sobald er an das Pult tritt und mit einem napoleonischen Blick seinen Gegner mißt – denn die wartende Masse der Musiker, sie fühlt er in diesem Augenblick als eine noch unbezwungene Rotte, die er zu meistern hat, als ein gegenwilliges, ein widerstrebendes Wesen, dem es nun Zucht und Gesetz aufzuwingen gilt. Er grüßt aufmunternd die Gefährten, er hebt den Taktstock, und in dieser Sekunde ist schon – wie in einem Blitzableiter die Elektrizität in dünner Spitze – sein ganzer Wille in diesem magischen Stäbchen hypnotisch versammelt. Nur ein Schwung jetzt, und das Element ist entfesselt, rhythmisch folgen die Instrumente seinem klar und männlich gegebenen Takt. Weiter, weiter, weiter, schon fühlt, schon atmet man mit. Da plötzlich – es tut förmlich weh, dieses jähe Aufhören, wie unter einem Hieb schrickt man zusammen – ein hartes, trockenes Klopfen mit dem Stab auf das Pult, die Musiker setzen ab in dem vollkommenen – für uns schon vollkommenen – Spiel. Es wird still, eine Leere steht erschreckt um ihn, und in dieser Stille hört man nun Toscaninis Stimme, ein müdes, ein ärgerliches »Ma no! Ma no!« Wie ein Seufzer der Enttäuschung klingt dieses Nein, dieser schmerzliche Vorwurf. Irgend etwas hat ihn erweckt, enttäuscht in seiner Vision, der lebendige Klang, der von den Instrumenten allvernehmbar hinschwang, war nicht derselbe, den er, Toscanini, mit dem inneren Ohre gewollt. Noch ganz ruhig, sachlich, höflich versucht Toscanini nun seine Auffassung den Musikern verständlich zu machen. Dann hebt er den Taktstock, man beginnt von neuem an der brüchigen Stelle, schon rückt die Ausführung näher an sein erträumtes Klangbild heran, aber noch immer ist die letzte Übereinstimmung nicht erreicht, noch immer deckt sich nicht restlos Rand zu Rand die orchestrale Ausführung mit der inneren Vision. Nochmals klopft Toscanini ab, erregter, leidenschaftlicher, ungeduldiger wird schon seine Erklärung; weil er Deutlichkeit will, wird er deutsamer. Allmählich entfalten sich aus ihm alle Kräfte der Überredung, und die gestikulative Begabung des Italieners wird in seinem prachtvoll ausdrucksvollen Körper geradezu zum Genie. Selbst der Unmusikalischeste muß aus seinen Gesten jetzt schon fühlen, was er eigentlich will und fordert, wenn er den Rhythmus vortaktiert, wenn er beschwörend die Arme entbreitet oder wieder glühend ans Herz preßt, um die geforderte stärkere Empfindung zu akzentuieren, wenn er, mit dem ganzen Körper plastisch arbeitend, das ideale Tonbild gleichsam visuell herausmodelliert. Leidenschaftlich und immer leidenschaftlicher setzt er alle Überredungskräfte ein, er bittet, beschwört, bettelt, fordert, gestikuliert, er zählt, er singt vor, er verwandelt sich in jedes einzelne Instrument, sobald er es aneifern will, allsichtbar fahren ihm die Bewegungen des Geigenden, des Blasenden, des Paukenden in die Hände, und ein Bildhauer, der menschliche Bitte und Ungeduld, Sehnsucht, Anspannung und inbrünstiges Drängen symbolisch darstellen wollte, fände kein wundervolleres Modell als diese tonbildnerischen Gesten Toscaninis. Wenn aber trotz diesen Anfeuerungen, trotz diesen nervösen Versichtlichungen das Orchester seine individuelle Vision noch immer nicht begreift und erreicht, wird dies Leiden an dem Nochnichterreichten, an der irdischen Unzulänglichkeit bei Toscanini geradezu zum Schmerz. Er stöhnt auf wie ein Verwundeter in seiner verletzten Feinhörigkeit, er gerät völlig außer sich, weil er so völlig in seiner Arbeit verharrt. Er vergißt alle Hemmungen der Höflichkeit, weil er nur die Hemmungen im Werke spürt, ein Zorn gegen den dumpfen Widerstand der Materie fährt ihm ins unbeherrschte Wort, er schreit, er tobt, er schimpft und beschimpft, und man versteht, warum er nur vertrautesten Freunden den Zugang zu diesen Proben gestattet, wo er sich jedesmal als den Besiegten weiß seiner ungeheuren und unersättlichen Leidenschaft zur Vollkommenheit. Erschütternder und erschütternder wird das Schauspiel dieses Ringens, je gewaltsamer Toscanini die letzte, die äußerste Form, seine geträumte, seine so sphärisch gehörte Form des Werkes den Musikern entreißen will. Sein Körper bebt allmählich vor Erregung wie der eines Ringers während des Kampfes, die Stimme wird heiser von den unablässigen Anfeuerungen, der Schweiß strömt ihm von der Stirn, erschöpft, gealtert erscheint er immer nach diesen unermeßlichen Stunden unermeßlicher Arbeit; aber nicht einen Zoll vor der Vollendung, vor seiner erträumten Vollendung gibt er nach. Mit immer neu anspringender Energie treibt er vorwärts und vorwärts, bis endlich die Masse der Musiker restlos sein Wille geworden ist und seine Vision makellos zum Werk.

Nur wer dieses Ringen, dieses tagelange zähe Ringen um das einzelne und einzelnste der Vollendung einmal von Probe zu Probe, von Stufe zu Stufe mitansehen durfte, weiß um das Heroische in Toscanini, nur der ahnt den Preis jener Vollkommenheit, die das Publikum bei ihm schon als Selbstverständlichkeit bewundert. Aber immer ist die höchste Stufe des Könnens nur dort erreicht, wo das Schwierigste wie das Natürlichste, wenn das Vollkommene als das Selbstverständliche wirkt. Sieht man Toscanini abends im überfüllten Saal, Magier und Gebieter über die hörige Schar des Orchesters, gleichsam ganz mühelos mit seiner Zeichengebung die Musiker wie Hypnotisierte führend, so scheint dieser Triumph ohne Kampf gewonnen und er selbst die Summe aller Sicherheit, der höchste Ausdruck der Sieghaftigkeit. Aber in Wahrheit gilt keine Aufgabe jemals für Toscanini als vollendet gelöst, und was das Publikum als Endgültigkeit bewundert, ist ihm unterdes schon wieder zum Problem geworden. An keinem Werk fühlt trotz fünfzig Jahre Vertrautheit der Siebzigjährige ein volles und reines Zufriedensein, bei jedem immer wieder von einemmal zum anderen nur die erregte Ungewißheit des neu und neu sich versuchenden Künstlers. Nie kennt er ein eitles Behagen, nie, wie Nietzsche sagt, das »braune Glück« der Entspannung, des Selbstbezaubertseins. Vielleicht ist niemand unter den Lebenden, der an der Unvollkommenheit alles Instrumentalen gegenüber dem visionär gehörten Klange so tragisch leidet wie dieser, der sein Orchester am großartigsten bemeistert. Denn anderen ähnlich Leidenschaftlichen unter den Dirigenten sind doch wenigstens flüchtige Augenblicke der Verzückung gegeben. Bruno Walter, sein apollinischer Bruder in der Musik, hat, man fühlt es, manchmal Sekunden des Erlöst- und Begnadetseins mitten im Werk. Wenn er Mozart spielt oder dirigiert, ist hin und wieder sein Antlitz unbewußt angeleuchtet von einem Widerschein dieses seligen Lichtes. Er fühlt sich getragen von der selbstgeschaffenen Woge, er lächelt, ohne es zu spüren, er träumt, er schwebt in den Armen der Musik. Solche Gnade des Sichvergessenkönnens ist Toscanini, dem Unersättlichen, dem großen Gefangenen der Vollendung, niemals gegeben. Eine wilde Sehnsucht verzehrt ihn nach immer höheren Formen der Vollkommenheit, und es ist durchaus keine künstliche Pose bei diesem wahrhaftigsten Manne, wenn er am Ende jedes Konzertes, vom Beifall umstürmt, jedesmal mit einem befangenen und beschämten, mit einem scheuen und bestürzten Blick vom Pulte tritt, wenn er unwillig und nur, um der Höflichkeit Genüge zu tun, dem dröhnenden Enthusiasmus der Menge dankt. Denn über allem Erreichten und Errungenen schwebt für ihn eine geheimnisvolle, eine mystische Trauer. Er weiß, daß auch das heldisch Erzwungene in seinem nachschaffenden Element keine Bleibe hat, er fühlt, wie Keats, sein Werk »in Wasser geschrieben«, hingespült in die Woge der Vergänglichkeit, nicht mit den Sinnen, nicht in der Seele dauernd festzuhalten: darum kann kein Erfolg ihn betören, kein Triumph ihn berauschen. Er weiß, daß im orchestralen Raum nichts für immer getan ist und jede Vollendung von Werk zu Werk, von Stunde zu Stunde wieder neu errungen und erzwungen werden muß. Wie kaum einer weiß dieser große Friedlose, weil nie zu Befriedigende: Kunst ist ein ewiger Krieg, nie ein Ende, sondern ein unablässiger Anbeginn.

Eine solche sittliche Strenge der Auffassung und des Charakters ist ein Ereignis im Räume unserer Kunst und unseres Lebens. Aber beklagen wir es nicht, daß eine so reine und zuchtvolle Erscheinung wie Toscanini eine seltene bleibt und daß nur an wenigen Tagen des Jahres uns das Glück gegönnt ist, vollendete Werke von diesem vollendeten Meister in vollendeter Weise dargeboten zu hören. Nichts ist ja gefährlicher für die Würde und das Ethos der Kunst als das Geölte und Bequeme unseres tagtäglichen Kunstbetriebes, als die Leichtigkeit, mit der heute durch Radio und Grammophon das Erlauchteste zu jeder Stunde auch dem Lässigsten handgreiflich wird; denn diese Bequemlichkeit läßt die meisten die Mühe der Schöpfung vergessen und ohne Spannung und Ehrfurcht Kunst in sich aufnehmen wie Bier oder Brot. Wohltat und geistige Wollust ist es darum, in solcher Zeit einen am Werke zu sehen, der durch die Gewalt seiner Erscheinung wieder bezwingend erinnert, daß Kunst eine heilige Mühsal ist, apostolischer Dienst an dem unerreichbar Göttlichen unserer Welt, nicht Geschenk des Zufalls, sondern erdiente Gnade, nicht laue Lust, sondern auch schöpferische Not. Toscanini hat kraft seines Genius so sehr wie kraft seines unbeugsamen Charakters das Wunder erreicht, Millionen zu zwingen, das glorreich überlieferte Erbe der Musik als lebendigsten Wert der Gegenwart zu empfinden, und diese seine Tat innerhalb der nachschaffenden Musik wirkt fruchtbar hinaus über ihre Grenzen: immer ist, was im Räume einer Kunst glorreich vollbracht ist, gleichzeitig für alle getan. Immer führt nur der außerordentliche Mensch die anderen zu Ordnung und Unterordnung zurück. Und nichts macht uns ehrfürchtiger vor diesem großen Anwalt der Werktreue, als daß es ihm gelungen ist, selbst eine so tief verwirrte und ungläubige Zeit wie die unsere noch einmal wieder Ehrfurcht vor ihren heiligsten Werken und Werten zu lehren.


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