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1915
Er ist wieder heimgekehrt, der große Vertriebene von einst, heimgekehrt im Ruhme zur Stadt, die er, ein Verstoßener, vor wenigen Jahren erst verließ. Im gleichen Saale, wo früher sein zwingender Wille dämonisch gewaltet, wirkt nun seines entschwundenen Wesens vergeistigte Form, klingt jetzt sein Werk. Nichts hat es wegzuhalten vermocht, nicht Schmähung und Erbitterung; unwiderstehlich wachsend am eigenen Werte, reiner zu fühlen, weil nicht mehr kämpfend betrachtet, füllt und dehnt es jetzt unsere innere Welt. Kein Krieg, keine Geschehnisse haben dies elementare Aufblühen seines Ruhmes hindern können, und derselbe, der vor engster Frist den Leuten hier noch Anstoß war, Unhold und Ärgernis, über Nacht ist er nun Tröster geworden und Befreier. Schmerz und Entschwundenes – seine Kindertotenlieder künden ihn stärker als irgendeiner der Zeit, und wie sich Trauer durch Tiefe des Gefühles selber verklärt, wer will es nicht heute fühlend lernen in seinem Abschiedsgesang, im »Lied von der Erde?« Nie war er so lebendig und beseelend dieser Stadt, er, Gustav Mahler, als nun, da er ferne ist, und die den Wirkenden undankbar ließ, ist ihm nun Heimat für immer. Die ihn liebten, haben gewartet auf diese Stunde, aber nun sie gekommen ist, macht sie uns nicht froh. Denn von einem sehnten wir uns zum andern: solange er wirkte, galt unser Wunsch, sein Werk, seine Schöpfungen lebendig zu sehen. Und nun, seit sie im Ruhme sind, ersehnen wir wieder ihn, der nicht mehr wiederkehrt.
Denn uns, einer ganzen Generation, war er mehr als ein Musiker, ein Meister, ein Dirigent, mehr als Künstler bloß, er war das Unvergeßliche unserer Jugend. Jung sein bedeutet im letzten ja, des Außerordentlichen gewärtig sein, irgendeines phantastisch schönen, über die enge Welt des Blickes hinausgesteigerten Begebens, einer Erscheinung, die Erfüllung ist einer vorgeträumten Vision. Und alles, Bewunderung, Begeisterung, Demut, all die regen Kräfte der Hingebung, des Überschwangs, sie scheinen nur so heiß und chaotisch im unfertigen Menschen geballt, um von solcher erkannter oder vermeinter Erscheinung – in der Kunst, in der Liebe – bis ganz innen in Brand zu stehn. Und es ist Gnade, solche Erfüllung in der Kunst, in der Liebe früh und unverbraucht an einem wahrhaft Bedeutsamen zu erleben, noch mit vollem, strömendem Gefühl ihr frei zu sein. Uns ist dies geschehen. Wer diese zehn Jahre der Oper unter Mahler jung erlebt hat, dem ist etwas gewonnen für sein Leben gewesen, das mit Worten nicht zu messen ist. Mit der feinen Witterung der Ungeduld spürten wir vom ersten Tage an das Seltene, das Wunder in ihm, den dämonischen Menschen, diesen Seltensten aller, der durchaus nicht eines ist mit dem Schöpferischen, sondern vielleicht noch geheimnisvoller in seiner Wesenheit, weil er ganz Naturkraft ist, beseeltes Element. Nichts zeichnet ihn von außen, kein Merkmal hat er als seine Wirkung, die unbeschreibliche, nur vergleichbar manchen zauberischen Willkürlichkeiten der Natur. Dem Magnet ist Ähnliches inne. Tausend Stücke Eisen mag man durchgreifen. Sie sind alle trag, nur nach unten wissen sie zu stürzen in der Las: ihrer inneren Schwere, fremd allen anderen und unwirksam. Und da ist ein Stück Eisen, nicht glänzender und reicher als die anderen, aber innen hat es eine Gewalt – Gewalt von Sternen her oder den letzten Tiefen der Erde –, die alles Verwandte an sich reißt, seiner eigenen Form verkettet und von der inneren Schwere löst. Was der Magnet an sich gerissen, das beseelt er, kann er es lang genug an sich halten, mit der eigenen Kraft, er strömt sein Geheimnis aus und gibt es weiter. Er saugt Verwandtes an sich, um es zu durchdringen, er teilt sich aus, ohne sich zu schwächen: aber Wirkung ist sein Wesen und sein Trieb. Und diese Gewalt – von Sternen her oder den letzten Tiefen der Erde – ist im dämonischen Menschen der Wille. Tausend Menschen sind um ihn, tausend und tausend, jeder nur hinausstürzend in die eigene Lebensschwere, trag und unbeseelt. Aber er reißt sie an sich, er füllt, ohne daß sie es wissen, ihr Wesen mit seinem Willen, mit seinem Rhythmus, er steigert sich in ihnen, indem er sie beseelt. In einer Art Hypnose zwingt er alle an sich heran, spannt die Stränge ihrer Nerven in die eigenen, reißt sie (oft schmerzhaft) in seinen Rhythmus. Er knechtet, er zwingt ihnen Willen auf, aber dem Willigen gibt er vom Geheimnis seiner Kraft. Ein solcher dämonischer Wille ist in Mahler gewesen, einer, der niederzwang und Gegenwehr brach, aber er war Kraft, die beseelte und erfüllte. Um ihn war eine feurige Sphäre, die jeden anglühte, brennend oft, aber immer zur Klarheit. Unmöglich war es, ihr sich zu entziehen: man sagt, die Musiker hätten es manchmal versucht. Aber dieser Wille war zu heiß: an ihm schmolz jeder Widerstand. Mit seiner Energie ohnegleichen zwingt er diese ganze Welt von Sängern, Statisten, Regisseuren, Musikern, das wirre Beieinander von Hunderten von Menschen in zwei, in drei Stunden in seine Einheit um. Er reißt ihnen den Willen aus, er hämmert, walkt und feilt ihre Fähigkeiten um, er stößt sie, selbst nun schon Glühende, in seinen Rhythmus hinein, bis er das Einmalige aus dem Täglichen gerettet hat, die Kunst aus dem Betrieb, bis er sich selbst in dem Werke und das Werk in sich verwirklicht hat.
Und magisch strömt ihm von außen alles zu, was er benötigt, er scheint es zu finden, aber es findet ihn. Es sind Sängerinnen vonnöten, reiche, feurige Naturen, Wagner zu gestalten und Mozart: von ihm gerufen (oder eigentlich von dem Dämon in ihm unbewußt gewollt), erstehen uns die Mildenburg und die Gutheil; ein Mahler ist vonnöten, um hinter die belebte Musik auch belebtes Bild zu stellen, und Alfred Roller entdeckt sich. Was ihm verwandt ist, wessen er bedarf zum Werke, ist auf einmal wie durch Zauber da, und je mehr sie Persönlichkeiten sind, desto leidenschaftlicher fügen sie sich der seinen. Alles ordnet sich um ihn, gleitet gefügig in seinen Willen, und an diesen Abenden ist plötzlich ein Werk, eine Menge, ein Haus um ihn gestellt, wie für ihn allein. Aus seinem Taktstock zuckt der Rhythmus unseres Blutes: wie ein Blitzableiter die Spannung einer ganzen Atmosphäre, so bindet er in der einen Spitze unser ganzes gedrängtes Gefühl. Nie in der darstellenden Kunst habe ich so etwas an Einheit erlebt wie an manchen dieser Abende, die in ihrer reinen Wirkung nur Elementarem vergleichbar sind, einer Landschaft mit Himmel, Wolken und dem Atem der Jahreszeit, jener ungewollt harmonischen Geschlossenheit der Dinge, die nur für sich selbst da sind, urteilslos und unbefangen. Damals haben wir junge Menschen an ihm die Vollendung lieben gelernt, wir haben erkannt durch ihn, daß es dem gesteigerten Willen, dem dämonischen, noch immer möglich ist, mitten in unserer fragmentarischen Welt aus dem brüchigen irdischen Material für eine Stunde, für zwei, das Ewige, das Makellose aufzubauen, und er hat uns dadurch gewärtig gemacht, es immer wieder zu erwarten. Er ist uns damals ein Erzieher geworden und ein Helfer. Keiner, kein anderer in jener Zeit hat ähnliche Gewalt über uns gehabt.
Und so stark war diese Dämonie seines inneren Wesens, daß sie durchschlug wie eine Stichflamme durch die dünne Schicht seines äußeren Seins, denn er war ganz Glut, kaum zu halten in der schwächlichen Rinde seiner Körperlichkeit. Man wußte ihn, wenn man ihn einmal gesehen. Alles an ihm war gespannt, war Überschuß, vorbrechende Leidenschaft, es flackerte etwas um ihn wie die Funken um die Leydener Flasche. Der Furor war sein Element, das einzig Adäquate seiner Kraft, in der Ruhe schien er überreizt, war er ohne Bewegung, riß und zuckte es elektrisch an ihm. Man konnte sich ihn kaum müßig denken, schlendernd oder sanft, das Überheizte seines inneren Kessels verlangte immer Kraft, zu treiben, etwas vorwärts zu stoßen, tätig zu sein. Immer war er unterwegs, einem Ziele zu, wie mitgerissen von einem großen Sturm, und alles war ihm zu langsam, er haßte vielleicht das wirkliche Leben, weil es brüchig, zähe, träge, weil es Masse mit Erdschwere und Widerstand war und er zu jenem wirklichen Leben hinter den Dingen wollte, auf den äußersten Firnen der Kunst, wo diese Welt in den Himmel greift. Er wollte durch, durch alle diese Zwischenformen zu den reinen, zu den klaren, wo die Kunst durch Makellosigkeit zum Element wird, schlackenlos und kristallen, absichtslos und frei; aber dieser Weg ging, solange er Direktor war, durch das Tägliche des Betriebes, die Widerwärtigkeiten des Geschäftes, die Hemmungen der Böswilligkeit, durch das dicke Gestrüpp der menschlichen Kleinlichkeiten. Er riß sich wund daran, aber er ging, er lief, er raste nach vorwärts, wie ein Amokläufer diesem Ziele zu, das er außen wähnte, im Unnahbaren, und das doch schon in ihm lebte: der Vollendung. Ein Leben lang lief er so nach vorwärts, alles beiseite schleudernd, niederstoßend, zertretend, was Hemmnis war, er lief und lief, wie von der Angst gejagt, die Vollendung nicht zu erreichen. Hinter ihm gellten die hysterischen Schreie der gekränkten Primadonnen, das Stöhnen der Bequemen, das Höhnen der Unfruchtbaren, die Meute der Mittelmäßigen, aber er wandte sich nie zurück, er sah nicht, wie die Zahl seiner Verfolger anschwoll, spürte die Prügel nicht, die sie ihm in den Weg warfen, er stürmte weiter und weiter, bis er stolperte und fiel. Man hat von ihm gesagt, diese Widerstände hätten ihn gehemmt. Es mag sein, daß sie sein Leben unterhöhlten, aber ich glaube es nicht. Dieser Mensch brauchte Widerstände, er liebte sie, er wollte sie, sie waren das bittere Salz des Alltags, das ihn immer nur noch lechzender machte nach den ewigen Quellen. Und in den Tagen der Ferien, wenn er ledig war all dieser Lasten, in Toblach oder am Semmering, da türmte er sich selbst die Widerstände vor sein Schaffen. Klötze, Gebirge, Urgestein des Geistes. Das Höchste der Menschheit, den zweiten Teil des Faust, das Urlied vom schöpferischen Geist »Veni creator Spiritus« setzte er selbst als Damm vor seinen musikalischen Willen, um ihn dann mit seiner Schöpfung zu überströmen. Denn Kampf mit Irdischem war seine Gotteslust, ihr war er hörig bis zum letzten Tag. Das Elementare in ihm liebte das Ringen der freien Elemente mit der irdischen Welt, er wollte keine Rast, weiter, weiter, weiter trieb es ihn zur einzigen Rast des wahren Künstlers: zur Vollendung. Und mit letzter Kraft, ein Todgeweihter, hat er sie im »Lied von der Erde« noch erreicht.
Unbeschreiblich, was uns jungen Leuten, die wir den Willen zur Kunst in uns gären fühlten, das feurige und hier im Freien der Öffentlichkeit aufgeschlagene Schauspiel eines solchen Menschen war. Ihm uns unterzuordnen, war unsere Sehnsucht, ihm zu nahen, hemmte uns eine Scheu, rätselhaft und geheimnisvoll, wie man etwa nicht wagt, an den Rand eines Kraters zu treten und in die kochende Glut zu schauen. Nie versuchten wir, uns ihm anzudrängen, sein bloßes Sein, sein Dasein, das Bewußtsein seiner Existenz nahe bei uns, mitten in unserer gemeinsamen äußeren Welt, war uns schon Glück. Ihn gesehen zu haben, auf der Straße, im Kaffeehaus, im Theater, immer von fern, zählte schon als Begebnis, so sehr liebten, so sehr verehrten wir ihn. Noch heute ist sein Bild in mir wach, wie das weniger Menschen, ich weiß jedes einzelne Mal, wenn ich ihm von fern begegnete. Immer war er ein anderer und immer derselbe, weil ständig belebt von der Vehemenz des seelischen Ausdruckes. Ich sehe ihn bei einer Probe: zornig, zuckend, schreiend, gereizt, leidend an allen Unzulänglichkeiten, wie von körperlichem Schmerz, sehe ihn einmal heiter irgendwo auf der Gasse im Gespräch, aber auch da elementar, von einer so naturhaft kindlichen Heiterkeit, wie Grillparzer die Beethovens schildert (und von der in seinen Symphonien manche Seite körnig durchmischt ist). Immer war er irgendwie mitgerissen von einer inneren Kraft, immer im ganzen belebt. Aber unvergeßlich wird mir das eine, das letzte Mal sein, da ich ihn erblickte, weil ich noch nie so tief, so mit allen Sinnen das Heroische eines Menschen gespürt. Ich reiste von Amerika herüber, und auf demselben Schiffe war er, todkrank, ein Sterbender. Vorfrühling lag in der Luft, die Überfahrt ging sanft durch ein blaues, leichtwogiges Meer, ein paar Menschen hatten wir uns zusammengefunden, Busoni schenkte uns, den Freunden, von seiner Musik. Immer lockte es uns, froh zu sein, aber unten, irgendwo im Schacht des Schiffes, dämmerte er, behütet von seiner Frau, und wir fühlten es wie Schatten über unserm leichten Tag. Manchmal, wenn wir lachten, sagte einer: »Mahler! Der arme Mahler!« und wir wurden stumm. Tief unten lag er, ein Verlorener, verbrennend im Fieber, und nur eine kleine, lichte Flamme seines Lebens zuckte oben im Freien am Verdeck: sein Kind, sorglos im Spiel, selig und unbewußt. Wir aber, wir wußten es: wie im Grabe fühlten wir ihn drunten, unter unseren Füßen. Und dann in Cherbourg bei der Landung, im Remorqueur, der uns hinüberfuhr, sah ich ihn endlich: er lag da, bleich wie ein Sterbender, unbewegt, mit geschlossenen Lidern. Der Wind hatte ihm das ergraute Haar zur Seite gelegt, klar und kühn sprang die gewölbte Stirn vor, und unten das harte Kinn, in dem die Stoßkraft seines Willens saß. Die abgezehrten Hände lagen müdegefaltet auf der Decke, zum erstenmal sah ich ihn, den Feurigen, schwach. Aber diese seine Silhouette – unvergeßlich, unvergeßlich! – war gegen eine graue Unendlichkeit gestellt von Himmel und Meer, grenzenlose Trauer war in diesem Anblick, aber auch etwas, das durch Größe verklärte, etwas, das ins Erhabene verklang wie Musik. Ich wußte, daß ich ihn zum letztenmal sah. Ergriffenheit drängte mich nah, Scheu hielt mich zurück, von fern nur mußte ich auf ihn sehen und sehen, als könnte ich in diesem Blick noch von ihm empfangen und dankbar sein. In mir wogte dumpfgefühlt Musik, an Tristan mußte ich denken, den Todwunden, der heimkehrt nach Careol, seiner Väter Burg, aber es war doch ein anderes, tiefer noch, schöner, verklärter. Bis ich dann die Melodie fand und die Worte in seinem Werk, längst geschaffen, aber in diesem Augenblicke erst erfüllt, die todesselige, gottnahe Melodie im »Lied von der Erde« zu den Worten: »ich werde niemals in die Ferne schweifen ... still ist mein Herz und harret seiner Stunde.« Ureins sind mir jetzt die fast geisterhaften Klänge und dieser Anblick, dies verlorne und nicht zu vergessende Bild.
Aber doch, als er dann verging, war er uns nicht verloren. Seine Gegenwart war längst für uns kein Äußerliches mehr, tief eingepflanzt in uns, wuchs weiter, denn Erlebnisse, die das Herz einmal erreichten, haben kein Gestern mehr. In uns ist er lebendig heute wie je, tausendfach spüre ich noch heute seine untilgbare Gegenwart. Ein Dirigent in einer deutschen Stadt hebt den Taktstock. In seiner Geste, in seiner Art fühle ich Mahler, ich weiß, ohne zu fragen, daß er sein Schüler ist, daß hier das Magnetische seines Lebensrhythmus über die Existenz hinaus schöpferisch ist (so wie ich oft noch im Theater plötzlich Kainzens Stimme höre, deutlich, als käme sie aus einer verstummten Brust). Im Spiel mancher Menschen strahlt noch etwas von ihm aus, in der menschlich herben Haltung mancher der neueren Musiker ist seines Wesens oft nur gewollte Spiegelung. Aber am stärksten ist seine Gegenwart in der Oper selbst, im stummen und klingenden, im wachenden und ruhenden Haus, wie ein Fluidum ist hier sein Wesen eingedrungen, nicht auszulöschen durch alle Exorzismen. Die Kulissen sind verblaßt, das Orchester ist nicht das seine mehr, aber doch, in manchen Aufführungen – in »Fidelio« vor allem, »Iphigenie« und der »Hochzeit des Figaro« – spüre ich manchmal durch die eigenwillige Übermalung Weingartners, durch die dicke Staubschicht von Gleichgültigkeit, die sich seit Gregor über diesen kostbaren Besitz gelegt, durch all den Spinnweb des Verfalles etwas von seiner Vehemenz des Gestaltens, und unwillkürlich greift der Blick hin zum Pulte nach ihm. Irgendwo ist er noch immer in diesem Haus, durch Rost und Schutt schimmert noch Glanz seines Wesens, wie letzte verlöschende Glut manchmal aufleuchtet in der Asche. Selbst hier, wo er im Vergänglichen schuf, wo er nur Luft zum Tönen brachte und Seelen in Schwingung, selbst hier ist noch irgendwo im Unbelebten seines Wirkens eine Spur im Schatten rege, selbst schon schattenhaft, und im Schönen, im Vollendeten fühlen wir hier immer noch ihn. Ich bin mir bewußt, nicht unmittelbaren Empfindens seine Opern bei uns je mehr sehen zu können, mein Fühlen in diesem Räume ist zu sehr gemengt mit Erinnern und alles Genießen vermindert durch Vergleichen. Er hat uns alle ungerecht gemacht wie jede große Leidenschaft.
So hat sein Dämon auf uns, auf eine ganze Generation gewirkt. Die andere, die nun zu ihm tritt, seinem Lebensbilde fremd, die nur das lieben kann, was von seiner geheimnisvollen Feurigkeit sich sublimierte in Musik, weiß nicht sein ganzes Wesen. Ihnen tönt Mahlers Werk schon aus dem Wesenlosen, aus den hohen Himmeln der deutschen Kunst, uns ist für immer das hohe Beispiel gewärtig, wie er sein Unendliches dem Irdischen entrang. Die Essenz nur kennen sie, den Duft seines Wesens, während wir noch die glühende Farbe kannten, die diesen Kelch umschloß. Ein Bild dieser Zeit, eine Brücke der Worte zu jenen Tagen zurück ist freilich erbaut in dem schönen Buche von Richard Specht (»Gustav Mahler«, Berlin, Schuster & Löffler, 1914), das wert ist, von jedem gelesen zu sein, weil es ehrfürchtig ist, ohne abgöttisch zu werden, vertraut, ohne sich vertraulich zu gebärden, weil es nicht formulieren will, ein Lebendiges und erst Blühendes schon verschnüren wie ein Dokument, sondern nur dankbar sein für ein Erlebnis, für das Erlebnis Gustav Mahler. Auch hier ist der Rhythmus jener vollendeten Abende darin und der Wille des Meisters, lieber das Einzelne ganz und makellos zu geben, wie voreilig zusammenzuraffen. Immer, wenn ich es aufschlage, wird mir Verlorenes lebendig: einen Abend von einst sehe ich, Stimmen fluten auf, Bilder grüßen, das Vergängliche wird wieder Erlebnis und immer spüre ich ihn, den Lebendigen, darin, den Willen, dem all dies entströmte und in dem es sich wieder zusammenschloß. Es ist die Hand des Dankbaren, die einen führt, und ich spüre sie selbst wieder dankbar, weil sie auch die eines Wissenden ist, die näher heranführt an das Geheimnis Mahlers. Und wo die Worte des Buches nicht mehr führen, sondern nur begleiten – denn wie könnte man Musik anders darstellen als im Gedicht, das selbst nur Musik ist, selig verwandelte –, da ist nun die Zeit selbst wach geworden und hilft mit an dem Werke. Die Lieder Mahlers, sie tönen nun selbst, seine symphonischen Werke dürfen sich erfüllen, und jetzt noch, in den Frühlingstagen, sammelt er in Wien die Menschen um sich. In demselben Saale, wo man ihm die Türe wies, hat sein Werk sich Einlaß erzwungen, er lebt nun unter uns wieder wie einst. Sein Wille ist erfüllt und es ist Wollust, den Totgemeinten als selig Erneuten zu spüren.
Denn er ist auferstanden, Gustav Mahler, in unserer Mitte, fast als die letzte der deutschen grüßt unsere Stadt wieder den Meister. Noch fehlen die Zeichen der klassischen Einkleidung, noch weigert man ihm das Ehrengrab, noch trägt keine Gasse stolz seinen Namen, noch schmückt seine Büste – selbst von Rodin ein vergeblicher Versuch, diesen Feurigen im starren Erz zu fassen – nicht des Hauses Gang, das er wie keiner beseelt und zum geistigen Wahrbild der Stadt gemacht. Noch zagen und warten sie. Aber eines ist schon geschehen, die Hasser und Hetzer gegen ihn sind verschwunden, sie haben sich verkrochen in alle Winkel der Scham und zumeist in jene letzten schmutzigsten und feigsten, in die falsche verlogene Bewunderung. Die gestern noch Crucifige schrien, rufen heute Hosianna und salben das nachschleifende Kleid seines Ruhmes mit Myrrhen und Spezereien. Verschwunden sind die Übelgesinnten von gestern, keiner, keiner will es gewesen sein. Denn so unfruchtbar sind die Hasser und Hetzer, daß sie furchtsam werden, wenn ihr eigener Haß seine Früchte trägt. Tumult und Zwist – der Meinungen wie der Völker – ist ihre trübe Welt, aber sie werden ohnmächtig, wo immer ein Wille sich seine Ordnung schafft und Reinheit der Einheit unaufhaltsam entgegenstrebt. Denn die großen Gewalten sind stärker als der Tag und die Stunde und jedes Wort des Hasses wesenlos gegen das willensgestaltete Werk.