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1935
Es war zu Anfang dieses Jahrhunderts, da erklang auf dem deutschen Theater zum erstenmal die Stimme eines jungen unbekannten Schauspielers. Man horchte auf. Denn es war eine neue Stimme, anders als die andern, ein neuer, ein süßer Ton war darin, unvergeßlich und unverkennbar, wenn man ihn nur einmal gehört. Sie war harmonischer, gebundener, weicher, melodischer als die deutschen Stimmen, ein goldener, ein warmer Ton schwang in ihr, als hätte Südwind sie über die Berge mit linder Schwinge getragen, und wir, wir spürten das Italienische in ihr, das uns sonst auf der Bühne nur im Gesänge beglückt. Aber melodisch wie die Stimme, so war auch dieser Körper, leicht und geschmeidig, die Anmut eines Epheben war darin und doch die Kraft eines Fechters; herrlich war es, diesen jungen Menschen anzuschauen, der in allen Verwandlungen gleich bezaubernd blieb, als Herr und als Knecht, als Fürst und als verlorene Seele und am schönsten, am berückendsten als Liebhaber. Da ward diese seine Stimme Musik, sein ganzer Körper zur Zärtlichkeit; schon wenn man ihn bloß ansah, spürte man seine italienisch plastischen Gesten, schon vordem Worte bereits die Werbung. Und wer konnte ihr widerstehen? Eine ganze Generation hat ihn geliebt, diesen wundervollen Liebhaber, er sprach, er sang sich hinein in das Herz der ganzen deutschen Nation.
Aber in diesem knabenhaft schlanken Körper war eine brennende Seele, in diesem hellenisch schönen Haupte ein wacher und begieriger Geist. Die Welt der zärtlichen Gefühle ward diesem großen Künstler bald zu eng, ihm war es nicht genug, immer nur der Liebhaber zu sein, der begehrende und begehrte Jüngling; ein großer Durst war in ihm nach den tieferen Geheimnissen des Lebens. Auch in die anderen Seelen wollte er sich verwandeln, in die heroisch Leidenden, in die kühn Machtvollen, in die von düstern Fragen Verzehrten. Nicht Romeo wollte er bloß in tausend Formen bleiben, der ewige Jüngling, sondern auch Faust sein, der geistige Schwärmer, und Mephistopheles, der ewige Verneiner, und Oedipus, der Kämpfer gegen das übermächtige Schicksal, und Hamlet, der unwillige Knecht seiner Gedanken – nein, eine brennende Seele wie die seine konnte sich nicht bannen in das enge Gefäß eines »Faches« (wie man im Theaterjargon sagt), sie wollte überströmen in alle Formen des schöpferischen Geistes, sich erfüllen in immer höheren Erfüllungen. Jede irdische Gestalt, in der er Raum fühlte, Menschliches bis an jene Grenze zu entwickeln, wo es das Göttliche berührt, zog ihn an, und nicht die lauten Helden, die panzerklirrenden des Krieges, sondern die Helden des Leidens waren ihm die nächsten. Ihnen wie uns allen wird unvergeßlich sein, wie er den Fedja im »Lebenden Leichnam« spielte, seine liebste Rolle, den zerstörten Menschen, erdrückt von seiner eigenen Schuld, aber auch geläutert von ihr; nichts lockte ihn mehr als zu zeigen, daß das Tiefste, das Reinste in einem Menschen auch sein Unzerstörbarstes ist und daß der Hammer des Schicksals, statt den wahren Menschen zu vernichten, ihn nur von den Schlacken des Irdischen löst und reiner, freier herausarbeitet. Immer mehr und mehr zog ihn die Tiefe des menschlichen Charakters an, die verwirrten, die verstrickten, die sündigen Seelen waren der seinen die liebsten und nichts drängte ihn so sehr als zu zeigen, wie aus den Trümmern seines Lebens ein Mensch immer wieder aufersteht.
Diese Liebe zu den tiefen und in sich verworrenen Seelen entstand bei Moissi aus dem Grunde, daß er selbst eine tiefe Natur war. Ihn reizte das Problem an sich, und wer das Glück hatte, ihn nah zu kennen, der weiß, daß seine liebste Lust das geistige Gespräch war, die brennenden Diskussionen. Oh lange Nächte: wohin seid ihr vergangen, da man mit ihm saß, dem innigsten der Freunde, und er sich brennend erregte an geistigen oder moralischen Problemen? Wie wunderbar strömte ihm da die Rede, wie herrlich beherrschte er, wie elegant und geschmeidig das blitzende Florettspiel der sich kreuzenden Argumente, wie gab er sich hin, wie glühend, wie leidenschaftlich, wie ganz! Denn Geistiges und Menschlichstes war dieses Theaterspielers tiefste Lust. Nie sah man ihn gemächlich und eitel seinen Ruhm verwalten, er lebte ohne Spiegel, er ging nicht in die Gesellschaften, um dort zu glänzen, und die Salons, diese Stätten der geschwätzigen Neugier, haben ihn niemals gesehn. Nur mit Dichtern, mit Musikern, mit Kameraden beisammen zu sein, hatte für ihn Reiz, und seine geheimste Begierde galt dem Schöpferischen – selber einmal zu schaffen und nicht nur nachzubilden, nicht nur in Masken zu schlüpfen, sondern selbst Menschliches zu gestalten. Sein Napoleon-Drama ist ein solcher Versuch, und wer, frage ich, wer von allen andern Schauspielern unserer Tage hat sich so sehr dem Begriff des Schöpferischen genähert als er in diesem Werk? Er wußte zuviel von dem Schein des Theaters, um nicht auch die andere Welt zu begehren, die des wahren Seins; nicht die nächste Rolle allein, auch die Wirklichkeit, das ungeheuer dramatische Leben unserer Zeit erregte seine Leidenschaft. Und je mehr er Anteil nahm, um so weiter und wissender wurde er, nichts war ihm mehr unverständlich und schwierig, und so war er am Wege, der wahrhaft universalische Schauspieler unserer Zeit zu sein, an nichts gebunden und allem verbunden – Proteus, der Gott der ewigen Verwandlung und doch immer göttlich in allen seinen Formen.
Aber das ist vorbei. »Vorbei« – ein unbegreifliches Wort, nennt es einmal Faust. Denn wirklich, wie es fassen, daß etwas, was in uns so in tausend Formen lebt, was unserm Auge gegenwärtiges Bildnis ist, unserm Ohre noch Musik, was Erregung noch ist und Nahrung unserm Gefühl, »vorbei« sein soll, nicht mehr da, nicht mehr vorhanden? Wie es fassen, daß wir hier »Moissi« sagen und damit den Lebendigen, den ewig in uns Lebendigen meinen und nicht ein Nichts, das nicht mehr spricht und atmet und glüht. Nein, denken wir diesem Unausdenkbaren nicht nach, daß er nicht mehr da ist, denken wir einzig an das Unvergeßliche, das von seinem Wesen ausging: an die Abende unserer Jugend, da wir die Augen schlossen, um tiefer in uns hinein die Musik seiner Stimme zu hören, und doch wieder blickten, um nicht eine Geste von ihm zu verlieren – denken wir die Stunden wieder in uns wach, da wir rasch hinter die Bühne drängten, nur rasch ihn zu umarmen oder nur seine Hand zu fassen, denken wir, nein, fühlen wir die Wärme, die er in ihr so wunderbar erregte, und daß von diesem einen Menschen, weil er so herrlich menschlich war, zu Millionen derart bestärkende Wirkung ging. Denken wir daran und danken wir ihm, der nun nicht mehr antworten kann, für alles Wissen um den Menschen und die Seele, die er uns gelehrt – und ich glaube, es gibt keine reinere Lust im Menschen, als um das Menschliche zu wissen. Wer uns gelehrt in dieser heiligen Kunst, der sei gesegnet; wer für sie lebt und leidet, der sei geliebt.
Einen wundervollen, einen einzigen Künstler haben wir in ihm verloren, wir und ihr. Ziemt es da noch zu fragen, was Alessandro Moissi im tiefsten Grunde war, was zuerst und was zutiefst – ein deutscher Schauspieler oder ein italienischer? Nein, gemeinsame Liebe rechtet nicht. In jeder großen Künstlerseele leben viele Seelen und an der höchsten, der herrlichsten Stufe enden alle Unterschiede: wer sie erreicht, gehört nicht einer Nation mehr, sondern allen Nationen, nicht einem Lande, sondern der ganzen Welt. Eine solche Seele war unser Alessandro, in tausend Leben lebte er sein Leben. Er war Grieche mit Sophokles und Engländer mit Shakespeare, war Deutscher mit Goethe und Hauptmann und Hofmannsthal, Russe mit Tolstoi und Dostojewskij, war Italiener mit d'Annunzio und Pirandello, er war auch als Schauspieler der »Jedermann«, der »Everyman«, der »Ognuno«, Weltbürger jenes heiligen Reichs der Kunst, wo der Blick sich aus dem Irdischen gegen das Göttliche richtet, gegen die heilige Einheit über aller Verschiedenheit. Aus diesem Unbegreiflichen ist er gekommen, in dieses Unbegreifliche ist er wieder dahingegangen – gemeinsames Glück für uns alle sein Kommen, gemeinsamer Schmerz sein Entschwundensein.
Brüderlich sei darum auch in dieser Stunde unser Gedenken. Halten wir inne mit dem Wort, das ihn nicht mehr erreicht, um noch einmal im Schweigen seine Stimme von innen zu vernehmen, um noch einmal mit dem geistigen Blick seine geliebte Gestalt zu sehen, jeder für sich, jeder in seiner eigenen Seele. Dann ist er nicht allein mit sich in seinem Tode, dann ist er nicht entschwunden, sondern als geliebter Freund, als unverlierbare Gestalt in unserer Mitte, der große Künstler, den die italienische Erde der Welt gegeben, er, Alessandro Moissi, der Stern unserer Jugend, das Sinnbild der Schönheit im Wesen und im Geiste, er, der Freund, der Gefährte, den wir verloren haben und doch nicht verlieren wollen. Halten wir Treue seinem inneren Bildnis und Ehre und Liebe seinem Gedenken.