Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sexualneurasthenie

Zusammenfassende Darstellungen: Ellis, Die Funktionsstörungen des Sexuallebens. Handb. f. Sexualwissensch., herausg. v. A. Moll. 7. Hauptabschnitt. Leipzig 1912. – Rohleder, Die Funktionsstörungen der Zeugung. 2. Aufl. – Freud, Beiträge aus der Psychologie des Liebeslebens. Zur Einführung des Narzissmus. Ges. Werke, Psychoanalyt. Verlag, 1924. – Löwenfeld, Über sexuelle Konstitution. Wiesbaden 1911. – Allers, Psychologie des Geschlechtslebens, in Handb. d. vergl. Psychol. München, Reinhardt 1922. – Adler, a. a. O. zitierte Werke.

Name und Abgrenzung stammen von Beard. Die für die Neurasthenie durch lange Zeit festgehaltene Definition findet sich bei Krafft-Ebing wieder: »Reizbare Schwäche der Nervenfunktion im Bereiche des Sexuellen.« Auch die andern Autoren sind über diese Definition nicht hinausgekommen, sofern sie die sexuelle Neurasthenie als selbständige Krankheit abgrenzen wollten.

Zur Ätiologie dieses Symptomenkomplexes findet man in der älteren Literatur wenig befriedigende Hinweise. Die Annahme einer neuropathischen Anlage deutet wenigstens auf eine Zusammenhangsbetrachtung, indem sie andere Seelenerscheinungen gleichzeitig in den Kreis der Erwägung zieht. Freilich nicht ohne das Problem in das Dunkel der allgemeinen menschlichen Degeneration zu verschieben. Noch weniger überzeugend wirken Angaben über Masturbation, Exzesse in venere, über abnormen Geschlechtsverkehr, coitus interruptus, sexuelle Abstinenz, vorausgegangene Gonorrhöe und Gemütserregungen. Alle diese als ätiologisch behandelten Faktoren lassen zumeist ihre Bedeutung als Symptome oder als Begleiterscheinungen erkennen, denn wer »sexuelle Neurasthenie« im Zusammenhang mit diesen Erscheinungen erwirbt, ist schon vorher neurotisch gewesen.

Der Symptomenkomplex der unter diesem Titel abgehandelten Erkrankung betrifft Schwäche der Erektion, Ausfall der Ejaculation, gehäufte Pollutionen im Schlafe, Pollutionen lange oder kurze Zeit vor der Kohabitation, Ejaculatio praecox, Impotenz, Spermatorrhöe, lang andauernde Erektionen, schmerzhafte Empfindlichkeit der Glans, Schmerzen in der Harnröhre, bei Frauen Pollutionen im Wachen und im Schlafe, Frigidität und Vaginismus, bei beiden Masturbationszwang. Manche Autoren sind geneigt, alle Formen von Perversion zur sexuellen Neurasthenie zu rechnen.

Der Verlauf aller dieser Erscheinungen, die entweder bald oder auch spät nach der Pubertät in Erscheinung treten, ist, abgesehen von gelegentlichem Auftreten, meist langwierig. Das Leiden trotzt zumeist allen medikamentösen, hydropathischen und endokrinologischen Kuren, ist aber unter allen Umständen psychischen Beeinflussungen zugänglich. Um ein Verständnis dieser Leiden zu erlangen, wird es sich lohnen, sie alle unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zu bringen und festzustellen, daß alle sexuellen Neurastheniker ein im ganzen auffälliges Vorleben aufweisen. Als dessen entscheidendes Endergebnis läßt sich entnehmen, daß sie durch eine ungeeignete Stellungnahme zum Leben für die Liebe mangelhaft vorbereitet erscheinen. Auch in ihren anderen Lebensbeziehungen zeigt sich dieser Mangel, manchmal freilich nicht mit so auffallender Deutlichkeit. Immer handelt es sich um Menschen, die seit der Kindheit durch ihre seelische Überempfindlichkeit auffallen. Aus ihrem Charakterbild ragen Züge von Ehrgeiz, Eitelkeit, Ungeduld, Vorsicht und Ängstlichkeit stark hervor. Sie zeichnen sich durch kritische Neigungen, pessimistische Grundanschauungen aus, haben ihren Lebenskreis meist auffallend eingeschränkt und neigen zu einem Leben in Isolierung. Stimmungswechsel deuten auf ihre Schwäche, frohe Laune und Lebensmut festhalten zu können. Ihre von Zeit zu Zeit (»periodisch« nennen es die Autoren) durchbrechende Lebensfreude ist immer forciert und als Kompensationsversuch eines Minderwertigkeitsgefühls zu verstehen. Kretschmers Versuch, Menschen mit dieser Verhaltungsweise als »Pykniker« von »Schizoiden« abzutrennen, ist unzulänglich, da er den gemeinsamen Untergrund, das gemeinsame Minderwertigkeitsgefühl und den daraus entspringenden nervösen Charakter übersieht oder zu leicht nimmt. Übrigens kommt es im Leben nie darauf an, was einer mitbringt, sondern was er daraus macht.

Bei diesem weitverbreiteten Typus von Menschen ist das Zutrauen in die eigene Kraft vermindert oder geschwunden. Die Stimmungslage, die daraus entspringt, und ihre Folgen lassen sich nicht materiell begründen, sondern nur psychologisch begreifen. Dies um so mehr, als uns Heilerfolge mit allen möglichen Mitteln, vor allem aber die Einsicht in den tieferen Zusammenhang und die großen, auf Ermutigung gerichteten Vorzüge der individualpsychologischen Behandlung davon überzeugen können, daß diese Übel nicht kausal begründet sind, sondern in einer irrtümlichen Haltung zum Leben wurzeln.

Unsere Erfahrungen zwingen uns, das Verständnis für jede der abnormen sexuellen Ausdrucksweisen aus dem Verständnis des ganzen Menschen herzuleiten, nicht etwa umgekehrt, wie es die Freudsche Psychoanalyse lehrt. Man soll aber nicht übersehen, daß manche der oben genannten Leiden aus eingewurzelten Technizismen erwachsen, für die aus der Phantasie die erleichternde Grundlage geschaffen wurde wie beispielsweise bei Pollutionen und Ejaculatio praecox. Andere wieder, wie insbesondere Parästhesien, Hyperästhesien, schmerzhafte Sensationen und Spermatorrhöe, scheinen nach meinen Erfahrungen mit frustranen Erregungen und protrahiertem coitus und ebensolcher Onanie im Zusammenhang zu stehen. Ich habe einige solcher Fälle beobachtet, bei denen bei solchem Abusus größere oder kleinere Blutungen aus der Harnröhre auf einen Reizzustand in der hinteren Harnröhre schließen ließen. Auch für gehäufte und lang andauernde Erektionen besteht dieses Verdachtsmoment, das von andern Autoren auch als Erklärung der Ejaculatio praecox herangezogen wurde. Man soll aber in diesen Fällen immer auch an unterstützende oder grundlegende psychische Zusammenhänge denken, wie bei Ejaculatio praecox, bei der ich immer Hinweise auf nervöse Ungeduld und auf die Furcht vor einer intensiveren Bindung fand. Letzteres im Zusammenhang mit Furcht vor Nachkommenschaft konnte ich auch bei Mangel des Orgasmus und der Ejaculation beobachten.

Gehäufte Pollutionen und Zwangsmasturbation nach der Pubertät deuten in erster Linie auf Furcht vor der Frau; wir finden darin die erotische Ausdrucksform des Isolierten. In der Literatur finden sich gelegentlich Annahmen, als ob die letzte Ursache für solche Erscheinungen die Verliebtheit in den eigenen Körper, der Narzissmus ( Naecke), wäre. In Wirklichkeit ist diese Verliebtheit sekundär, Notprodukt, und kommt durch Ausschaltung anderer Sexualobjekte zustande. – Die gleichen Sexualformen können, wenn sie Beunruhigung stiften, einen Wink für den Arzt bedeuten, durch sein Machtwort doch dem Zaudern des Patienten ein Ende zu machen und ihm den Sexualverkehr zu befehlen: es tritt die Absicht zutage, sich um die Verantwortlichkeit herumzudrücken.

Nebenbei: den Verkehr mit Prostituierten raten wir abzulehnen. Der Patient muß für honette weibliche Gesellschaft und für die Liebe erzogen werden. Der billige und feige Ausweg in die Prostitution erschwert diese richtige Lösung und leistet dem Minderwertigkeitsgefühl Vorschub.

Vaginismus, schmerzhafter Krampf der Scheidenmuskulatur, ist der körperliche Ausdruck für »Nein!« Die individualpsychologische Untersuchung ergibt in solchen Fällen Isolierungstendenzen, Abneigung gegen die Frauenrolle, die nicht über die Vorbereitungen hinaus gediehen ist, Furcht vor Verlust an Eigenwert, vor Herabsetzungen und Enttäuschungen. Brüskes Auftreten des Mannes und Schmerzen bei Kohabitationsversuchen, auch kleine Verletzungen am Scheideneingang können bei seelisch disponierten Frauen den Krampf auslösen oder steigern. Gelegentlich kann eine absonderliche Festigkeit des Hymens als auslösendes Moment in Betracht kommen.

Bei Vaginismus als auch bei Frigidität kann die Klitorisempfindlichkeit, meist als Überbleibsel masturbatorischer Ansprechbarkeit, erhalten sein. Immer ist die Geschlechtskälte ein Zeichen von Leidenschaftslosigkeit gegenüber einem bestimmten Manne oder gegenüber allen Männern. Frigide Frauen »gehen nicht mit«. Die seelischen Ursachen sind die gleichen wie bei Vaginismus. Nur daß letzterer eine Defensive darstellt, Frigidität eine passive Resistenz. Man wird bei »kalten Frauen« auch in ihren sonstigen Lebensbeziehungen eine äußerliche Fügsamkeit finden, ein Geschehenlassen. Die Kälte kann von Anfang an bestehen. Sie kann aber auch bei eintretenden Enttäuschungen auf eine Zeit normalen Geschlechtsgenusses folgen. Die Befriedigung bei Verkehr mit einem andern Mann wird wesentlich gefördert durch die stürmische Absicht, die mangelhafte Eignung des früheren Partners zu erweisen.

Die Feststellungen der Individualpsychologie Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie. IV. Auflage. J. F. Bergmann, München, 1930. – Ferner: Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie, Jahrgang I-VIII., vor allem ihre Nachweise über nervöse Symptome als Ausdrucksformen, haben zum Verständnis der Psychoneurosen viel beigetragen, soviel, daß sich heute keine neurologische Schule und kein praktizierender Arzt an neurologische Probleme heranwagen kann, ohne zu den individualpsychologischen Anschauungen Stellung genommen zu haben.

Es ist ein irreparabler Fehler, Symptome aus ihrem naturgegebenen Zusammenhang zu reißen und isoliert zu betrachten. Ein solcher, derzeit in der Neurosenpsychologie noch allgemein geübter Vorgang gleicht dem Beginnen, aus einer Melodie eine Note herauszuholen und einzeln zu betrachten. Für das Verständnis nervöser Erscheinungen ist ihr gesellschaftlich gegebener und sich gesellschaftlich auswirkender Zusammenhang strenge im Auge zu behalten.

Deshalb ist die wichtigste Frage bei allen nervösen Symptomen, die also jeder organischen Grundlage entbehren: was geschieht bei der Gelegenheit? Die Antwort im Falle der psychischen Impotenz lautet: die sexuelle Bindung wird ausgeschaltet. Frägt man den Leidenden nach seinen Absichten, so wird man hören, was jedes Lebewesen im Sinne trägt. Frägt man aber nach den Gegengründen, so vernimmt man mehr als man sonst zu hören erwartet. Furcht vor Geschlechtskrankheiten, die schlechten »gegenwärtigen« Verhältnisse, Bedenken ein unschuldiges Mädchen zu verführen, einer Verführerin zum Opfer zu fallen, – diese und hundert andere, an sich diskutable Gründe bilden die vorderste Reihe der Sicherungen, gegen die sich die Dialektik des Arztes als kraftlos erweist, solange er nicht unseren Standpunkt einnimmt: Geschlechtsverkehr ohne Liebe ist eine Unart, die Liebe ist das einzige sichere Mittel gegen Geschlechtskrankheiten, sie verhindert auch die andern schädlichen Folgen. Es kann nicht Aufgabe des Arztes sein, zu einer Unart zu erziehen, auch wenn er sie derzeit nicht aus der Welt zu schaffen vermag.

Nach dieser Erledigung gerät man auf die zweite Front der Sicherungen: die Furcht vor Blamage. Nach den landläufigen Grundsätzen der vereinfachten Menschenkenntnis (»Wer zuviel beweist, beweist zu wenig« usw.) stellt man die Sachlage richtig: diese Furcht vor einer Niederlage stellt ein viel bedeutsameres Motiv dar als die früher genannten. Sie ist so eigentlich der Provokateur der anderen Sicherungen. Solange sie besteht, ist der sexuelle Elan soweit ausgeschlossen, daß Wünsche, Gefühle und – Worte gar keine Bedeutung haben.

Ist demnach die individualpsychologische Auffassung, der Impotenz liege ein Minderwertigkeitsgefühl zugrunde, als erklärendes Prinzip über jeden Zweifel erhaben, insbesondere da sie auch therapeutisch einen unvergleichlich sicheren Standpunkt bietet, – so wird unsere Überzeugung (der Impotenz liege ein Minderwertigkeitsgefühl zugrunde) unerschütterlich, sobald wir nun wahrnehmen können, unserem Verdacht vorsichtig Folge leistend, daß die Impotenz als Krankheit überhaupt nur bei Menschen auftritt, die auch sonst in ihrem Leben die zögernde Attitüde aufweisen und mit gebremster Aktivität leben, sich gleichzeitig aber auch die höchsten Ziele stecken und zu einer Synthese gelangen: jeder Entscheidung auszuweichen, da sie gegen sie fallen könnte.

Eine solche Lebensform zeigt sich in einfachster Weise darin, daß mancherlei begonnen, aber nie etwas vollendet wird, daß der Anschluß an die Menschen mangelhaft und schwer sich vollzieht, und daß die Liebesbeziehungen immer nur mangelhaft gedeihen.

Ich habe für alle Verhinderungen, Lähmungen, Hemmungen und Symptome der Neurosen, die der Lösung der Lebensaufgaben hindernd oder erschwerend im Wege stehen, gezeigt, daß sich, wenn man von ihnen gänzlich absieht, aus der richtig erkannten Persönlichkeit des Patienten eine ganze Reihe von Gedankengängen, Haltungen und Ausdrucksformen finden lassen, aus denen die gleichen Verhinderungen hervorgehen könnten wie aus den Symptomen. Nur daß diesen seelischen Bewegungen die Konsequenz abgeht, daß sie zu keiner dezidierten Haltung, zu keiner entschlossenen Bewegung führen. Aber anstelle dieser zu erwartenden Konsequenz tritt das Symptom, in unserem Falle die Impotenz, ein. Es ist, als ob durch die erwähnten seelischen Abhaltungen der nötige Elan geschwächt würde, als ob dem sehnlichst gewünschten Ziel der Sexualbefriedigung eine Anzahl von Gegengründen im Wege stünden.

Aber diese Gegengründe und das ihrer Stärke entsprechende Symptom sind durchaus nicht Zufälligkeiten, Gedankenlosigkeiten oder grundlose Schwächen. Sondern sie sind erwachsen aus der Schwachmütigkeit der ganzen Persönlichkeit, deren Endabsicht nach einer reibungslosen Überlegenheit, zumindestens nach einem Zustand »absoluter Konfliktlosigkeit« gerichtet ist Seif: a. a. O.. In der sexuellen Impotenz zeigt sich die Schwachmütigkeit des Patienten auf einer der Hauptlinien des Lebens materialisiert, der Kranke weicht der Aggression aus, die er selbst sehnlichst wünscht, und während die Sprache des Mundes, während seine Gedanken und Wünsche seiner Sehnsucht Ausdruck verleihen, spricht sein Körper, sein Sexualorgan, eine andere Sprache, zeigen letztere die Ausdrucksform seiner Feigheit.

So erklärt sich auch die oft wechselvolle Gestaltung der Impotenz im Leben des Kranken. Unter gewissen, mildernden Bedingungen gelingt der Geschlechtsverkehr. So bei liebevollem, hilfsbereitem Entgegenkommen, bei Wegfall aller Konsequenzen, mit untergeordneten, niedriger stehenden Personen, mit jugendlichen, mit alten Frauen, unter Zuhilfenahme von körperlichen und seelischen Reizmitteln, nach freundlichem, geduldigem Zuspruch des Partners, in der Zeit bis zur Erwerbung einer Geschlechtskrankheit, bis zu einer Enttäuschung, nach Zuspruch des Arztes, nach Einnahme von Alkohol oder eines Medikamentes, bei Anwendung eines äußerlichen Reizmittels usw. Wieviel Spielraum dabei der Suggestibilität des Patienten, seiner Leichtgläubigkeit gegeben ist, geht auch daraus hervor, daß alle diese erleichternden Bindungen ebenso oft versagen als nützen.

So ist es aber auch verständlich, daß die mannigfachsten Einwirkungen gelegentlich Erfolg haben und den Arzt wie den Patienten verleiten an die Richtigkeit seiner Anschauung zu glauben. In der Tat ist es die vorübergehende oder dauernde Hebung des Mutes, gleichviel ob mit oder ohne Wissen des Arztes, der der Erfolg zuzuschreiben ist.

Immer jedoch wird man bei der psychischen Untersuchung dieser Patienten feststellen können, daß ihnen der Kontakt mit andern Menschen in jeder Richtung schlecht gelingt. Sie sind keine richtigen Mitmenschen, ihr Interesse für die gegenwärtige und künftige Gesellschaft ist ziemlich gering. Es scheint die natürliche Konsequenz ihrer Lebensanschauung, daß »ihr Samen ausgerottet wird«, – wenn sie ihre Stellungnahme nicht ändern.


 << zurück weiter >>