Hans Christian Andersen
Der Improvisator
Hans Christian Andersen

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Das Judenmädchen.

Daß ich ohne Erlaubnis eines Abends ausgewesen war, ja sogar mit Bernardo in einer Osteria Wein getrunken hatte, ängstigte mich einige Zeit, aber der Zufall war mir günstig; niemand hatte mich vermißt, oder auch hatten sie, wie der alte Kustode geglaubt, daß ich Urlaub hätte; ich war ja als der ruhigste, als der gewissenhafteste Mensch bekannt. Die Tage glitten still dahin und verwandelten sich in Wochen; ich studierte fleißig und besuchte inzwischen meine Wohlthäterin; dies war mein größter Ansporn und Erheiterung. Ihre kleine Abbedissa gewann mich von Tage zu Tage lieber. Ich brachte dem Kinde Bilder, welche ich selbst als Knabe gezeichnet hatte, aber wenn sie einige Augenblicke mit denselben gespielt hatte, dann flogen sie zerrissen auf den Fußboden; ich sammelte die Stücke wieder auf und verwahrte sie.

Ich las in jener Zeit den Vergil; das sechste Buch, wo die kumäische Sibylle Aeneas in die Unterwelt hinabführt, fesselte mich der Verwandtschaft mit Dante wegen im höchsten Grade. Ich dachte dann an mein Gedicht und dabei recht lebendig an Bernardo, welchen ich so lange nicht gesehen; ich sehnte mich recht sehr nach ihm. Es war gerade einer jener Wochentage, wo die Galerien des Vatikans geöffnet standen. Ich bat um Erlaubnis dorthin gehen zu dürfen, um mir die herrlichen Marmorgötter und die schönen Bilder anzusehen, mein eigentlicher Zweck war jedoch, meinen lieben Bernardo zu treffen.

Ich befand mich schon in dem großen langen Bogengange, wo die schönste Büste Raffaels steht, und wo die ganze Decke die Bibel in wunderlieblichen Bildern ist, von dem großen Meister selbst skizziert und von seinen Schülern ausgeführt. Die sonderbaren Arabesken die ganze Mauer hinauf, die Legion von Engeln, die in jedem Bogen knieen und sich auf großen Flügeln in das Unendliche emporschwingen, waren mir nicht neu; jedoch hielt ich mich hier trotzdem lange auf, als ob ich sie betrachtete, wartete indes eigentlich auf den glücklichen Zufall, der Bernardo hier hindurch führen würde. Ich lehnte mich an das Geländer und bewunderte die prächtige Bergformation, die stolzen Wellenlinien jenseits der Campagna, aber mein Auge durchforschte auch die Höfe des Vatikans, ob es Bernardo nicht entdecken könnte, sobald ein Säbel klirrend gegen die breiten Fliesen stieß. Allein er kam nicht.

Vergebens durchwanderte ich die nächsten Säle, vergebens besuchte ich die Gruppe des Laokoon, es gewährte mir keine Zerstreuung und ich geriet in immer schlechtere Laune. Nirgends war Bernardo zu entdecken; deshalb schien mir der Heimweg gerade ebenso interessant, wie der Torso und der wunderbar schöne Antinous.

Da hüpfte eine leichte Gestalt mit Federbusch und klirrenden Sporen über den Gang, und ich hinterher – es war Bernardo; seine Freude war nicht geringer als die meinige. Hastig zog er mich mit sich, denn er hatte, wie er sagte, mir tausenderlei Dinge zu erzählen.

»Du weißt nicht, was ich gelitten habe und noch leide! Du sollst mein Doktor sein! Du allein kannst mir mit den magischen Kräutern helfen!« Und nun führte er mich durch den großen Saal, wo die päpstlichen Schweizer Wache hielten, in ein großes Gemach, welches für den wachthabenden Offizier eingerichtet war.

»Du bist doch nicht krank?« fragte ich. »Du kannst es nicht sein! Deine Augen und Wangen brennen ja lichterloh.«

»O ja, sie brennen,« sagte er, »ich brenne vom Kopfe bis zu den Füßen, aber alles ist gut; du bist mein Glücksstern, du bringst herrliche Abenteuer und gute Ideen, du mußt helfen! Setze dich doch! Du weißt nicht, wie viel ich seit dem Abende, wo wir uns zum letztenmal sahen, erlebt habe. Dir will ich das Ganze anvertrauen, du bist ein ehrlicher Freund und sollst selbst eine Rolle in dem Abenteuer spielen.«

Er ließ mich gar nicht zu Worte kommen, ich mußte hören, was ihn in hohem Grade bewegte.

»Entsinnst du dich des Juden?« sagte er, »des alten Juden, welchen die Jungen springen lassen wollten, und wie er dann fortlief, ohne mir für meine ritterliche Hilfe zu danken? Ich wenigstens hatte ihn und die ganze Geschichte längst vergessen. Einige Tage nachher komme ich an dem Eingange in das Ghetto vorüber; ich achtete erst darauf, als der Soldat, der an dem Thore seinen Posten hatte, vor mir Honneur machte, denn ich gehöre ja jetzt zu den Personen höheren Ranges. Ich danke ihm und gewahre dabei unmittelbar an der inneren Thorseite eine hübsche Gruppe schwarzäugiger Mädchen der jüdischen Rasse, und da wirst du es wohl begreiflich finden, daß ich Lust empfand, durch die enge schmutzige Straße zu traben. Es befindet sich eine vollständige Synagoge in derselben, die Häuser ragen dicht nebeneinander hoch in die Luft empor. In allen Fenstern ging es: »Bereschit Bara Elohim!« Dicht gedrängt, Kopf an Kopf, standen sie da, wie damals, als sie über das Rote Meer gingen. Rundum hingen alte Kleider, Regenschirme und anderer Trödelkram. Ich bahnte mir einen Weg durch altes Eisenzeug, Bilder und natürlich durch unerhört tiefen Schmutz, und dabei erhob sich ein Summen und Schreien, ob ich nichts zu handeln hätte, zu kaufen oder zu verkaufen, daß man mir kaum Zeit ließ, mir ein paar schwarzäugige Püppchen anzugucken, die mich von den Thüren aus anlächelten. Es war eine Wanderung, höre, so eine hätte Dante beschreiben sollen! Mit einem Mal stürzt mir ein alter Jude auf den Leib, und verneigt sich vor mir so tief, als wenn ich der heilige Vater wäre. »Eccellenza,« sagt er, »mein edler Wohlthäter, mein Lebensretter, gesegnet sei die Stunde, in der ich Sie begrüßen darf! Glauben Sie nicht, daß der alte Hanoch undankbar ist!« und noch vieles andere, das ich nicht verstand und dessen ich mich auch nicht mehr erinnere; ich erkannte ihn jetzt, es war der alte Mosait, der hatte springen sollen. »Hier ist mein armes Haus, aber meine Schwelle ist zu niedrig, als daß ich Sie bitten darf, dieselbe zu überschreiten,« sagte er, und dabei küßte er mir die Hände und den Rock. Ich wollte weiter, denn die ganze Nachbarschaft verlor sich in unserer Betrachtung, als plötzlich meine Augen auf das obere Stockwerk des Hauses fielen und ich den schönsten Kopf bemerkte, den ich je gesehen hatte, eine marmorne Venus mit warmem Blut in den Wangen und Augen wie Arabiens Töchter – nun da kannst du dir wohl vorstellen, daß ich den Juden in sein Haus begleitete, zumal er mich eingeladen hatte. Der Flur war freilich dunkel und eng, wie der Gang, der in die Gräber der Scipionen führt und nun erst die Steintreppen mit dem reizenden hölzernen Geländer – ja, sie waren vortrefflich geeignet, die Leute an einen gesetzten Gang zu gewöhnen und ihnen Vorsicht bis in die äußersten Fingerspitzen beizubringen. In der Stube war es dagegen gar nicht so übel, nur das Mädchen fehlte, und was sollte ich ohne dasselbe da anfangen. Nun mußte ich denn eine lange Danksagungsrede verdauen, in welche so viel morgenländische Bilder verwebt waren, daß sie deinem poetischen Gemüte sicher gefallen hätten. Ich ließ sie über mich ergehen und dachte, am Ende kommt die Kleine doch wohl noch, aber sie kam nicht. Dafür fuhr dem Juden eine Idee durch den Kopf, die bei andrer Gelegenheit hätte ganz ausgezeichnet sein können. Er meinte, daß ich als ein junger Mann, der sich in der Welt bewegen müßte, gewiß viel Geld gebrauchte, und wenn es mir fehlte, genötigt wäre, meine Zuflucht zu mitleidigen Seelen zu nehmen, die gegen zwanzig bis dreißig Prozent christliche Liebe bewiesen, daß er aber, und das war im Grunde genommen ein Mirakel im Reiche der Juden, das Benötigte ohne jegliche Prozente zu leihen bereit wäre; hörst du, ohne Prozente! Ich wäre ein edler junger Mann, auf meine Ehrlichkeit verließe er sich; ich hätte einen Zweig von dem Stamme Israels beschützt, dessen Stumpf meine Kleider nicht zerreißen sollte. Da ich kein Geld nötig hatte, nahm ich auch keins, und darauf bat er mich, ob ich mich nicht niederlassen und seinen Wein versuchen wollte, die einzige Flasche, welche er besäße. Ich weiß nicht, was ich sagte, aber das weiß ich, daß das herrlichste Mädchen von morgenländischer Abkunft hereintrat. Welche Formen, welche Farben! Das Haar desselben schimmerte kohlschwarz, wie Ebenholz. Es war des Juden Tochter. Sie schenkte mir einen herrlichen Cyperwein ein, und das königlich salomonische Blut stieg ihr in die Wangen, als ich das Glas auf ihr Wohl leerte. Du hättest sie sprechen hören sollen, wie sie mir ihres Vaters wegen dankte, was doch nicht der Mühe wert war. Wie Musik klang es in meinen Ohren. Es war kein natürliches Wesen; sie verschwand denn auch, nur der Alte blieb zurück.«

»Das Ganze klingt ja wie ein Gedicht!« rief ich aus. »Es ließe sich prächtig in Verse setzen.«

»Du weißt nicht, wie ich mich seitdem abquälte, was für Luftschlösser ich aufbaute und wieder einriß, was ich alles versuchte, um mit meiner Zionstochter wieder zusammen zu treffen. Denke dir, ich ließ mich sogar herab, bei ihm eine Anleihe zu machen, was gar nicht nötig war. Ich bat ihn um zwanzig Scudi auf acht Tage, die er mir auch in blanken Goldstücken auszahlte, aber sie bekam ich nicht zu sehen. Ich brachte sie ihm schon am dritten Tage unberührt wieder, und der Alte lächelte und rieb sich die Hände, denn er hatte doch wohl nicht zu fest auf meine gepriesene Ehrlichkeit gebaut. Ich lobte seinen Cyperwein, aber sie brachte mir keinen, selbst schenkte er ihn mit seinen magern zitternden Händen ein. Mein Auge spähte in jeden Winkel, sie war nicht da. Sie zeigte sich nicht; nur als ich die Treppe hinabsprang, kam es mir vor, als ob sich die Gardine am geöffneten Fenster bewegte; das mußte sie sein. »Leben Sie wohl, Signora!« rief ich, aber alles blieb still, niemand zeigte sich. Noch immer bin ich in meinem Abenteuer nicht weiter. Gieb mir einen Rat! Aufgegeben habe ich sie nicht und will es nicht! Was soll ich thun? Gieb mir eine glänzende Idee an die Hand, mein Herzensjunge! Sei mir eine Saturnia und Venus, die Aeneas und Lybiens Tochter in der verborgenen Grotte zusammenführt!«

»Was verlangst du von mir? Was kann ich dabei thun? Ich begreife nicht, wie ich dir dabei von Nutzen sein kann.«

»Du kannst alles, wenn du willst! Hebräisch ist ja eine schöne Sprache, eine poetische Bilderwelt, darauf solltest du dich legen und dir einen Juden zum Lehrer annehmen! Ich bezahle alles! Du nimmst den alten Hanoch, denn ich habe ausspioniert, daß er im Ghetto zu der gelehrten Welt gehört. Wenn ihn nun dein treuherziges Wesen eingenommen hat, dann wirst du dich auch mit der Tochter bekannt machen und dich meiner bei ihr annehmen können; aber im Galopp, im fliegenden Galopp muß es gehen. Ich habe brennendes Gift, der Liebe brennendes Gift in meinem Blute. Geh' noch heute zu dem Juden!«

»Das kann ich nicht!« erwiderte ich. »Bedenkst du denn nicht meine Verhältnisse und was für eine eigentümliche Rolle ich spielen müßte! Und wie kannst du lieber Bernardo, dich zu einem Liebesabenteuer mit einem Judenmädchen herablassen!«

»O, davon verstehst du nichts!« unterbrach er mich. »Judenmädchen oder nicht, das thut nichts zur Sache, wenn die Ware nur gut ist. Nun, du gesegneter Junge, mein vortrefflicher Antonio, lege dich mir zuliebe auf das Hebräische! Wir wollen es beide studieren, nur auf verschiedene Weise; sei vernünftig und bedenke, wie viel du dadurch zu meinem Glücke beitragen kannst!«

»Du weißt,« sagte ich, »wie ich mit ganzer Seele an dir hänge! Du weißt, wie deine überwiegende Kraft in meine Gedanken, in meinen ganzen Willen eingreift! Wärst du ein böser Mensch, könntest du mich von Grund aus verderben. – Es zieht mich unwiderstehlich in deinen magischen Kreis hinein. Ich beurteile deine Lebensanschauungen nicht nach den meinigen, jeder muß unweigerlich seiner eignen Natur folgen. Ich glaube auch nicht, daß die Art und Weise, in welcher du nach der Freude haschest, eine Sünde ist, denn so bist du nun einmal geschaffen; ich bin dagegen ein ganz anderer! Ueberrede mich nicht zu einem Abenteuer, welches, selbst wenn es gut ausfällt, doch nie zu deinem wahren Glücke gereichen wird!«

»Gut, gut!« unterbrach er mich, und ich bemerkte den fremden stolzen Blick, den er so oft gegen Habbas Dahdah angenommen hatte, wenn dieser durch seine Stellung der Entscheidende war. »Gut, Antonio, das Ganze war ja auch nur ein Scherz! Meinethalben sollst du nicht in den Beichtstuhl laufen. Was indes für Böses darin liegen sollte, daß du hebräisch und zwar von einem Juden lerntest, begreife ich nicht. Doch kein Wort weiter davon! – Dank für deinen Besuch! Hast du Lust zu essen? Willst du trinken? Hier, bediene dich selbst!«

Ich war verstimmt. Der Ton, welchen er anschlug, sein ganzes Benehmen zeigte, daß er sich beleidigt fühlte. Eisige Kälte und vornehme Höflichkeit begegneten meinem warmen Handdrucke. Verstimmt und betrübt verließ ich ihn bald.

Ich fühlte, wie unrecht er mir that, fühlte, daß ich so gehandelt hatte, wie ich mußte, und doch kamen Augenblicke, in welchen es mir vorkam, daß ich mich nicht freundschaftlich gegen ihn aufgeführt hätte. In diesem Kampfe mit mir selber ging ich durch das Judenviertel und hoffte auf meinen Glücksstern; wie hätte ich mich gefreut, wenn er mich ein Abenteuer zu Gunsten meines lieben Bernardo hätte erleben lassen! Allein ich sah nicht einmal den alten Juden. Fremde Gesichter guckten rundum aus den Fenstern und Thüren. Schmutzige Kinder lagen zwischen allerhand Eisenkram und alten Kleidern auf dem Trottoir. Das unaufhörliche Geschrei, ob man kaufen oder verkaufen wollte, betäubte mich fast. Einige junge Mädchen spielten über die Straße fort von Fenster zu Fenster Federball. Die eine war recht hübsch, sollte das etwa Bernardos Geliebte sein? Ohne es zu wollen zog ich den Hut, schämte mich aber darüber und strich mir mit der Hand über die Stirn, als entblößte ich mein Haupt der Wärme und nicht des Mädchens wegen.


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