Hans Christian Andersen
Der Improvisator
Hans Christian Andersen

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Die Fasten. Allegris Miserere in der sixtinischen Kapelle. Der Besuch bei Bernardo. Annunziata.

Still und tödlich lang schleppten sich die Tage hin; das Schauspiel des Karnevals, die große Begebenheit meines eignen Lebens, worin Annunziata die Hauptrolle spielte, zogen unaufhörlich vor meiner Seele vorüber. Aber Tag für Tag nahm die Einförmigkeit und diese Grabesstille ringsum zu. Ich fühlte eine Leere, welche meine Bücher nicht ausfüllen konnten. Bernardo war mein Alles gewesen, nun war es, als läge eine Kluft zwischen uns, ich fühlte mich in seiner Nähe gedrückt, und mehr und mehr wurde es mir klar, daß es einzig und allein Annunziata war, die mich beschäftigte. Auf Augenblicke beglückte mich dieses Gefühl. Aber dann kamen Stunden, dann kamen Nächte, in welchen ich Bernardos gedachte, der sie früher als ich geliebt hatte. War er es ja auch, der mich zu ihr geführt! Ihm hatte ich versichert, daß es Bewunderung und nichts anderes wäre, was ich für sie fühlte. Er, mein einziger Freund, er, dem ich so oft aufrichtige Treue gelobt hatte, er verdiente nicht, daß ich mich gegen ihn falsch und schlecht zeigte. Dann fühlte ich den Stachel der Reue in meinem Herzen, aber trotzdem konnte ich mein ganzes Denken und Fühlen von Annunziata nicht losreißen. Jede Erinnerung an sie, meine frohesten Stunden, stimmten mein Herz nur immer wehmütiger. So betrachten wir das lebensschöne lächelnde Bild eines lieben Toten, und je lebendiger, je freundlicher es lächelt, desto stärkere Wehmut ergreift uns. Des Lebens große Kämpfe, auf die man mich in der Schule so oft hingewiesen und welche ich in der schwierigen Lösung einer Aufgabe oder in dem Aerger über eines Lehrers Unvernunft bestanden zu haben glaubte, fühlte ich jetzt erst beginnen. Erst wenn ich diese Leidenschaft, welche in mir erwacht war, zu besiegen verstände, dann erst, sagte mir eine innere Stimme, würde meine frühere Ruhe wieder eintreten. Wozu konnte diese Liebe auch führen? Annunziata stand hoch in ihrer Kunst, aber gleichwohl würde mich die Welt verurteilen, wenn ich meine Stellung aufgäbe und ihr folgte. Die Madonna selbst, zu deren Ehren ich erzogen war, würde mir zürnen. Bernardo hätte mir nie vergeben können, und – ich wußte ja nicht einmal, ob mich Annunziata liebte. Dies war mir im Grunde genommen der bitterste Gedanke. Vergebens warf ich mich in der Kirche vor dem Bilde der Madonna nieder, vergebens flehte ich sie an, meine Seele in meinem großen Kampfe zu stärken, selbst hier steigerte sich meine Sünde, die Madonna schien mir die Züge meiner Annunziata anzunehmen. Es kam mir vor, als ob jedes Frauengesicht nach dem geistigen Ausdrucke strebte, der aus Annunziatas Zügen leuchtete. »Nein, ich will diese Gefühle aus meiner Seele reißen,« sagte ich, »ich will sie nie öfter sehen!« – Ich begriff nun vollkommen, was ich vorher nicht einzusehen vermochte, daß man den Drang fühlen könnte seinen Körper zu foltern, um den geistigen Kampf durch Kasteiung seines Fleisches zu unterdrücken. Meine brennenden Lippen küßten den kalten Marmorfuß der Madonna, und auf Augenblicke kehrte Frieden in meine Seele zurück. Ich gedachte meiner Kindheit, als meine liebe Mutter noch lebte, wie glücklich ich damals gewesen war, wie viele Freuden mir selbst diese stille Zeit vor Ostern gebracht hatte. Noch war ja alles dasselbe wie damals. An Ecken und auf Plätzen standen wie sonst die kleinen grünen Laubhütten, mit goldnen und silbernen Sternen geschmückt. Ringsum hingen noch die prächtigen Schilde mit den Versen, welche rühmten, was für herrliche Fastenspeisen hier bereitet würden. Jeden Abend wurden die bunten Papierlaternen unter den grünen Zweigen angezündet; wie hatte ich mich nicht als Kind darüber gefreut, wie glücklich war ich nicht vor des Hökers prächtigem Laden gewesen, der in den Fasten wie eine Phantasiewelt strahlte, wie hatte ich nicht die niedlichen Engel von Butter bewundert, die in einem Tempel tanzten, wo mit Silberpapier umwundene Würste Säulen und ein Parmesankäse die Kuppel bildete. Mein erstes Gedicht hatte ja diese Herrlichkeiten besungen, und des Hökers Signora hatte es eine divina commédia di Dante genannt. – Damals kannte ich diesen herrlichen Sänger nicht, aber auch noch keine Sängerin; könnte ich nur Annunziata vergessen!

Mit der großen Prozession wallfahrte ich nach Roms sieben heiligen Kirchen, vereinigte meinen Gesang mit dem der Pilgrime, und mein Gefühl war tief und aufrichtig, aber Bernardo flüsterte mir mit dämonischem Spott ins Ohr: »Der lustige Advokat auf dem Korso, der dreiste Improvisator, mit Buße im Auge und Asche auf den Wangen. – Ei, wie gut du dich ausnimmst, jede Rolle verstehst, das könnte ich dir nicht nachmachen, Antonio!« Es lag ein Spott und doch auch eine so augenscheinliche Wahrheit in seinen Worten, daß ich mich tief gekränkt fühlte.

Die letzte Fastenwoche war gekommen; die Fremden strömten nach Rom zurück. Fast Wagen an Wagen rollten zur Porta del Popolo und Porta del Giovanni herein. Mittwoch Nachmittag begann das Miserere in der sixtinischen Kapelle. Meine Seele lechzte nach Musik, in der Welt der Töne wollte ich Mitgefühl und Trost finden. Das Gedränge war groß, selbst innerhalb der Kapelle, die vorderste Abteilung war bereits mit Damen gefüllt. Prächtige Bogen, für königliche Personen von fremden Höfen bestimmt und mit Samt und Seide dekoriert, waren in solcher Höhe angebracht, daß die Anwesenden über das künstlich geschnitzte Geländer, welches die Damen von dem Innern der Kapelle trennte, hinwegschauten. Die päpstliche Schweizergarde stand in ihrer bunten Gala-Uniform, die Offiziere trugen leichte Harnische und auf den Helmen einen wehenden Helmbusch. Der Anzug kleidete besonders Bernardo, der die jungen schönen Damen seiner Bekanntschaft freundlich grüßte.

Ich bekam einen Platz unmittelbar innerhalb der Schranken, nicht weit von dem Balkone auf welchem sich die päpstlichen Sänger aufgestellt hatten. Eine ziemliche Anzahl Engländer saß dicht hinter mir, ich hatte sie während des Karnevals in bunten Maskenanzügen gesehen, hier trugen sie ähnliche; vermutlich wollten sie Offiziere vorstellen, selbst die zehnjährigen Jungen! Alle hatten kostbare Uniformen, von den grellsten Farben und Dekorationen. Einer trug zum Beispiel einen hellblauen Frack mit Silberstickerei, Gold auf den Stiefeln und eine Art Turban mit Perlen und Federn. Es war durchaus nichts Neues bei den Festen in Rom, wo die Uniform zu einem bessern Platz verhilft. Ringsumher lachte man darüber, aber nur kurze Zeit beschäftigte es mich.

Die alten Kardinäle erschienen in ihren prächtigen violetten Samtmänteln mit den weißen Hermelinkragen; sie setzten sich innerhalb der Schranken in einem großen Halbkreise nebeneinander; die Geistlichen, welche ihnen die Schleppe getragen hatten, nahmen zu ihren Füßen Platz. Aus der kleinen Seitenthür neben dem Altare kam nun der heilige Vater in seinem Purpurmantel und mit dem silberweißen Papsthute. Er bestieg seinen Thron, die Bischöfe schwangen die Rauchfässer um ihn, während junge Geistliche in hochroten Gewändern mit brennenden Fackeln vor ihm und dem Hochaltar knieten.

Die Vorlesungen begannen,Bevor das Miserere gesungen wird, werden fünfzehn lange Abschnitte vorgelesen; nach Schluß eines jeden wird eines der Lichter aus dem großen Kandelaber ausgelöscht, auf welchem für jede Vorlesung ein Licht brennt. Man kann also stets sehen, wie viele noch übrig sind. aber es war mir unmöglich mein Auge auf den toten Buchstaben ruhen zu lassen, es hob sich mit meinen Gedanken zu dem großen Weltall empor, welches Michelangelo mit Farben an Decke und Wänden in wunderbarer Schönheit zur Darstellung gebracht hat. Ich betrachtete seine mächtigen Sybillen und herrlichen Propheten, Gestalten, von denen jede einzelne hinreichenden Stoff für eine ganze Kunstabhandlung darbietet. Mein Auge sog die kräftigen Züge, die schönen Engelsgruppen ein; mir waren es nicht gemalte Bilder, lebendig stand alles vor mir: der Baum der Erkenntnis, unter dem Eva Adam die verbotene Frucht reichte, der mächtige Gott, welcher über die Gewässer hinschwebte, nicht von Engeln getragen, wie ihn die ältern Meister darzustellen pflegten, nein, Scharen von Engeln auf ihm und seinem flatternden Gewande ruhend. Wohl hatte ich die Gemälde schon früher gesehen, aber nie hatten sie mich so wie jetzt ergriffen. Meine überreizte Stimmung, das Menschengewühl, vielleicht selbst die Lyrik meiner Gedanken verursachten, daß ich das Ganze wunderbar poetisch auffaßte; ein innerer Trieb zwang mich dazu, und manch ein Dichterherz hat wohl wie das meinige gefühlt.

Die kühnen Verkürzungen, die ergreifende Kraft, womit jede Figur hervortritt, ist so schlagend; man wird völlig hingerissen, es ist eine Bergpredigt des Geistes in Farben und Formen! Mit Raffael stehen wir erstaunet vor Michelangelos Stärke; jeder Prophet ist ein Moses wie der, welchen er aus Marmor bildete. Welche Riesengestalten! Sie sind es, welche beim Eintritt unsere Augen und Gedanken ergreifen; aber wie von diesen Heiligen eingeweiht, wendet sich unser Auge nach dem Hintergrunde der Kapelle, dessen ganze Wand ein einziger Hochaltar der Kunst und des Geistes ist. Das große chaotische Bild erscheint vom Fußboden bis zur Decke wie der Edelstein, um den alles übrige nur den Rahmen bildet. Das jüngste Gericht sehen wir.

Christus steht richtend auf der Wolke, und der Apostel und seine Mutter strecken, für das arme Menschengeschlecht betend, ihre Hand aus. Die Toten heben ihre Grabsteine auf; selige Geister schweben anbetend zu Gott empor, während die Hölle ihre Opfer ergreift. Hier will eine aufwärts schwebende Seele ihren verdammten Bruder retten, den die Hölle schon von Schlangen umwickelt hält; die Söhne der Verzweiflung schlagen sich mit geballten Händen vor die Stirn und versinken in die Tiefe. In kühnen Verkürzungen stürzen und schweben Legionen zwischen Himmel und Hölle. Die Teilnahme der Engel, der Ausdruck der Liebenden, die sich treffen, das Kind, welches sich beim Schalle der Posaunen an die Brust der Mutter drückt, ist so natürlich und schön, daß man sich selbst unter die versetzt glaubt, welche auf den Urteilsspruch lauschen. Michelangelo hat in Farben ausgesprochen, was Dante sah und den Geschlechtern der Erde sang.

Die untergehende Sonne warf gerade die letzten Strahlen durch die obersten Fenster hinein. Christus und die Seligen ringsum waren hell beleuchtet, während der unterste Teil, wo die Toten auferstehen, und der Dämon sein Boot mit den Verdammten vom Lande abstößt, sich beinahe schon in völliger Finsternis befand. Gerade beim Untergang der Sonne endete die letzte Vorlesung, das einzige Licht, welches noch übrig war, wurde ausgelöscht; das ganze Bild verschwand in der Dunkelheit vor mir, aber in demselben Augenblick erbrauste Musik und Gesang; was die Farben körperlich offenbart hatten, steigerte sich jetzt in Tönen; das jüngste Gericht mit seiner Verzweiflung und seinem Jubel erklang über uns.

Der Vater der Kirche, seiner päpstlichen Pracht entkleidet, stand vor dem Altare, betete das heilige Kreuz an, und auf den starken Schwingen der Posaunen erschallte der erschütternde Chor: Populus meus, quid feci tibi? Weiche Engelstöne wiegten sich auf dem tiefen Gesange, Töne, welche aus keiner Menschenbrust hervorstiegen, nicht einer Männer-, nicht einer Weiberbrust entquollen, nein, die einer Geisterwelt angehörten. Es war, als ob sich der Engel Thränen in Melodie auflösten.

Aus dieser Tonwelt sog meine Seele Kraft und Lebensfülle ein. Ich fühlte mich froh und stark, wie ich es lange nicht gewesen war. Annunziata, Bernardo, alle meine Lieben bewegten sich in meinen Gedanken. So wie ich sie in diesen Augenblicken liebte, müssen selige Geister einander lieben. Der Friede, den ich im Gebete suchte, aber nicht fand, strömte hier durch Töne in mein Herz.

Als das Miserere zu Ende und alle fort waren, saß ich bei Bernardo auf seinem Zimmer. Ehrlich reichte ich ihm die Hand, sagte, was meine begeisterte Seele mir eingab und meine Lippen erhielten Beredsamkeit. Allegris Miserere, unsere Freundschaft, der märchenhafte Lauf meines ganzen abenteuerlichen Lebens bot mir Stoff genug dar. Ich erzählte, wie geistig gesund mich die Musik gemacht hätte, wie schwer mein Herz vorher gewesen wäre, erzählte von meinen Leiden, meiner Angst und Melancholie während der langen Fastenzeit, ohne doch zu erwähnen, welchen Anteil er oder Annunziata dabei gehabt hätten; das war aber auch die einzige kleine Falte meines Herzens, in die ich ihn nicht schauen ließ. Er lachte mich aus, sagte, ich wäre ein ganz schlimmer Geselle; das Hirtenleben bei Domenica und Signora, alle diese Frauenzimmer-Erziehung und nun gar noch endlich die Jesuitenschule hätten mich verderbt. Mein heißes italienisches Blut wäre mit Ziegenmilch versetzt, meine trappistische Enthaltsamkeit machte mich krank, mir fehlte ein kleiner zahmer Vogel, der mich aus meiner Traumwelt heraussingen könnte. Ich sollte ein Mensch wie alle andern sein, dann würde ich mich schon an Leib und Seele erholen.

»Wir sind sehr verschieden, Bernardo!« sagte ich, »und doch hängt mein Herz wunderbar an dir; oft wünsche ich, daß wir beständig beisammen sein könnten.«

»Das würde der Freundschaft nicht zuträglich sein,« erwiderte er, »nein, da wäre sie zerrissen, ehe wir es dächten, – Freundschaft ist wie Liebe, sie wird durch Trennung am stärksten. Ich denke oft daran, wie langweilig es im Grunde genommen sein muß, verheiratet zu sein! Immer und immer sich sehen und in alle Falten hinein! Die meisten Eheleute sind deshalb einander auch bald überdrüssig, es ist nur eine Art Anstand, eine Art Gutmütigkeit, die sie auf die Länge zusammenhält. Es sagt mir eine innere Stimme, daß, wenn mein Herz auch noch so heftig brennte und das meiner Geliebten wie das meinige lichterloh brennte, die Flammen dennoch, sobald sie sich begegneten, erlöschen würden. Liebe ist eine Sehnsucht, und die Sehnsucht stirbt, wenn sie erfüllt wird.«

»Aber wenn nun deine Frau,« sagte ich, »schön und klug wie– –«

»– Wie Annunziata wäre!« fiel er mir in das Wort, indem ich einen Augenblick stockte, um einen passenden Vergleichungsgegenstand zu suchen, »Ja, Antonio, dann würde ich die schöne Rose bewundern, so lange sie frisch wäre; und wenn die Blätter welkten, der Duft sich verlöre – ja, Gott mag wissen, welches Gelüsten dann über mich käme. In diesem Augenblicke habe ich ein ganz seltsames, und schon früher habe ich ein ähnliches verspürt! – Ich könnte Lust bekommen zu sehen, wie rot dein Blut ist, Antonio; aber ich bin ein vernünftiger Mensch, du bist mein Freund, mein aufrichtiger Freund. Wir wollen uns nicht schlagen, selbst wenn wir uns auf demselben Liebespfade begegneten.« Und nun lachte er laut, drückte mich heftig an seine Brust und sagte halb scherzend: »Ich überlasse dir meinen zarten Vogel, er beginnt mir zu sentimental zu werden und wird dir gewiß gefallen. Begleite mich heute Abend. Vertraute Freunde müssen nichts voreinander verbergen, wir werden einen lustigen Abend haben! Am Sonntag giebt der heilige Vater dann uns allen Beneditione

»Ich begleite dich nicht!« erwiderte ich.

»Du bist feige, Antonio!« entgegnete er, »laß doch die Ziegenmilch dein Blut nicht ganz besiegen! Dein Auge kann wie das meinige brennen; sinnlich kann es brennen, das habe ich gesehen! Deine Leiden, deine Angst, deine Pönitenz in den Fasten – ja, soll ich dir ehrlich den Grund sagen, so ist es nichts anderes als Begehrlichkeit nach frischen Lippen, schönen Formen! Ich weiß es ganz gut, Antonio, du verstehst nicht dich zu verstellen! – Nun, so drücke die Schönheit an dein Herz; – aber du hast keinen Mut, du bist dazu zu feige, eine zu große Memme!«

»Du führst eine Sprache, Bernardo,« versetzte ich, »welche mich beleidigen muß.«

»Aber dulden mußt du sie doch,« erwiderte er. Da stieg mir das Blut in die Wangen, aber auch Thränen füllten meine Augen.

»Kannst du so mit meiner Zuneigung zu dir spielen!« rief ich. – »Du glaubst, ich stehe zwischen dir und Annunziata, glaubst, sie habe ein freundlicheres Auge auf mich geworfen als auf dich?«

»O nein!« unterbrach er mich, »du weißt wohl, daß ich keine starke Phantasie habe! Aber laß sie aus dem Spiele! Und was deine Zuneigung anlangt, von der du immer sprichst, so verstehe ich es nicht. Wir reichen einander die Hand, wir sind Freunde, vernünftige Freunde, aber deine Begriffe sind überspannt, mich mußt du nehmen, wie ich bin.«

Darin gipfelte ungefähr unser Zwiegespräch, das waren die Pfeile, mit denen er mich verwundete und die mir bis ins Herz drangen. Ich fühlte mich gekränkt, und doch drang zuletzt seine alte Herzlichkeit wieder hervor, indem er mir warm die Hand drückte.

Am nächsten Tage, dem grünen Donnerstage, riefen mich die Glocken nach der Peterskirche. In ihrer mächtigen Vorhalle, deren Größe ja einen Fremden auf den Gedanken gebracht haben soll, daß sie die ganze Kirche ausmachte, erneuerte sich das Gedränge ebenso wie in den Straßen und auf der Engelsbrücke. Es war, als ob ganz Rom herbeiströmte, um ebenso wie die Fremden über die Größe der Kirche in Erstaunen zu geraten, denn je größer die Volksmasse war, desto mehr schien sie sich auszudehnen, zu erweitern.

Hoch über uns ertönte der Gesang, zwei große Chöre antworteten einander von verschiedenen Stellen im Kreuz der Kirche. Alles drängte herbei, um das FußwaschenAm grünen Donnerstage wäscht der Papst dreizehn Priestern, alten wie jungen, die Füße; sie küssen ihm die Hand und er giebt jedem derselben einen Levkojenstrauß. welches nun begann, mit anzusehen. Aus den Schranken, hinter welchen die fremden Damen saßen, nickte mir jemand freundlich zu. Es war Annunziata. Sie war zurückgekehrt, sie war hier in der Kirche, mein Herz klopfte stark. Ich stand ihr so nahe, daß ich ihr Willkommen sagen konnte.

Sie war schon gestern gekommen, aber zu spät, um Allegris Miserere zu hören, doch hatte sie beim Ave Maria die Peterskirche besucht.

»Die merkwürdige Dunkelheit,« sagte sie, »machte, daß alles mehr imponierte als jetzt bei Tage; nicht ein Licht brannte außer den Lampen am Grabe Petri, es war ein Strahlenkranz, und doch nicht stark genug, die nächsten Pfeiler zu beleuchten. Alle knieten schweigend ringsum; ich sank selbst nieder und fühlte recht lebendig, wie viel in einem Nichts liegen kann. Welche Kraft liegt doch in einem religiösen Schweigen!«

Ihre alte Freundin, welche ich, da sie einen langen Schleier trug, erst jetzt erkannte, nickte freundlich. Die festliche Ceremonie war zu Ende, vergebens sahen sie sich nach ihrem Diener um, der sie nach dem Wagen führen sollte. Einige junge Herren waren auf Annunziata aufmerksam geworden, sie schien unruhig, wollte fort und ich wagte mich ihr zur Begleitung bis an den Wagen anzubieten. Die Alte faßte mich sogleich unter dem Arm, aber Annunziata ging allein an meiner Seite; ich hatte nicht den Mut ihr den Arm zu bieten; als wir jedoch das Portal erreichten, und der Strom uns mit fortriß, fühlte ich ihren Arm unter dem meinigen; wie Feuer ging es mir durchs Blut.

Ich fand den Wagen; als sie in demselben saßen, lud mich Annunziata ein, bei ihnen mit einem einfachen Löffel Suppe vorlieb zu nehmen. »Nur ein ärmliches Mahl,« sagte sie, »so gut wir es in den Fasten bieten können.«

Ich war glücklich; die alte Dame, welche nicht gut hörte, merkte wahrscheinlich aus dem Ausdrucke in Annunziatas Gesicht, daß es sich um eine Einladung handelte, mochte aber wohl meinen, daß sie mich zur Mitfahrt aufgefordert hätte. Augenblicklich machte sie den Vordersitz von Mänteln und Shawl frei, ergriff mich bei der Hand und sagte: »Ja, seien Sie so gut, Herr Abbate! Hier ist Platz genug.«

Das war allerdings Annunziatas Meinung nicht; ich sah eine leichte Röte über ihre Wangen fliegen, allein ich saß ihr schon gegenüber und nun fuhr der Wagen fort.

Eine kleine fürstliche Tafel erwartete uns. Annunziata sprach von ihrem Aufenthalt in Florenz und von dem heutigen Feste, fragte mich nach den Fasten in Rom und wie ich diese Zeit zugebracht hätte, eine Frage, die ich nicht so ganz aufrichtig beantwortete.

»Werden Sie denn der Judentaufe am Sonnabend beiwohnen?« fragte ich, warf jedoch gleichzeitig einen Blick nach der alten Dame hinüber, die ich völlig vergessen hatte.

»Sie hörte es nicht!« erwiderte Annunziata; »hätte sie es gehört, würde sie doch schwerlich errötet sein! Nur wohin sie mich begleiten kann, gehe ich, und für sie würde es nicht passend sein, zu unserm Feste in Konstantins TaufkapelleJährlich werden am Tage vor Ostern einige Juden oder Türken getauft. Im Diario romano wird dieser Tag auch mit si af il battessimo di Ebrei e Turchi, bezeichnet. zu erscheinen. Auch mich interessiert es nicht, denn nur selten bekehrt sich der Türke oder Jude, mit dessen Taufe man prunkt, aus Ueberzeugung. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit, welchen unbehaglichen Eindruck der ganze Auftritt auf mich machte. Ich sah mit an, wie ein kleiner Judenjunge von sechs bis sieben Jahren getauft wurde. Er erschien in schmutzigen Schuhen und Strümpfen, mit struppigem ungekämmtem Haar, und zu diesem allen in grellem Gegensatze, in einem prächtigen weißseidenen Rock, welchen ihm die Kirche geschenkt hatte. Die Eltern, unreinlich wie der Knabe, schritten hinterher. Sie hatten seine Seele an eine Seligkeit verkauft, die sie selbst verschmähten.«

»Sie haben es als Kind hier in Rom gesehen?« fragte ich.

»Ja,« erwiderte sie und errötete, »aber trotzdem bin ich keine Römerin.«

»Als ich Sie zum erstenmal sah, Ihren Gesang hörte, war es mir, als hätte ich Sie schon früher gekannt. Ich weiß selbst nicht, wie es zugeht, aber ich bilde es mir noch ein. Glaubten wir an eine Seelenwanderung, so würde ich mir vorstellen, daß wir beide Vögel gewesen wären, auf denselben Zweigen gehüpft und einander recht lange gekannt hätten. Giebt es keine Erinnerungen in Ihrer Seele? Nichts, was Ihnen sagt, daß wir einander früher gesehen haben?«

»Durchaus nichts!« erwiderte Annunziata und sah mir fest ins Auge.

»Die Mitteilung, die Sie mir vorhin machten, daß Sie als Kind hier in Rom gewesen wären und nicht, wie ich vermutete, Ihre ganze Kindheit in Spanien zugebracht hätten, weckte dieselbe Erinnerung in meiner Seele, welche in mir auftauchte, als Sie das erste Mal als Dido vor mir standen. Haben Sie nie als Kind in der Weihnachtszeit in der Kirche Araceli wie wir andern Kinder eine Rede gehalten?«

»Das habe ich!« rief sie, »und Sie, Sie, Antonio, waren jener kleine Knabe, der die Aufmerksamkeit aller auf sich zog?«

»Aber von Ihnen ausgestochen wurde!« entgegnete ich.

»Das waren Sie, Antonio!« rief sie laut, ergriff meine beiden Hände und sah mir mit einem unbeschreiblich sanften Ausdruck ins Auge. Die alte Freundin rückte ihren Stuhl näher und blickte uns ernst an. Annunziata erzählte ihr alles, und sie lächelte nun zu unserer Wiedererkennungsscene.

»Wie meine Mutter und alle von Ihnen sprachen!« sagte ich; »Ihre feinen, fast geistigen Formen, Ihre weiche Stimme! Ja, ich war eifersüchtig auf Sie, meine Eitelkeit wollte nicht dulden, daß jemand anderes mich so ganz verdunkelte. – Wie seltsam kreuzen sich doch des Lebens Wege!«

»Ich entsinne mich Ihrer noch ganz gut,« sagte sie, »Sie trugen eine kleine kurze Jacke mit vielen blanken Knöpfen; das interessierte mich damals am meisten an Ihnen.«

»Sie,« erwiderte ich, »hatten eine prächtige rote Schleife auf der Brust, aber das war es doch nicht, was den größten Eindruck auf mich machte, sondern Ihre Augen und Ihr kohlschwarzes Haar. – Ja, ich mußte Sie wiedererkennen, Sie sind noch dieselbe, nur Ihre Züge haben sich mehr entwickelt, ich würde Sie selbst unter einer größeren Veränderung erkannt haben. Ich teilte Bernardo sogleich meine Vermutung mit, der mir jedoch widersprach und in Ihnen eine ganz andere – –!«

»Bernardo!« unterbrach sie mich und es kam mir vor, als ob ihre Stimme zitterte.

»Ja,« versetzte ich etwas verwirrt, »er glaubte Sie ebenfalls zu kennen, Sie schon gesehen zu haben, und zwar unter Verhältnissen, die meiner Behauptung völlig zuwider liefen. Ihre schwarzen Haare, Ihr Blick – Sie dürfen es mir aber nicht übelnehmen, und er gab auch seine Meinung sofort auf – kurz er bildete sich anfangs ein, Sie wären,« – ich stockte – »Sie wären – kein Glied der katholischen Kirche, und folglich hätte ich Sie dann ja auch nicht in Araceli können predigen hören.«

»Er dachte vielleicht, ich teilte den Glauben meiner Freundin hier?« sagte Annunziata und zeigte auf die alte Dame. Ich nickte unwillkürlich, ergriff jedoch gleichzeitig ihre Hand und fragte: »Sind Sie böse auf mich?«

»Weil Ihr Freund mich für ein Judenmädchen hält?« fragte sie lächelnd. »Sie sind ein komisches Menschenkind!« – Ich merkte, daß die gegenseitigen Verhältnisse unserer Kindheit uns vertraulicher machten, jeder Kummer war vergessen, aber auch jeder Entschluß sie nie zu sehen, nie zu lieben.

Die Galerien waren diese zwei Tage vor Ostern noch geschlossen. Annunziata meinte, es müßte herrlich sein, wenn man in dieser Zeit, und dabei so recht in aller Gemächlichkeit, in einer derselben umherwandeln könnte; aber es ließe sich nicht so leicht thun. Der Wunsch von ihren Lippen war für mich ein Befehl; ich kannte ja den Kustode und Pförtner nebst allen Bedienten, die im Palazzo Borghese, wo sich eine der interessantesten Sammlungen Roms befindet, zurückgeblieben waren. Es ist dieselbe Galerie, die ich als Kind mit Francesca besucht und wo ich mit allen Amoretten auf Francesco Albanis Jahreszeiten Bekanntschaft gemacht hatte.

Ich bat, sie und die alte Dame am nächsten Morgen dorthin führen zu dürfen, sie sagte freundlich dankend zu und ich war unendlich glücklich.

In der Einsamkeit meines Zimmers tauchte der Gedanke an Bernardo wieder in mir auf. Nein, er liebt sie nicht, tröstete ich mich selbst, seine Liebe ist nur Sinnlichkeit, nicht rein und groß wie die meinige. Unser letztes Gespräch schien mir noch bitterer, als es war. Ich sah nur seinen Stolz, empfand bitter die mir zugefügten Kränkungen und versetzte mich in immer größeren Zorn. Sein Stolz, so redete ich mir vor, ist dadurch gekränkt, daß Annunziata gegen mich freundlicher scheint als gegen ihn. Allerdings hat er mich bei ihr eingeführt, aber vielleicht, that er es nur in der Erwartung, ich würde mich lächerlich machen. Deshalb erstaunte er über meinen Gesang, meine Improvisation; er hatte es sich nicht träumen lassen, daß ich neben seiner schönen Gestalt, Ungezwungenheit und Dreistigkeit aufzutreten imstande wäre. – Nun hat er mich von der Wiederholung meiner Besuche zurückschrecken wollen. Ein guter Engel wollte es anders; ihre milde Freundlichkeit, ihr Auge, alles sagt mir, daß sie mich liebt, daß sie voller Güte gegen mich ist, ja mehr als voller Güte, denn sie muß bemerken, daß ich sie liebe.

Selig drückte ich heiße Küsse auf die Kissen, aber mit meinem Liebesglücke stieg meine Bitterkeit gegen Bernardo. Ich ärgerte mich über mich selbst, daß ich nicht mehr Charakter, mehr Heftigkeit und Galle hätte. Nun hatte ich hundert vortreffliche Antworten, die ich ihm hätte geben sollen, als er mich das letzte Mal wie einen unreifen Jungen behandelte. Jede kleine Beleidigung von ihm stand nun in grellen Farben vor mir. Zum erstenmal fühlte ich das Blut in meinen Adern kochen. Die reinsten und besten Gefühle, in die sich eine abscheuliche Bitterkeit mischte, beraubten mich allen Schlafes. Erst gegen Morgen fiel ich in einen sanften und kurzen Schlummer, von dem ich gestärkt und leichten Herzens erwachte. Ich setzte den Kustoden von dem Besuch der fremden Damen in Kenntnis, und war nun bei Annunziata. Wir fuhren alle drei nach dem Palazzo Borghese.


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