Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am nächsten Vormittage konnte ich Bernardo nirgends erblicken; vergebens sah ich mich nach ihm um. Mehrmals passierte ich auch die Piazza Colonna, nicht um die Antoniussäule zu betrachten, sondern um zu versuchen, ob ich nicht einen Schimmer von Annunziata entdecken könnte. Sie wohnte hier, es waren Fremde bei ihr, die glücklichen Menschen! Ich hörte ein Klavier und lauschte zu, aber keine Annunziata sang. Ein tiefer Baß sang einige Tone, gewiß war es der Kapellmeister oder einer der Sänger ihrer Gesellschaft. Was für ein beneidenswertes Los! Wer in dessen Stelle wäre, der den Aeneas gab! So ihr Auge ins Auge sehen zu können, diesen Liebesblick einzusaugen, mit ihr von Stadt zu Stadt zu fliegen und Ehre und Bewunderung einzuernten! Ich wurde dabei ganz gedankenvoll. Harlekins mit Schellen, Polichinelle und Zauberer tanzten rundum, ich hatte rein vergessen, daß es Karneval war, daß die Stunde des Anfangs schon geschlagen hatte. Die ganze bunte Menge, all der Lärm und das Geschrei machten nun einen widrigen Eindruck auf mich. Wagen jagten vorüber; fast alle Kutscher trugen Damenkleider, aber der Anblick beleidigte mein Auge; diese schwarzen Backenbärte unter den Frauenhauben, die heftigen Bewegungen, alles war in zu grellen Farben gemalt, ja es kam mir geradezu abscheulich vor. Ich fühlte mich nicht, wie gestern, zur Freude aufgelegt, ich wollte fort und warf noch zum Abschiede einen letzten Blick zu dem Hause empor, in welchem Annunziata wohnte, als Bernardo plötzlich zur Thüre heraussprang und auf mich zulief, indem er lachend rief: »So komm doch, steh doch nicht so da! Ich will dich Annunziata vorstellen, sie erwartet dich schon; siehst du, das ist ein Freundschaftsstück von mir.«
»Sie –!« stammelte ich, und das Blut sauste mir vor den Ohren, »treibe keinen Scherz mit mir! Wo willst du mich hinführen?«
»Zu ihr, die du besungen hast!« erwiderte er, »zu ihr, für die du und wir alle schwärmen, zu der göttlichen Annunziata!« und nun zog er mich mit sich in die Hausthüre hinein.
»Aber erkläre mir doch, wie du zu ihr gekommen bist, wie du imstande bist mich einzuführen?«
»Später, später sollst du alles erfahren!« erwiderte er; »mache aber nur jetzt wieder ein heiteres Gesicht!«
»Allein mein Anzug!« stammelte ich, und putzte und zupfte noch schleunigst an mir herum.
»O du bist prächtig, alter Freund, ganz allerliebst! Doch nun sind wir an der Thüre.«
Sie wurde geöffnet und ich stand vor Annunziata. Sie hatte ein schwarzseidenes Kleid an; ein halb roter und halb blauer Ueberwurf von Flor hing über Busen und Schultern, das kohlschwarze Haar war von der edlen hohen Stirn, um welche sie ein Band mit einem, dem Anscheine nach, antiken Steine trug, zurückgestrichen. Nicht weit von ihr, nach dem Fenster zu, saß eine alte Dame in einem dunkelbraunen ärmlichen Kleide. Ihr Auge, die ganze Gesichtsbildung, verriet auf den ersten Blick, daß sie eine Jüdin war. Ich gedachte Bernardos Aeußerung, daß Annunziata und die Schöne im Ghetto ein und dieselbe Person wären, aber das war unmöglich, sagte mir wieder mein Herz, sobald ich Annunziata anblickte. Außerdem befand sich noch ein Herr, der mir nicht bekannt war, im Zimmer; er stand auf, auch sie erhob sich und kam mir halblächelnd entgegen, während mich Bernardo ihr vorstellte und scherzend sagte: »Meine gnädige Signora, hier habe ich die Ehre Ihnen den großen Dichter, meinen Freund, den vortrefflichen Abbate Antonio, einen Liebling des borghesischen Geschlechtes zu präsentieren.«
»Verzeihen Sie, Signore,« sagte sie, »aber es ist in Wahrheit nicht meine Schuld, daß ich Ihnen in dieser Weise meine Bekanntschaft aufdringe, wie wert mir auch die Ihrige ist. Sie haben mich mit einem Gedicht beehrt,« fuhr sie fort und errötete, »Ihr Freund nannte Sie als Verfasser und versprach Sie mir vorzustellen. Plötzlich gewahrt er Sie draußen, sagt: nun sollen Sie ihn gleich sehen und stürzt fort, ehe ich ihm antworten und ihn zurückhalten kann – – denn auf diese Weise – – doch Sie kennen Ihren Freund ja besser als ich.«
Bernardo verstand scherzend auf ihre Schilderung einzugehen; ich stammelte eine Entschuldigung und einige Worte über mein Glück und meine Freude bei ihr eingeführt zu sein.
Meine Wangen brannten, sie reichte mir die Hand und in meinem Entzücken drückte ich dieselbe an meine Lippen. Sie stellte mir den fremden Herrn vor, er war der Kapellmeister der Gesellschaft. Die alte Dame nannte sie ihre Pflegemutter, aber diese sah mich und Bernardo sehr ernst, fast streng an, aber das vergaß ich über Annunziatas Freundlichkeit und munterer Laune bald wieder.
Der Kapellmeister sagte mir ebenfalls etwas Verbindliches über mein Gedicht und reichte mir die Hand, indem er mich aufforderte Operntexte zu schreiben und den ersten ihm anzuvertrauen.
»Hören Sie ihn nicht an!« unterbrach ihn Annunziata; »Sie wissen nicht, in welches Elend er Sie stürzen will. Die Kapellmeister denken nicht im geringsten an ihre Opfer und das Publikum noch weniger. Sie werden heute Abend in: La pruova d'un opera seria so recht das Bild eines geplagten Autors sehen, und trotzdem ist dasselbe noch mit zu lichten Farben gezeichnet.«
Der Komponist wollte Einwendungen machen, Annunziata lachte und trat vor mich hin.
»Sie schreiben ein Stück,« sagte sie, »lassen sich Ihre ganze Seele in den lieblichsten Versen ergießen; die Einheit, die Charaktere, alles ist wohl durchdacht, aber nun kommt der Komponist; hier hat er eine Idee, die angebracht werden muß, die Ihrige muß also fort; hier will er Pfeifen und Trommeln, und Sie müssen danach tanzen. Die Primadonna des Theaters erklärt, sie singe nicht, wenn nicht eine Arie zu einem glänzenden Abgange eingelegt werde; sie will furioso maestoso, ob es paßt oder nicht, dafür trifft sie keine Verantwortung; der primo tenore ist nicht weniger anspruchsvoll. Sie müssen von der prima bis zur tertia donna, zu den Bässen und Tenören fliegen, müssen sich bücken und schmiegen, müssen lächeln und schmeicheln, kurz müssen alles ertragen, was unsere Launen ersinnen und das ist fürwahr nicht so gar wenig.«
Der Kapellmeister wollte sie unterbrechen, aber Annunziata ließ ihn nicht zu Worte kommen, sondern fuhr fort: »Nun kommt der Direktor, kritisiert, recensiert, tadelt, verwirft und Sie müssen sein unterthänigster Diener sein selbst bei offenbarer Dummheit und Unvernunft. Der Maschinenmeister versichert, daß die Kräfte des Theaters dieses Arrangement und jene Dekoration nicht gestatten. Sie müssen also in dem Stücke eine Aenderung vornehmen, was in der Theatersprache »das Stück biegen« heißt. Der Theatermaler giebt nicht zu, daß der Heuhaufen oder der Brunnen oder das Stück Acker auf seiner neuen Dekoration angebracht werde. Sie müssen also die Replik, die darauf hindeutet »biegen.« Nun kann die Primadonna keine Triller auf der Silbe schlagen, mit der einer ihrer Verse schließt, sie will für dieselbe eine mit dem Buchstaben a, wo Sie die herbekommen, das ist Ihre Sache. Sie müssen sich biegen und der Text muß gebogen werden, und wenn dann das Ganze fast in einer völlig neuen Gestalt über die Bühne geht, können Sie das Vergnügen haben mit anzuhören, wie es ausgepfiffen wird und der Komponist wütend ausruft: »Ach es war der jämmerliche Text, der mein Werk stürzte! Meine Tonschwingen konnten den Koloß nicht halten, er mußte fallen!«
Lustig klang die Musik von draußen zu uns herauf. Die Karnevalsmasken summten über den Platz und durch die Straßen. Ein lauter Jubel, mit Beifallklatschen gemischt, lockte uns alle an das offene Fenster. Jetzt, wo ich Annunziata so nahe war und ich meines Herzens ersten Wunsch so plötzlich erfüllt sah, fühlte ich mich unaussprechlich glücklich, und der Karneval kam mir wieder eben so lustig wie gestern vor, wo ich selbst eine Rolle in ihm gespielt hatte.
Unter dem Fenster hatten sich mehr als fünfzig Polichinelle versammelt, die einen König aus ihrer Mitte wählten. Derselbe bestieg einen kleinen Karren, welcher mit bunten Fahnen und Guirlanden von Lorbeerzweigen und Citronenschalen behängt war. Lustig flatterten sie wie Bänder im Winde. Im Wagen setzte man dem König eine Krone von vergoldeten und bunt bemalten Eiern auf den Kopf und überreichte ihm als Scepter eine kolossale, mit Makronen besetzte Kinderklapper. Alle tanzten um ihn herum, und er nickte gnädig nach allen Seiten; darauf spannten sie sich selbst vor seinen Wagen, um ihn durch die Straßen zu ziehen. In diesem Augenblicke fielen seine Blicke auf Annunziata. Er erkannte sie, nickte ihr vertraulich zu und rief, während sich sein Fuhrwerk in Bewegung setzte: »Gestern dich, heute mich, echtes römisches Vollblut vor dem Wagen!« – Ich sah, wie Annunziata blutrot wurde und einen Schritt zurücktrat; aber augenblicklich faßte sie sich wieder, beugte sich über den Altan und rief ihm laut zu: »Lerne dein Glück würdigen, dessen du eben so unwürdig bist wie ich !« Man hatte sie gesehen, seine Worte und ihre Antwort gehört, ein Vivat erbrauste durch die Luft und Blumensträuße flogen zu ihr herauf. Einer derselben streifte ihre Schulter und flog mir dann gerade vor die Brust; ich drückte ihn fest an mich; er bildete für mich einen Schatz, den ich nicht wieder verlieren wollte.
Bernardo war über des Polichinellkönigs Unverschämtheit, wie er seinen Scherz nannte, höchst aufgebracht und wollte augenblicklich hinab, um den Menschen zu züchtigen, doch hielt ihn der Kapellmeister mit den übrigen fest und behandelte das Ganze als einen unschuldigen Spaß.
Der Diener meldete den ersten Tenorsänger; er brachte einen Abbate und einen fremden Künstler mit, welche sich Annunziata vorzustellen wünschten. Kurz darauf kam ein neuer Besuch: fremde Künstler, welche sich selbst einführten, brachten ihr ihre Huldigungen dar. Wir waren schon eine vollständige Gesellschaft. Das Gespräch drehte sich um das lustige Festino, welches in der letzten Nacht im Theater Argentina stattfand, und um die verschiedenen Kunstmasken nach berühmten Statuen: nach Apollo Musagetes, den Gladiatoren und den Diskuswerfern. – Die Einzige, welche sich nicht in das Gespräch mischte, war die alte Dame, welche ich für eine Jüdin hielt. Sie saß still, nur mit ihrem Strickstrumpf beschäftigt, und nickte höchstens fast unmerklich, wenn sich Annunziata mitunter in ihrer Rede an sie wandte.
Wie verschieden war Annunziata nicht von dem Wesen, welches sich meine Seele nach dem, was ich gestern Abend von ihr gesehen und gehört, vorgestellt hatte! Hier in ihrem eignen Heim machte sie den Eindruck eines lebensfrohen, fast mutwilligen Mädchens; aber auch dies verminderte den eigentümlichen Zauber, den sie auf mich ausübte, keineswegs und sprach mich wunderbar an. Sie verstand mich und alle durch ihre leichten scherzhaften Bemerkungen und durch die kluge witzige Art und Weise, in der sie sich ausdrückte, hinzureißen. – Plötzlich sah sie auf ihre Uhr, sprang schnell auf und entschuldigte sich damit, daß die Toilette auf sie wartete, sie müßte ja heute Abend in La pruova d'un opera seria als Primadonna auftreten. Freundlich uns zunickend, hüpfte sie in das Seitenzimmer.
»Wie glücklich du mich gemacht hast, Bernardo!« rief ich ihm laut zu, als wir draußen waren; »wie liebenswürdig sie ist, eben so liebenswürdig wie bei Gesang und Spiel! – Aber wie in aller Welt bist du nur zu ihr gekommen, hast du so schnell diese Bekanntschaft gemacht? Ich begreife es gar nicht, alles kommt mir wie ein Traum vor, selbst das, daß ich hier gewesen bin.«
»Wie ich hingekommen bin!« erwiderte er, »o sehr einfach; ich hielt es für meine Pflicht, ihr als einer der jungen römischen Nobili, als Offizier der päpstlichen Ehrenwache und als Bewunderer alles Schönen meine Aufwartung zu machen. Liebe braucht nicht die Hälfte dieser Gründe. Deshalb begab ich mich zu ihr, und daß ich mich wohl eben so gut einzuführen imstande bin, wie jene, die du selbst unangemeldet kommen sahst, unterliegt wohl keinem Zweifel. – Wenn ich mich verliebe, werde ich stets interessant, und deshalb kannst du dir wohl denken, daß ich sie sehr gut unterhielt. Wir waren nach der ersten halben Stunde schon ziemlich bekannt, so daß ich mich deiner, als du dich zeigtest, ganz gut annehmen konnte.«
»Du liebst sie?« fragte ich, »liebst sie wirklich aufrichtig?«
»Ja, jetzt mehr, als früher!« rief er, »und was die Aeußerung anlangt, die ich gegen dich that, daß sie das Mädchen ist, welches mir bei dem alten Juden den Wein präsentierte, so zweifle ich nicht im geringsten daran. Sie erkannte mich, als ich vor sie hintrat, das bemerkte ich deutlich. Selbst das alte Judenmütterchen, welches kein einziges Wort spricht, sondern nur dasitzt und den Takt mit dem Kopfe nickt und Maschen von ihrem Strickstrumpf fallen läßt, ist ein salomonisches Wahrheitszeugnis für meine Vermutung. Doch Jüdin ist Annunziata nicht. Ihr schwarzes Haar, ihre dunklen Augen, die Umgebung und der Ort, wo ich sie zum erstenmal sah, haben mich irregeleitet. Deine Vermutung ist richtiger, sie ist unseres Glaubens und wird einst in unser Paradies kommen.«
Am Abend wollten wir uns im Theater treffen. Das Gedränge war groß, vergebens sah ich mich nach Bernardo um, er war nicht zu finden. Ich bekam noch einen Platz; alle Logen waren gefüllt, die Hitze war schwer und drückend, mein Blut war schon im voraus fieberhaft erregt, ich meinte die Begebenheiten der letzten beiden Tage halb zu träumen. Kein Stück konnte weniger geeignet sein, meinem erregten Gemüte das verlorene Gleichgewicht wiederzugeben, als das, welches nun begann. Die komische Oper La pruova d'un opera seria« ist bekanntlich das Produkt der ausgelassensten phantastischen Laune; eigentlich zieht sich durch das Stück gar kein bestimmter Faden hindurch, Dichter und Komponist haben keinen andern Zweck im Auge gehabt, als Gelächter hervorzurufen und für die Sänger Glanzrollen zu schaffen. Eine leidenschaftliche launische Primadonna und ein Komponist, der in denselben Farben schillert, spielen die Hauptrollen; ununterbrochene Heiterkeit begleitet die unerschöpfliche Menge der komischen Scenen derselben, sowie der Capricen der andern Darsteller, jenes merkwürdigen Völkchens Leute, die auf ganz besondere Weise behandelt sein wollen, ungefähr wie Gift, das sowohl töten wie heilen kann. – Der arme Dichter hüpft zwischen denselben wie ein leidendes, gering geschätztes Opferlamm umher.
Jubel und Blumenkränze begrüßten Annunziata beim Auftreten. Die Laune, welche sie zeigte, die Munterkeit, welche aus ihrem ganzen Wesen hervorleuchtete, nannte man höhere Kunst, ich nannte sie Natur. Ganz ebenso war sie ja zu Hause gewesen, und als sich nun ihr Gesang erhob, als rührte er von tausend silbernen Glocken her, die in weichen Harmonien wechselten, da sog jedes Herz die Freude ein, welche aus ihren Augen strahlte. Das Duett zwischen ihr und il compositore della musica, in welchem sie die Rollen tauschen, so daß sie die des Mannes und er die der Dame singt, war ein Triumph für beider Virtuosität, aber besonders waren alle von ihrem Uebergang aus dem tiefsten Alt bis zu dem höchsten Sopran hingerissen. In ihrem leichten anmutigen Tanze glich sie Terpsichore auf den etrurischen Vasen, jede ihrer Bewegungen konnte für einen Maler oder Bildhauer eine Studie sein. – Ihre ganze reizende Lebendigkeit schien mir eine Entfaltung ihrer eignen Persönlichkeit, die ich heute kennen gelernt hatte. Ihre Darstellung als Dido war mir ein Kunststudium, ihre »Primadonna« heute Abend die höchste Subjektivität.
Ohne sonderliche Verbindung sind in diese Operette große Bravournummern aus andern Stücken eingelegt. Die Schalkhaftigkeit, mit der sie dieselben sang, machte es natürlich; Ausgelassenheit, Neckerei bewog sie zu diesen Prachtvorstellungen.
Gegen Ende des Stückes versichert der Komponist, alles gehe vortrefflich, die Ouvertüre könne nun beginnen, er verteilt die Musik im wirklichen Orchester, die Primadonna hilft ihm, das Zeichen wird gegeben und beide fallen mit den schrecklichsten ohr- und herzzerreißenden Dissonanzen ein, applaudieren »Bravo, Bravo!« und das Publikum dazu. Das Gelächter übertönte fast die Musik, aber ich fühlte mich tief und schmerzlich angegriffen und befand mich in einer halbkranken Exaltation. Annunziata war ein wildes ausgelassenes Kind, aber liebenswürdig in ihrer Ausgelassenheit. Ihr Gesang brauste wie der Bacchantinnen wilde Dithyramben, selbst in der Freude konnte ich ihr nicht gleich sein, ihre Ausgelassenheit war geistig, schön und großartig, und als ich sie sah, mußte ich an Guido Renis herrliches Plafondgemälde denken: Aurora, wo die Horen um den Sonnenwagen tanzen. Eine derselben hat eine wunderbare Aehnlichkeit mit Beatrice Cencis Porträt, wie diese in ihrem frohsten Lebensmomente ausgesehen haben mochte. Diesen Ausdruck fand ich bei Annunziata wieder. Wäre ich Bildhauer gewesen, hätte ich sie in Marmor dargestellt, und die Welt würde die Statue: »die schuldlose Freude« genannt haben. Höher und höher, in wilden Dissonanzen, brauste das Orchester, sang il compositore und die Primadonna. »Herrlich!« riefen sie jetzt, »die Ouverture ist zu Ende, laßt nun den Vorhang aufziehen!« und bei diesen Worten fiel er, die komische Oper war zu Ende. Aber wie gestern wurde Annunziata wieder herausgerufen; Kränze und Blumen, Gedichte und flatternde Bänder flogen ihr entgegen. Ein Teil meiner Altersgenossen, von denen mir einige bekannt waren, wollten ihr noch an demselben Abend eine Serenade bringen und ich schloß mich ihnen an; seit einer Ewigkeit hatte ich nicht gesungen.
Eine Stunde nach ihrer Heimkunft zog unsere Schar auf die Piazza Colonna. Die Musikanten wurden unter dem Balkone, auf welchem wir noch Licht hinter den langen Vorhängen erblickten, aufgestellt. Meine ganze Seele war in Bewegung, ich dachte nur an sie, mein Gesang vereinigte sich dreist mit dem der andern. Ich hatte eine Solonummer, und während ich sang, schwand alles in der Welt vor mir, ich schöpfte tief Atem, meine Stimme gewann eine Kraft und eine Weichheit, die ich vorher nicht geahnt hatte. Meine Umgebung konnte ein schwaches Bravo nicht unterdrücken, welches aber doch laut genug war, um mich auf meinen eignen Gesang aufmerksam zu machen. Eine wunderbare Freude erfüllte meine Brust, ich fühlte den Gott, der sich in mir regte, und als sich Annunziata auf dem Balkon zeigte, sich tief verneigte und uns dankte, schien es mir, als ob es nur mir allein gelte. Ich hörte, wie ich den Chor beherrschte, in dem sich meine Stimme bewegte, wie die Seele in dieser großen Tonwelt. In einem halben Begeisterungsrausche kam ich nach Hause, in meiner Eitelkeit träumte ich nur von Annunziatas Freude über meinen Gesang, ich war ja selbst über meine Leistungen erstaunt.
Am nächsten Tage stattete ich ihr einen Besuch ab; ich traf schon Bernardo und mehrere Bekannte bei ihr. Sie war über die schöne Tenorstimme entzückt, welche sie bei der Serenade gehört hatte; ich wurde bei diesem Lobe blutrot. Als einer der Anwesenden verriet, daß ich der Sänger gewesen, zog sie mich schnell nach dem Klavier und verlangte, ich sollte ein Duett mit ihr singen. Ich stand wie auf dem Richtplatz, versicherte, es wäre unmöglich, man bat und Bernardo schalt mich aus, weil ich sie nur um den Gesang der Signora bringen wollte. Sie nahm mich bei der Hand und ich war ein gefangener Vogel. Es half nicht, daß ich noch mit den Flügeln schlug, ich mußte singen. Es war ein mir bekanntes Duett; Annunziata spielte die Begleitung und erhob ihre Stimme. Zitternd begann ich mein Adagio, ihr Blick ruhte auf mir, als wollte er sagen: Mut, Mut, folge nur in meine Tonwelt! Und nur an diese dachte ich, nur von Annunziata träumte ich. Meine Furcht verschwand, und ohne Zagen endete ich meinen Gesang. Ein stürmischer Beifall begrüßte uns beide, selbst die alte schweigsame Frau nickte mir freundlich zu.
»Mensch!« raunte mir Bernardo zu, »du setzest mich in Erstaunen!« und darauf erzählte er allen, daß ich noch ein eben so prächtiges Talent besäße, ich wäre auch Improvisator, und ich müßte ihnen die Freude machen, vor ihnen eine Probe meiner Kunst abzulegen. Meine ganze Seele war in Bewegung; wegen meines Gesanges mit Schmeicheleien überhäuft, und meiner Kraft mir bewußt, bedurfte es nur Annunziatas Bitte, und zum erstenmal, seitdem ich erwachsen war, hatte ich die Dreistigkeit, eine Improvisation zu wagen. Ich nahm ihre Guitarre, und sie gab mir das Wort »Unsterblichkeit« auf. Ich überlegte den reichen Stoff, griff einige Accorde und begann nun mein Gedicht, wie es unmittelbar meiner Seele entquoll. Mein Genius führte mich über das blaue Mittelmeer nach Griechenlands wildüppigen Thälern, Athen lag in Trümmern, die wilde Feige überwuchs die zerbrochenen Kapitäler, und der Geist seufzte, denn einst, in Perikles' Tagen, bewegte sich hier unter den stolzen Bogengängen das fröhliche Volksgewühl, es war das Fest der Schönheit, Frauen, schön wie eine Lais, tanzten mit Kränzen durch die Straßen, und die Dichter sangen laut, daß das Schöne und Gute nie verschwände. Nun waren jene edlen Töchter der Schönheit Staub, in Staub gebettet, vergessen die Formen, die ein glückliches Geschlecht entzückt hatten. Während mein Genius auf den Trümmern Athens weinte, zog man aus dem Schoß der Erde herrliche Statuen hervor, Schöpfungen großer Künstler, mächtige Göttinnen, in Marmorgewändern schlummernd, und mein Genius erkannte Athens Töchter wieder, die die Schönheit zur Gottheit erhoben und der weiße Marmor den kommenden Geschlechtern aufbewahrt hatte. Unsterblich, sang ich, ist die Schönheit, aber keine irdische Kraft noch Macht. Mein Genius schwang sich über das Meer, nach Italien, nach der Weltstadt hinüber, schaute schweigend von den Ruinen der Kaiserburg aus über das alte, das ewige Rom. Die Tiber wälzte ihre gelben Wellen und wo Horatius Cocles einmal kämpfte, trug sie jetzt Barken mit Holz und Oel nach Ostia. Wo auf dem Forum sich Curtius in den Flammenschlund stürzte, streckte sich jetzt das Vieh in dem hohen Grase. Augustus und Titus! Stolze Namen, welche nur ihre eingestürzten Tempel und Triumphbogen noch nennen! Roms Adler, Jupiters mächtige Vögel lagen tot im Neste. Rom, wo war deine Unsterblichkeit? Da flammte des Adlers Blitz, der Bannstrahl fuhr über das emporwachsende Europa. Roms gestürzter Thron verwandelte sich in Peters Stuhl, und Könige wanderten barfuß nach der heiligen Stadt, nach Rom, der Weltbeherrscherin. Aber im Laufe der Jahrhunderte zeigt sich der Tod. Der Tod ereilt alles, was die Hand ergreifen, was das Auge beschauen kann. Aber kann das Schwert Petri wohl rosten? Kann die Macht der Kirche sinken? Kann das Unmögliche geschehen? Rom steht doch stolz in seinen Trümmern da mit den Göttern des Altertums und den heiligen Bildwerken, welche die Welt durch die ewige Kunst beherrschen. Zu deiner Hoheit, Rom, mögen Europas Söhne immerdar wallfahrten, von Ost und von West, vom kalten Norden mögen sie herbeiströmen und ihre Herzen bekennen: Rom, deine Macht ist unsterblich.
Ein stürmischer Beifall begrüßte mich, als ich diese Stanze endete, nur Annunziata rührte nicht eine Hand, aber still und schön wie ein Venusbild schaute sie mir mit einem treuen, holden Blick ins Auge. Des vollen Herzens stumme Sprache und Worte strömten über meine Lippen in leichten Versen, wie sie mir Herz und Begeisterung eingaben.
Von dem großen Schauplatz der Welt führte ich sie auf die kleinere Bühne, schilderte die große Künstlerin, die durch Spiel und Töne jedes Herz an sich fesselte. Annunziata schlug das Auge nieder, denn es war ihr, als dächte ich an sie, und jeder mußte es auch aus der Schilderung, die ich gab, merken. Und wenn nun die letzten Töne verklungen, der Vorhang gefallen und selbst der brausende Jubel verstummt wäre, dann wäre auch ihr Kunstwerk tot, eine schöne Leiche, in der Zuhörer Brust bestattet. Aber eines Dichters Herz sei wie das Grab der Madonna: alles verwandle sich in ihm in Blumen und Duft, die Tote steige herrlicher daraus hervor und aus seinem mächtigen Gesange erblühe ihr »Unsterblichkeit!«
Mein Auge ruhte auf Annunziata; Herz und Mund hatten sich ausgesprochen, ich verneigte mich tief, und alle umringten mich mit Dank- und Schmeichelworten.
»Sie haben mich aufrichtig erfreut,« sagte Annunziata und sah mir vertraulich in die Augen; ich wagte ihr die Hand zu küssen.
Mein Gedicht hatte ihr ein höheres Interesse für mich eingeflößt, sie fühlte schon damals, was ich erst später erkannte, daß mich meine Liebe zu ihr bestach, ihrer Kunst und der Ausüberin derselben einen Platz im Reiche der Unsterblichkeit anzuweisen, zu dem sie sich nicht emporschwingen konnten. Die dramatische Kunst ist gleich dem Regenbogen eine himmlische Pracht, eine Brücke zwischen Himmel und Erde, die bewundert wird und mit allen ihren Farben verschwindet.
Täglich besuchte ich sie. Die wenigen Karnevalstage, welche noch übrig waren, flogen wie ein Traum dahin, aber ich genoß sie recht, denn bei Annunziata sog ich eine Lebensfreude ein, die ich nie zuvor gefühlt hatte.
»Du beginnst ja schon ein Mensch zu werden,« sagte Bernardo, »ein Mensch wie wir andern, und hast doch erst an dem Becher genippt. Ich möchte darauf schwören, daß du nie ein Mädchen geküßt, nie mit deinem Kopfe an dessen Schulter geruht hast! Wenn Annunziata dich nun liebte –?«
»Wie kannst du so etwas denken!« erwiderte ich halb ärgerlich, und das Blut stieg mir in die Wangen; »Annunziata, das herrliche Weib, welches so hoch über mir steht!«
»Ja, mein Freund, hoch oder niedrig, sie ist ein Frauenzimmer, und du bist ein Poet, deren Verhalten man nie beurteilen kann. Hat der Dichter erst einen Platz im Herzen, dann hat er auch den Schlüssel, der den Geliebten hineinlassen kann.«
»Es ist Bewunderung für sie, was meine Seele erfüllt; ich huldige ihrer Munterkeit, ihrem Verstande und der Kunst, welche sie ausübt. Sie lieben? Der Gedanke ist mir noch nie in den Sinn gekommen,«
»Wie ernst und feierlich!« unterbrach mich Bernardo lächelnd. »Du bist nicht verliebt! Freilich, es ist ja wahr, du bist ja ebenfalls eine jener geistigen Amphibien, bei denen man nie weiß, ob sie eigentlich der Körper- oder der Traumwelt angehören. – Du bist nicht verliebt, bist es nicht in der Weise, wie ich, nicht in der Weise, wie es jeder andere sein müßte. Du sagst es ja selbst, und ich will dir glauben; aber du mußt es dann auch in deinem Benehmen zeigen, nicht das Blut die Wangen auf und ab marschieren lassen, wenn sie mit dir redet, nicht diese bedeutungsvollen Feuerblicke auf sie richten. Ich rate es dir um ihrer selbst willen! Was meinst du wohl, daß andere darüber denken? – Aber glücklicherweise reist sie übermorgen ab und wer weiß, ob sie nach Ostern zurückkehrt, wie sie versprochen hat.«
Fünf lange Wochen wollte uns Annunziata verlassen. Sie war bei dem Theater in Florenz engagiert, und ihre Abreise auf den ersten Tag in den Fasten festgesetzt.
»Nun bekommt sie eine neue Schar Anbeter!« fuhr Bernardo fort; »die alten werden dann bald vergessen, ja selbst deine schöne Improvisation, wofür sie dir so zärtliche Blicke zusandte, daß man sich ordentlich darüber erschrecken konnte. Aber ein Narr ist, wer nur an ein einziges Weib denkt; wir besitzen sie alle! Die Wiese steht voller Blumen, man kann überall pflücken.«
Am Abend waren wir zusammen im Theater; Annunziata trat das letzte Mal vor ihrer Abreise auf. Wir sahen sie wieder als Dido, und ihre Leistungen in Spiel und Gesang waren eben so vortrefflich wie das erste Mal; eine höhere Stufe der Kunst konnte sie nicht mehr erreichen, ihr Spiel war die Vollendung der Kunst. Sie war mir wieder das reine Ideal, welches ich mir an jenem Abende von ihr gebildet hatte. Die muntere Laune, die leichte Ausgelassenheit, von der in der Opera Buffa wie im Leben selbst ihr ganzes Wesen sprühte, kam mir wie eine bunte Welttracht vor, die sie nur angenommen hatte; sie stand ihr gut, aber in Dido zeigte sie ihre ganze Seele, ihr eigentliches und geistiges Ich. Entzücken und Jubel begrüßte sie; begeisterter hatte das jubelnde Römervolk schwerlich Cäsar und Titus empfangen.
Mit dem aufrichtigen Danke eines gerührten Herzens sagte sie uns allen Lebewohl und versprach uns bald wieder zurückzukehren. Ein wiederholtes Bravo erfüllte das Haus; man wollte sie wieder und wieder sehen, und im Triumph zog man wie das erste Mal ihren Wagen durch die Straßen; ich war unter den Vordersten; Bernardo jubelte ebenso begeistert wie ich, während wir uns dicht am Wagen hielten, in welchem Annunziata, glücklich wie es nur ein edles Herz sein kann, lächelnd saß.
Der nächste Tag war der letzte des Karnevals und der letzte, welchen Annunziata noch in Rom zubrachte. Ich kam, um ihr meinen Abschiedsbesuch zu machen. Der Beifall, den man ihrem Talente geschenkt, hatte sie tief bewegt. Sie freute sich schon auf ihre Rückkunft zu Ostern, trotzdem Florenz wegen seiner schönen Natur und der herrlichen Bildergalerien ihr ein lieber Aufenthaltsort war. Durch einige kleine Züge gab sie mir ein so klares Bild von Stadt und Umgebung, daß ich alles deutlich vor mir sah, die waldigen Apenninen, mit Villen übersäet, die Piazza del Granduca und alle die alten prächtigen Paläste. »Ich werde die herrliche Galerie wiedersehen!« sagte sie freudig erregt, »wo ich zum erstenmal Liebe zur Skulptur einsog und des Menschengeistes Größe fühlte, der es verstand, wie ein Prometheus dem Toten Leben einzuhauchen. Könnte ich Sie in diesem Augenblicke in einem der Säle, zwar den kleinsten, mir aber liebsten unter allen, hineinführen, Sie würden glücklich werden, wie ich es war, wie ich es bei der Erinnerung bin. In dem achteckigen Zimmer hängen nur ausgesuchte Meisterwerke, aber alle verschwinden vor der lebensvollen Statue in demselben Gemache, vor der mediceischen Venus! Nie habe ich einen ähnlichen Lebensausdruck im Stein gesehen. Das Marmorauge, welches sonst ohne Sehkraft ist, hier ist es lebendig. Der Künstler hat ihrem Blick einen solchen Ausdruck zu verleihen gewußt, daß sie bei der Beleuchtung zu sehen, ja uns bis in die Seele zu schauen scheint. An der Wand hinter der Statue hängen zwei prächtige Bilder der Venus, von Tizian gemalt, es sind Bilder der Göttin der Schönheit in Leben und Farben, aber nur die irdische Schönheit kommt in ihnen zur Erscheinung, in der marmornen Göttin die himmlische. – Raffaels Fornarina, die überirdischen Madonnen rühren meinen Geist und mein Herz, und doch muß ich immer wieder zur Venusstatue zurückkehren, sie steht vor mir, nicht wie ein Bild, sondern vollkommen lebendig, mir mit ihrem Marmorauge bis in die Seele schauend. Ich weiß keine Statue, keine Gruppe, die mich so anspricht, nein, nicht einmal Laokoons, obschon der Stein im Schmerz zu seufzen scheint. Der vatikanische Apollo, welchen Sie ja kennen, ist meiner Anschauung nach allein ein würdiges Seitenstück. Die Kraft und geistige Größe, die der Künstler in den Dichtergott hineingelegt hat, stellt sich weiblich edler in der Schönheitsgöttin dar.«
»In Gipsabdruck kenne ich die herrliche Statue,« erwiderte ich; »in Pasten habe ich sehr gute Abdrücke gesehen.«
»Aber es giebt ja nichts Unvollkommeneres! Die tote Gipsmaske macht den Ausdruck tot; der Marmor giebt Leben und Seele, in ihm verwandelt sich der Stein zu Fleisch, es ist, als rollte das Blut unter der feinen Haut. – Wären Sie doch mit in Florenz, um zu bewundern und anzubeten! Ich möchte Ihre Führerin sein, wie Sie in Rom mein Führer sein müssen, wenn ich zurückkomme.«
Ich verneigte mich tief und fühlte mich durch ihr Verlangen geschmeichelt und glücklich. »Erst nach Ostern sehen wir Sie also wieder?«
»Ja, zur Illumination der Peterskirche und der Girandola,« erwiderte sie, »behalten Sie mich mittlerweile in freundlicher Erinnerung, wie ich in der Florenzer Galerie oft Ihrer gedenken und wünschen werde, daß Sie da wären und die Schätze derselben sähen! Es geht mir stets so: sehe ich etwas Schönes, dann sehne ich mich nach meinen Freunden und wünsche, sie wären bei mir und könnten meinen Genuß teilen. Das ist meine Art Heimweh.«
Sie reichte mir die Hand, ich küßte sie und wagte halb im Scherz zu sagen: »Wollen Sie der mediceischen Venus meinen Kuß überbringen?«
»Also mir gilt er nicht,« sagte Annunziata. – »Nun ich will ihn ehrlich besorgen!« Sie nickte dabei so mild und dankte mir für die heitern Stunden, die ich ihr durch meinen Gesang und meine Improvisation verschafft hätte. »Wir sehen uns wieder!« schloß sie und wie ein Träumender verließ ich das Zimmer.
Draußen traf ich mit der alten Dame zusammen, die mich freundlicher als gewöhnlich begrüßte; in meiner erregten Gemütsstimmung küßte ich ihr die Hand; sie klopfte mir sanft auf die Schulter und ich hörte sie sagen: »Sie sind ein guter Mensch!« und dann befand ich mich auf der Straße, selig über Annunziatas Freundlichkeit und entzückt von ihrem Geiste und ihrer Schönheit.
Ich fühlte mich recht aufgelegt, diesen letzten Karnevalstag zu genießen, ich konnte mir nicht vorstellen, daß Annunziata fortreiste, unser Abschied war zu leicht gewesen, es kam mir vor, daß das Wiedersehen schon am nächsten Morgen stattfinden müßte. Ohne Maske nahm ich doch lustig an dem Kampfe mit Confetti teil. Alle Stühle die ganze Straße entlang waren besetzt, alle Tribünen und Fenster gefüllt, die Wagen fuhren auf und ab, und zwischen ihnen drängte sich, einem wogenden Strome gleich, das bunte Menschengewimmel. Um etwas freier zu atmen, mußte man dreist vor einem der Wagen einherlaufen; der kleine Raum zwischen zwei einander folgenden Wagen war der einzige, auf welchem man sich einigermaßen bewegen konnte. Die Musik rauschte, lustige Masken sangen, und von einem der Wagen herab posaunte il capitano seine stolzen Thaten zu Wasser und zu Lande aus. Ausgelassene Knaben auf hölzernen Pferden, von denen eigentlich nur Kopf und Hinterteil sichtbar war, während der übrige Körper sich unter einer bunten Decke verbarg, die die zwei Beine des Reiters verhüllte, welche die vier Pferdefüße ersetzen mußten, drängten sich in den engen Raum zwischen den Wagen ein und vermehrten noch die Verwirrung. Ich war wie eingekeilt und nicht imstande mir einen Ausgang aus dem Gedränge zu verschaffen; der Schaum der Pferde hinter mir spritzte mir um die Ohren. Um mich aus dem Volksgetümmel herauszuwinden, sprang ich hinten auf einen Wagen, in welchem zwei Masken saßen, dem Anscheine nach ein alter dicker Herr in Schlafrock und Nachtmütze und ein niedliches Blumenmädchen. Dasselbe hatte sofort bemerkt, daß mich weniger Mutwillen als Furcht dazu gebracht hatte, hinten aufzuspringen, und klopfte mir deshalb sanft auf die Hand, indem es mir zwei Confettikugeln zur Erquickung anbot. Der alte Herr warf mir dagegen einen ganzen Korb voll ins Gesicht, und als der Platz hinter mir freier wurde, begann das Blumenmädchen ebenfalls, so daß ich, wehrlos dieser Kanonade preisgegeben, und schon von Kopf bis zu den Füßen wie mit Puder bestreut, auf das Schnellste die Flucht ergreifen mußte. Zwei Harlekine bürsteten mich lustig mit ihren Pritschen ab. Als aber auf der Rückfahrt der Wagen wieder an mir vorbeipassierte, brach das Unwetter von neuem über mich los. Ich beschloß mich nun meinerseits mit Hilfe der Confettikugeln in Verteidigungszustand zu versetzen; allein die Kanonenschüsse ertönten, die Wagen mußten in die engen Seitenstraßen einbiegen, um für das Wettrennen Platz zu machen, und meine beiden Masken waren mir mit einem Male aus dem Gesichte verschwunden. Sie schienen mich zu kennen, wer konnte es sein? Bernardo hatte ich heute auf dem Korso nirgends erblickt. Ein Gedanke ging mir durch den Sinn: der alte Herr im Schlafrock und der Nachtmütze mußte er sein und das niedliche Blumenmädchen sein sogenannter »zahmer Vogel.« Das Gesicht hätte ich doch wohl sehen mögen! Ich hatte auf einem der Stühle dicht an der Ecke Platz genommen; bald schallte der Kanonenschuß, und die Pferde brausten durch den Korso bis nach dem venetianischen Platze und das Menschengewimmel ergoß sich hinter ihnen wieder über die ganze Straße. Schon wollte ich mich auf den Weg machen, als sich ringsum der ängstliche Ruf hören ließ: »Cavallo!« Eines der Pferde, welches zuerst das Ziel erreicht hatte, war nicht angehalten worden, sondern war augenblicklich umgekehrt und hatte seinen Weg zurück fortgesetzt. Bedenkt man das dichte Getümmel, die Sorglosigkeit, in der nach Beendigung des Laufes jetzt alle einhergingen, dann wird man begreifen, welches Unglück hätte geschehen können. Wie ein Blitzstrahl durchzuckte mich die Erinnerung an meiner Mutter Tod, es war, als fühlte ich den fürchterlichen Moment, als die wilden Pferde über uns fortbrausten. Mein Auge starrte unbeweglich vor mich hin. Die Menge flog wie durch einen Zauberschlag auf die Seite, sie schien in einem Nu in sich selbst zusammengedrängt. Ich sah das Pferd schäumend und mit blutigen Seiten, mit wildflatternder Mähne und Funken sprühend, vorbeisausen, sah es plötzlich, wie durch einen Schuß zur Erde gestreckt, zusammenstürzen und tot daliegen. Aengstlich fragte ein jeder, ob kein Unglück geschehen wäre, aber Madonna hatte ihre schützende Hand über ihr Volk ausgebreitet, nichts verlautete, und die wohl überstandene Gefahr machte die Gemüter lustiger und weit wilder. Das Zeichen ward gegeben, die Ordnung in der Wagenreihe löste sich auf und das prächtige Moccolo sollte als glänzendes Finale des Karnevals beginnen. Die Wagen fuhren nun durcheinander, die Verwirrung und der Lärm wurde größer, die Dunkelheit mit jeder Minute stärker, aber nun zündete jeder seinen Wachsstock an, einzelne ganze Bündel. An allen Fenstern saßen sie mit Lichtern, Häuser und Wagen waren an diesem stillen schönen Abend mit diesen schimmernden Sternen wie übersäet. Papierlaternen, Lichtpyramiden schwebten auf langen Stangen über die Straße hinaus; jeder suchte sein Licht zu schützen, dagegen das seines Nachbars auszulöschen, während der Ruf: »Lia ammazato, chi non porta moccoli!« sich immer wilder erhob. Vergebens suchte ich meines zu schützen, alle Augenblicke war es aus, ich warf es fort und verlangte nun, alle um mich her sollten dasselbe thun. Die Damen längs der Mauer des Hauses steckten ihre Lichter zu den Kellerfenstern hinein und riefen mir lachend zu: senza moccoli. Sie hielten ihre eignen Lichter für gesichert, aber die Kinder im Innern kletterten auf Tische und bliesen sie aus. Kleine Papierballons und Lampions senkten sich aus den obersten Fenstern hinab. Viele Leute saßen an denselben, die gleich Hunderte von Wachsstöcken angezündet hatten und sie an langen Stangen über die Straße hinaushielten, indem sie riefen: »Wer nicht ein kleines Licht trägt, muß sterben!« Neue Gestalten kletterten indes auf die Dachrinne hinaus, und hatten ihre Taschentücher an lange Stangen gebunden, womit sie jene Lichter auslöschten und die ihrigen dafür hoch in die Luft hoben und ein freudiges »senza moccoli!« riefen. – Ein Fremder, der es noch nicht gesehen hat, kann sich von diesem betäubenden Tumult, Gewühl und Gedränge keine Vorstellung machen. Die Luft ist von der Menschenmasse und den brennenden Lichtern dick und warm. Plötzlich sah ich, als einige Wagen in die finstere Seitenstraße einbogen, meine beiden Masken dicht vor mir. Die Lichter des Kavaliers im Schlafrocke waren erloschen, aber das junge Blumenmädchen hielt einen Strauß brennender Wachsstöcke an einem Rohre, welches gewiß vier bis fünf Ellen lang war, hoch empor. Sie lachte laut vor Freude, als man mit den an Stöcke gebundenen Tüchern nicht hinauf langen konnte, und der Mann im Schlafrock überflutete jeden, der sich zu nähern wagte, mit Confetti. Ich ließ mich nicht abschrecken; in einem Nu war ich hinten auf dem Wagen, ergriff das Rohr mit fester Hand und, obgleich ich ein flehentliches »Nein« hörte und ihr Beschützer mich mit den Gipskugeln schonungslos bombardierte, ließ ich nicht los, sondern bemühte mich, das Rohr hinabzubeugen. Bei dem Versuche zerbrach es in meinen Händen, und der strahlende Strauß fiel unter dem Jubel der Menge auf die Erde. »Pfui, Antonio!« rief das Blumenmädchen. Es ging mir durch Mark und Bein, denn es war Annunziatas Stimme. Sie warf mir all ihr Confetti ins Gesicht und den Korb dazu. In meiner Ueberraschung sprang ich hinab und der Wagen rollte weiter, aber ich sah einen Strauß als Versöhnungszeichen mir nachfliegen. Ich fing ihn in der Luft auf, wollte ihnen nach, aber es war unmöglich mich hindurchzudrängen. Die Wagen befanden sich im Gedränge, es herrschte die größte Verwirrung, indem einige nach der einen, andere wieder nach einer andern Seite auswichen. Ich bog in eine Seitenstraße ein, aber als ich freier atmete, fühlte ich nur um so mehr die schwere Last auf meinem Herzen. »In wessen Begleitung mochte Annunziata ausgefahren sein?« – Daß sie am letzten Tage an dem Karneval teilnehmen wollte, fand ich natürlich, aber der Herr im Schlafrocke? Ach ja, meine erste Vermutung war gewiß richtig! Es mußte Bernardo sein. Ich wollte mich davon überzeugen. Schnell lief ich durch die Seitenstraßen nach der Piazza Colonna, auf welcher Annunziata wohnte, und postierte mich an der Hausthüre auf, um ihre Ankunft abzuwarten. Bald kam auch der Wagen und ich sprang hinzu, als ob ich der Diener des Hauses wäre. Annunziata hüpfte heraus, ohne mich anzusehen. Nun kam der Herr im Schlafrock, er stieg zu langsam aus, um Bernardo sein zu können. »Dank, mein Freund!« sagte er, und an der Stimme erkannte ich ihre alte Freundin, sah auch an den Füßen und dem braunen Rocke, der beim Aussteigen unter dem Schlafrocke hervorguckte, wie sehr ich mich in meiner Vermutung geirrt hatte. »Felicissima notte, Signora!« rief ich laut in meiner Freude. Annunziata lachte, sagte scherzend, ich wäre ein schlechter Mensch und sie würde eilen, um nach Florenz zu kommen, aber ihre Hand drückte doch die meinige. Selig und mit leichtem Herzen verließ ich sie, jubelte laut den wilden Ruf: »Wer kein Licht hat, muß sterben!« und dabei hatte ich selber keines. – Ich dachte indes nur an sie und die gute alte Frau, die gewiß lediglich um ihr eine Freude zu bereiten, sich in Nachtmütze und Schlafrock geworfen und so an dem Karneval teilgenommen hatte, an einer Freude, für welche sie nicht geschaffen schien. Und wie schön war es von Annunziata, daß sie nicht mit einem Fremden gefahren war, daß sie weder Bernardo noch selbst dem Kapellmeister gestattet hatte in ihrem Wagen zu fahren. Daß ich in dem Augenblicke, in welchem ich sie erkannte, auf die Nachtmütze eifersüchtig geworden war, wollte ich mir selbst nicht gestehen; glücklich und fröhlich war ich und in Freude wollte ich die wenigen Stunden zubringen, die noch bis zum Schluß des Karnevals übrig waren. Ich besuchte das Festino; das ganze Theater war mit Guirlanden von Lampen und Lichtern erleuchtet, alle Logen waren mit Maskierten und Fremden ohne Maske gefüllt. Vom Parterre aus führte eine hohe breite Treppe über das dadurch verdeckte Orchester auf die Bühne, die durch Draperien und Kränze zu einem festlich dekorierten Ballsaal umgewandelt war; zwei Orchester wechselten miteinander ab. Eine Menge Vetturinomasken tanzten einen lustigen Ringtanz um Bacchus und Ariadne; sie zogen mich mit in den Kreis hinein, und in meiner Glückseligkeit machte ich die ersten Tanzpas, und fand es so lustig, daß es bei diesen nicht blieb, nein, ehe ich spät in der Nacht leichten Fußes nach Hause ging, machte ich mit den lustigen Masken noch ein Tänzchen und rief mit ihnen: »die glücklichste Nacht folge dem schönsten Karneval!«
Mein Schlaf war nur kurz. Ich dachte in der schönen Morgenstunde an Annunziata, welche vielleicht in diesem Augenblicke Rom verließ, dachte an die lustigen Karnevalstage, die ein neues Leben in mir hervorgerufen zu haben schienen und nun mit all ihrem Jubel und Gewühl verschwunden waren. Ich hatte keine Ruhe, ich mußte in die frische Luft hinaus. Alles war draußen mit einem Schlage verändert. Alle Thüren und Läden waren geschlossen, wenige Menschen auf den Straßen, und auf dem Korso, wo das lustige Gewimmel sich gestern kaum vorwärts drängen konnte, gingen nur einige Sträflinge in ihrer weißen Kleidung mit den breiten blauen Streifen und fegten Confetti fort, der wie Hagel auf der Straße lag. Ein elender Gaul, mit seinem Heubündel an der Seite, von dem er fraß, zog den kleinen Karren, in welchem der Kehricht gesammelt wurde. Ein Vetturin hielt vor einem Hause, belud das Verdeck seiner Kutsche mit Kasten und Schachteln, breitete eine große Decke über dies schwankende Bauwerk und zog nun die eisernen Ketten so fest, daß sie tief in das Leder der hinten aufgebundenen Koffer einschnitten. Aus einer Seitenstraße kam eine ähnlich bepackte Kutsche. Alle zogen fort. Es ging nach Neapel oder Florenz. Rom sollte fünf lange Wochen hindurch, vom Aschermittwoch bis Ostern, tot daliegen.