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Bild: Hans Tegner

Ole Luk-Oie

Anmk. d. Übers.: Ole Luk-Oie heißt wörtlich Ole Augenschließer. Es ist eine märchenhafte Gestalt, die von Andersen erfunden wurde.
Es existiert zwar schon lange in der dänischen Sprache das Wort »Ole Luk«, was unserem Sandmann entspricht. Aber das deutsche »der Sandmann kommt« entbehrt für die Kinder den so liebenswürdigen Begriff des von Andersen erfundenen »Ole Luk-Oie«, der Augenschließer.

Niemand auf der ganzen Welt weiß so viele Geschichten als Ole Luk-Oie, der Augenschließer oder der Sandmann! – Ja, der kann herrlich erzählen!

So gegen Abend, wenn die Kinder noch am Tisch oder auf ihren Schemeln sitzen, kommt Ole Luk-Oie. Ganz leise steigt er die Treppe herauf; denn er geht auf Socken. Ganz leise macht er die Türe auf und husch – da hat er schon den Kindern süße Milch in die Augen gespritzt, und das so fein, so fein, aber immerhin genug, daß sie die Augen nicht offen behalten und ihn deshalb nicht sehen können. Dann schleicht er hinter sie, bläst ihnen sachte in den Nacken, und dann werden den Kleinen die Köpfe schwer.

Ja, ja, so macht er es, und es tut ihnen gar nicht weh, denn Ole Luk-Oie meint es mit den Kindern gerade gut. Er will nur, daß sie ruhig sein sollen; und das sind sie am ersten, wenn man sie zu Bett gebracht hat. Denn sie sollen still sein, damit er ihnen Geschichten erzählen kann.

Wenn die Kinder einschlafen, dann setzt sich Ole Luk-Oie neben sie aufs Bett. Er ist recht hübsch gekleidet. Er trägt einen Rock aus Seidenzeug, dessen Farbe man aber unmöglich genau bestimmen kann, denn je nachdem er sich stellt, schillert er grün, rot und blau. Unter jedem Arm trägt er einen Regenschirm.

Bild: Hans Tegner

Auf dem einen seiner Schirme prangen wunderschöne Bilder, und den spannt er über die guten, artigen Kinder aus, und dann träumen diese während der Nacht die herrlichsten Geschichten. Auf dem andern Schirm aber befindet sich gar nichts, und den spannt er über die unartigen Kinder aus, die dann so fest schlafen, daß sie mit schwerem Kopf erwachen und am Morgen gar nichts geträumt haben.

Nun werden wir hören, wie Ole Luk-Oie eine ganze Woche lang jeden Abend zu einem kleinen Knaben kam, der Hjalmar hieß, und was er ihm erzählte.

Es sind im ganzen sieben Geschichten, denn die Woche hat ja sieben Tage.

Montag

»Passe nun wohl auf!« sagte Ole Luk-Oie am Abend, nachdem er Hjalmar zu Bett gebracht hatte. »Nun werde ich ordentlich aufputzen!« Und da wurden plötzlich alle Pflanzen in den Blumentöpfen zu großen Bäumen, die ihre langen Zweige bis an die Decke und den Wänden entlang ausstreckten, so daß die ganze Stube wie eine prächtige Laube aussah. Die Zweige waren voll duftender Blumen, und jede Blume war schöner als eine Rose; und wenn man sie essen wollte, so schmeckte sie noch besser als Eingemachtes. Die Früchte glänzten wie lauter Gold, und Kuchen waren da, die von Rosinen strotzten – das war wunderbar schön!

Auf einmal aber ertönte ein schreckliches Jammern und Stöhnen aus der Tischschublade, wo Hjalmars Schulbücher lagen.

»Was ist denn das?« sagte Ole Luk-Oie. Damit ging er an den Tisch und zog die Schublade heraus. Die Schreibtafel war es, in der es schmerzte und drückte; denn in das Rechenexempel, das darauf geschrieben stand, war eine falsche Zahl hineingekommen, so daß gar kein Zusammenhalt darin war.

Bild: Hans Tegner

Der Griffel hüpfte und tanzte an dem Bindfaden, mit dem er an die Tafel gebunden war, wie wenn er ein kleines Hündchen wäre, das dem Rechenexempel zu Hilfe kommen wollte. Aber er konnte es nicht.

Und dann war es Hjalmars Schreibheft, in dessen Innerem es auch jammerte; es war schrecklich anzuhören. Auf jedem Blatt standen nämlich der Länge nach herunter die großen Buchstaben und neben jedem von ihnen ein kleiner. Das war die Vorschrift des Lehrers; aber daneben standen einige andere Buchstaben, und diese bildeten sich ein, wie die vorgeschriebenen auszusehen. Hjalmar hatte sie geschrieben; allein es sah fast aus, als ob sie über die Linien, auf denen sie stehen sollten, hingestürzt wären.

»Seht, so sollt ihr euch halten!« sagte die Vorschrift. »Seht, so nach der Seite hin mit einem kühnen Schwung!«

»Ach, wir täten es gern«, sagten Hjalmars Buchstaben, »aber wir können es nicht; wir sind zu schwächlich!«

»Dann werde ich euch Kinderpulver geben«, sagte Ole Luk-Oie.

»O nein!« riefen sie entsetzt aus und standen plötzlich ganz aufrecht da, daß es eine wahre Lust war, sie anzusehen.

»So, nun wird keine Geschichte erzählt«, sagte Ole Luk-Oie. »Ich muß die Buchstaben einüben! Eins, zwei! Eins, zwei!« So übte er die Buchstaben ein, und dann standen sie so aufrecht und schön da, wie nur eine Vorschrift dastehen kann.

Als aber Ole Luk-Oie gegangen war, und Hjalmar am nächsten Morgen die Buchstaben in seinem Schreibheft betrachtete, da waren sie ebenso jämmerlich wie vorher.

Bild: Hans Tegner

Dienstag

Sobald Hjalmar in seinem Bettchen lag, berührte Ole Luk-Oie mit seiner Zauberspritze alle Möbel in der Stube. Sogleich begannen diese zu plaudern und redeten allesamt von sich selbst, mit Ausnahme des Spucknapfes, der stumm dastand und sich nur darüber ärgerte, daß die andern so eitel waren und nur von sich selbst sprachen und ihn, der so bescheiden in der Ecke stand und sich bespucken ließ, gar nicht beachteten.

Über der Kommode hing ein großes Gemälde, in einem breiten goldenen Rahmen, das eine Landschaft vorstellte. Auf diesem sah man große alte Bäume, Blumen im Grase und einen breiten Fluß, der dem Wald entlang an vielen Schlössern vorüberfloß und schließlich in das Meer mündete.

Nun berührte Ole Luk-Oie das Gemälde mit seiner Zauberspritze, und da begannen die Vögel auf dem Bild zu singen, die Bäume bewegten ihre Äste, die Wolken schwebten rasch dahin, und man konnte ihren Schatten über die Landschaft dahingleiten sehen.

Dann hob Ole Luk-Oie den kleinen Hjalmar zu dem Rahmen empor, und da steckte Hjalmar seine Füße in das Gemälde hinein, gerade in das hohe Gras, und dort stand er nun. Die Sonne schien durch die Zweige der Bäume hell auf ihn herab. Hjalmar lief an das Wasser und bestieg ein kleines Boot, das dort lag. Es war rot und weiß gemalt; die Segel erglänzten wie Silber, und sechs Schwäne mit Goldkronen um den Hals und einem strahlenden blauen Stern auf dem Kopfe zogen das Boot an den grünen Wäldern vorüber, wo die Bäume von Räubern und Hexen, und die Blumen von niedlichen, kleinen Elfen erzählten, und allem, was ihnen die Schmetterlinge anvertraut hatten.

Herrliche Fische mit Schuppen wie Silber und Gold schwammen dem Boot nach. Mitunter machten sie einen Sprung, daß es im Wasser plätscherte, und rote und blaue, große und kleine Vögel flogen in zwei langen Reihen hinterher. Die Mücken tanzten und die Maikäfer summten Hjalmar zu, daß sie ihn begleiten wollten und jeder eine Geschichte zu erzählen habe.

Das war eine herrliche Segelfahrt! Bald waren die Wälder ganz dicht und dunkel, bald glichen sie den prächtigsten Gärten voll Sonnenschein und hohen Bäumen, und bald breiteten sich große Schlösser von Glas und Marmor vor ihnen aus. Auf den Altanen standen Prinzessinnen; das waren lauter kleine Mädchen, die Hjalmar recht gut kannte. Er hatte früher schon mit ihnen gespielt. Jede von ihnen streckte die Hand aus und hielt ihm das niedlichste Zuckerschweinchen hin, das je von einer Kuchenfrau verkauft worden ist. Hjalmar erfaßte, indem er in seinem Boot vorüberfuhr, die eine Seite des Zuckerschweinchens, und da die Prinzessin die andere Seite festhielt, bekam jedes von ihnen ein Stück, sie das kleinere, Hjalmar das größere.

Vor jedem Schloß standen kleine Prinzen Schildwache. Sie grüßten mit den goldenen Säbeln und streuten Rosinen und Bleisoldaten aus.

Ja, das waren wirkliche, echte Prinzen.

Bild: Hans Tegner

Bald fuhr Hjalmar durch Wälder, bald wie durch große Säle oder mitten durch eine Stadt. Er kam auch wirklich durch die Stadt, wo sein Kindermädchen wohnte, das ihn gewartet hatte, als er noch ein ganz kleiner Knabe war, und das ihm stets herzlich zugetan gewesen war. Diese nickte und winkte und sang den hübschen Vers, den sie selbst gedichtet und Hjalmar geschickt hatte:

»Dein denk' ich mit Wonne so manche Stund',
Du süßer Hjalmar, mein eigen,
Wie küßt' ich dich gern auf Wange und Mund,
Um dir meine Liebe zu zeigen.
Noch hör' ich dich sagen das erste Wort,
Zum Abschied die Hand mußt' ich reichen:
Der Herr beschirme dich fort und fort,
Helf' dir, seinen Engeln zu gleichen!«

Und alle Vögel sangen mit, die Blumen tanzten auf ihren Stielen, und die alten Bäume nickten dazu, gerade als ob Ole Luk-Oie auch ihnen Geschichten erzählte.

Bild: Hans Tegner

Mittwoch

Nein, wie strömte draußen der Regen nieder! Hjalmar konnte es sogar im Schlaf hören, und als Ole Luk-Oie ein Fenster öffnete, reichte das Wasser bis zum Gesims herauf. Es war ein förmlicher See draußen, und ein prächtiges Schiff lag dicht vor dem Hause.

»Willst du mitfahren, lieber Hjalmar?« fragte Ole Luk-Oie, »dann kannst du heute nacht eine Reise durch fremde Länder machen und morgen früh doch wieder zu Hause sein.«

Da stand Hjalmar plötzlich in seinem schönsten Sonntagsanzug mitten auf dem prächtigen Schiff. Das schlechte Wetter hörte gleich auf; das Schiff fuhr durch die Straßen und um die Kirche herum: da lag das weite Meer vor ihnen.

Sie fuhren nun so lang, bis sie kein Land mehr sehen konnten. Da gewahrten sie eine Schar Störche, die auch aus der Heimat kamen und nach den warmen Ländern zogen. Ein Storch flog immer hinter dem andern her. Sie waren schon weit, sehr weit geflogen, aber einer davon war so müde, daß ihn seine Flügel kaum mehr tragen wollten.

Er war der letzte in der Reihe, und bald blieb er ein großes Stück zurück. Zuletzt sank er mit ausgebreiteten Flügeln immer tiefer; noch einmal versuchte er sich zu erheben, aber es half nichts.

Nun berührte er schon mit den Füßen das Tauwerk des Schiffes, glitt an dem Segel hinab und – da stand er auf dem Verdeck.

Der Schiffsjunge ergriff ihn und sperrte ihn ins Hühnerhaus zu den Hühnern, Enten und Puten hinein. Der arme Storch stand ganz verzagt unter ihnen.

»Seht nur, seht nur!« riefen alle Hühner.

Der Truthahn blies sich so dick auf, als er nur konnte, und fragte den Storch, wer er denn sei.

Die Enten watschelten rückwärts, stießen einander an und riefen: »Rapp, rapp! Rapple dich!«

Darauf erzählte der Storch vom heißen Afrika, von den Pyramiden und vom Vogel Strauß, der einem wilden Pferde gleich durch die Wüste dahineilt. Aber die Enten verstanden nicht, was er sagte. Sie stießen einander an und flüsterten: »Nicht wahr, wir sind darüber einig, daß er dumm ist?«

»Ja, gewiß ist er dumm!« sagte der Truthahn und kollerte spöttisch dabei. Da schwieg der Storch ganz still und dachte an sein schönes Afrika.

»Ihr habt ja herrlich dünne Beine«, begann der Truthahn von neuem. »Was kostet die Elle davon?«

»Lacht, lacht, lacht!« schrien alle Enten; aber der Storch tat, als höre er es gar nicht.

Bild: Hans Tegner

»Ihr könnt schon mitlachen«, sagte der Truthahn zu ihm; »denn was ich gesagt habe, war sehr witzig – oder war es Euch etwa nicht hoch genug? Ach, er ist nicht sehr vielseitig; wir, die wir so interessant sind, wollen daher lieber für uns bleiben.« Darauf gluckste er, die Enten aber schnatterten: »Gickack, gickack!« Es war schrecklich, es anzuhören, obgleich sie es äußerst unterhaltend fanden.

Hjalmar aber ging nach dem Hühnerhause, öffnete die Türe, lockte den Storchen heraus, und dieser hüpfte zu ihm auf das Verdeck.

Nun hatte er sich ja ausgeruht, und indem er mit dem Kopfe nickte, schien er Hjalmar für seine Befreiung zu danken. Dann breitete er seine Schwingen aus und flog den heißen Ländern zu. Die Hühner gackerten; die Enten schnatterten und der Truthahn bekam einen feuerroten Kopf.

»Morgen werden wir Suppe von euch kochen«, sagte Hjalmar.

Doch in diesem Augenblick erwachte er und sah, daß er in seinem eigenen Bettchen lag.

Das war doch eine wunderbare Reise, die ihn Ole Luk-Oie in dieser Nacht hatte machen lassen!

Bild: Hans Tegner

Donnerstag

»Weißt du was?« fragte Ole Luk-Oie. »Fürchte dich ja nicht, denn ich werde dir jetzt ein Mäuschen zeigen!« Und da hielt er ihm seine Hand mit dem kleinen, niedlichen Tierchen entgegen.

»Sie will dich zur Hochzeit einladen. Heute nacht wollen nämlich zwei Mäuse hier in den Ehestand treten. Sie wohnen unter der Speisekammer deiner Mutter, unter dem Fußboden. Das soll eine recht hübsche Wohnung sein.«

»Aber wie kann ich denn durch das kleine Mauseloch in dem Fußboden hindurchkommen?« fragte Hjalmar.

»Dafür will ich schon sorgen«, sagte Ole Luk-Oie, »ich werde dich ganz klein machen.« Hierauf berührte er Hjalmar mit seiner Zauberspritze, und nun wurde dieser klein und immer kleiner, bis er zuletzt nicht größer als ein Finger war.

»Nun kannst du die Kleider von dem Bleisoldaten entlehnen. Ich denke, sie werden dir passen, und es sieht recht gut aus, wenn man in Gesellschaft in Uniform erscheint.«

»Allerdings«, erwiderte Hjalmar, und in einem Nu war er wie der niedlichste Bleisoldat angezogen.

»Wollen Sie nicht die Güte haben, sich in den Fingerhut Ihrer Frau Mutter zu setzen?« sagte das Mäuschen. »Dann werde ich die Ehre haben, Sie zu ziehen.«

»Will sich denn das Fräulein selbst bemühen?« fragte Hjalmar. Hierauf fuhren sie zur Mäusehochzeit.

Zuerst kamen sie unter dem Fußboden in einen langen Gang, der kaum so hoch war, daß man mit dem Fingerhut durchfahren konnte. Der Gang war mit faulem Holz hell erleuchtet.

»Riecht es hier nicht herrlich?« fragte das Mäuschen, das Hjalmar zog. »Der ganze Gang ist mit Speckschwarten eingeschmiert worden; es gibt keinen angenehmeren Geruch.«

Endlich gelangten sie in den Hochzeitssaal. Hier standen rechts alle kleinen Mäusedamen; diese flüsterten und wisperten alle, als ob sie einander neckten. Links standen die Mäuseherren und strichen sich den Schnauzbart mit den Pfoten. Aber mitten im Saale befand sich das Brautpaar. Es stand in einer ausgehöhlten Käserinde und küßte sich schrecklich oft vor aller Augen; denn es war ja verlobt und sollte gleich getraut werden.

Bild: Hans Tegner

Immer mehr Gäste erschienen; die Mäuse traten sich beinahe gegenseitig tot, und das Brautpaar hatte sich gerade vor die Tür gestellt, so daß man weder heraus noch hinein gelangen konnte. Wie der Gang, so war auch die ganze Stube mit Speckschwarten eingerieben, und das war die ganze Bewirtung. Aber zum Nachtisch wurde eine Erbse vorgezeigt, in die ein Mäuschen die ersten Buchstaben der Namen des Brautpaares, mit dem es nahe verwandt war, eingebissen hatte. Das war ein ganz besonderes Kunstwerk.

Alle Mäuse sagten, es sei eine wunderschöne Hochzeit gewesen, bei der es sehr lustig zugegangen sei.

Darauf fuhr Hjalmar wieder heim. Er war nun allerdings in sehr vornehmer Gesellschaft gewesen, aber er hatte deswegen auch tüchtig zusammenschrumpfen, sich klein machen und die Uniform des Bleisoldaten anziehen müssen.

Bild: Hans Tegner

Freitag

»Es ist unglaublich, wie viele der erwachsenen Leute mich gern fangen möchten«, sagte Ole Luk-Oie; »ganz besonders diejenigen, welche etwas Böses getan haben. ›Liebster, kleiner Ole Luk-Oie‹, sagen sie zu mir, ›wir können die Augen nicht schließen, und da liegen wir nun die ganze Nacht da und erblicken immerfort alle unsere schlechten Taten, die als häßliche kleine Kobolde auf der Bettkante sitzen und uns mit heißem Wasser bespritzen. Komm doch, lieber Ole, und verscheuche sie, damit wir einschlafen können!‹ Und dann seufzen sie so tief, so tief: ›Wir würden es dir gern teuer bezahlen! Gute Nacht, Ole, das Geld liegt im Fenster.‹ Aber ich tue es nicht für Geld«, sagte Ole Luk-Oie.

»Was wollen wir nun diese Nacht unternehmen?« fragte Hjalmar. »Ich weiß nicht, ob du diese Nacht wieder Lust hättest, zu einer Hochzeit zu gehen? Sie ist allerdings von ganz anderer Art als die gestrige. Die große Puppe deiner Schwester, weißt du, diejenige, welche wie ein Mann aussieht und deshalb Hermann genannt wird, will sich mit der Puppe Berta verheiraten; obendrein ist heute der Geburtstag der Puppe, und deshalb werden sie wohl viele Geschenke bekommen.«

»O, das kenne ich schon!« sagte Hjalmar. »So oft die Puppe neue Kleider braucht, läßt sie meine Schwester immer Geburtstag feiern oder Hochzeit halten. Das ist schon mindestens hundertmal vorgekommen.«

Bild: Hans Tegner

»Ja, aber in dieser Nacht soll die 101. Hochzeit sein, und wenn 101 aus ist, dann ist alles aus. Deswegen wird auch diese schöner als alle die andern gefeiert. Sieh nur einmal!«

Hjalmar heftete seine Blicke auf den Tisch. Da stand das kleine Puppenhaus mit hell erleuchteten Fenstern, und vor der Türe präsentierten alle Bleisoldaten das Gewehr. Das Brautpaar saß nachdenklich – wozu es auch allen Grund hatte – auf dem Fußboden und lehnte sich gegen die Tischkante. Ole Luk-Oie, mit dem schwarzen Unterrock der Großmutter angetan, traute sie. Als die Trauung vorüber war, stimmten alle Möbel in der Stube folgenden schönen Gesang an, der von dem Bleistift gedichtet und niedergeschrieben worden war und nach der Melodie des Zapfenstreichs ging:

»Der Hochzeitssang wie ein frischer Wind
Dringe hinein zum Brautpaar geschwind,
Das stolz und aufrecht steht;
Denn aus Handschuhleder ist es genäht.
Hurra! dem Paar, das sich verbind't;
Wir singen es laut durch Wetter und Wind!«

Und nun bekamen die Brautleute Geschenke. Die eßbaren Dinge hatten sie sich aber alle verbeten; denn sie hatten an ihrer Liebe genug. »Wollen wir nun während des Sommers aufs Land ziehen oder eine Reise ins Ausland machen?« fragte der Bräutigam. Darauf wurde die Schwalbe, die viel gereist war, und hierauf die große Henne, die schon fünfmal Küklein ausgebrütet hatte, um Rat befragt. Die Schwalbe erzählte von den herrlichen, warmen Ländern, wo die Trauben groß und schwer am Weinstock hängen, wo die Luft mild ist und die Berge in so prächtigen Farben erglühen, wie man sie hierzulande gar nicht kennt. »Aber unsern Grünkohl hat man dort doch nicht«, sagte die Henne. »Ich war einen Sommer lang mit allen meinen Küklein auf dem Land. Da war eine Sandgrube, worin wir spazieren gehen und scharren konnten, und dann hatten wir auch Zutritt zu einem Garten mit Grünkohl. O wie war der schön grün, ich kann mir nichts Herrlicheres denken!« – »Aber der eine Kohlstrunk sieht gerade so aus wie der andere«, sagte die Schwalbe, »und dann ist hier recht oft schlechtes Wetter.« – »O daran ist man gewöhnt!« entgegnete die Henne. – »Aber hier ist es kalt, und es friert.« – »Das ist gut für den Kohl«, erwiderte die Henne. »Übrigens ist es auch zuweilen recht heiß hier. Vor vier Jahren hatten wir zum Beispiel einen so heißen Sommer, daß man kaum atmen konnte. Auch haben wir hier keine so giftigen Tiere, wie sonst überall in den fremden Ländern, und auch keine Räuber! Wer nicht findet, daß unser Land das allerschönste ist, der ist ein Bösewicht und verdient gar nicht, daß er darin wohnen darf!« Hierauf weinte die Henne und fuhr fort: »Ich bin auch gereist. Ich bin einmal in einem Korbe zwölf Meilen weit gefahren. Das Reisen ist aber gar kein Vergnügen.«

»Ja, die Henne ist eine vernünftige Frau«, sagte die Puppe Berta. »Ich reise auch nicht gern ins Gebirge; dort geht es nur immer bergauf und dann wieder bergab. Nein, wir wollen lieber nach der Sandgrube hinausziehen und im Kohlgarten spazieren gehen.« Und dabei blieb es.

Bild: Hans Tegner

Sonnabend

»Erzählst du mir nun eine Geschichte?« fragte der kleine Hjalmar, sobald ihn Ole Luk-Oie zu Bett gebracht hatte.

»Heute abend habe ich keine Zeit«, sagte Ole und spannte seinen schönen Schirm über ihn auf.

»Betrachte jetzt einmal diesen Chinesen.«

Der ganze Regenschirm sah aus wie eine große chinesische Schale mit blauen Bäumen und spitzigen Brücken und kleinen Chinesen darauf, die dastanden und immer mit den Köpfen nickten.

»Nun müssen wir die ganze Welt hübsch putzen!« sagte Ole Luk-Oie, »denn morgen ist ja Feiertag, nämlich Sonntag. Ich muß auf die Kirchtürme hinauf und nachsehen, ob die Kirchenheinzelmännchen auch gewiß die Glocken polieren, damit sie morgen schön klingen. Auch muß ich auf das Feld hinaus und untersuchen, ob die Winde den Staub von Gräsern und Blättern wegwehen. Und was mir die größte Arbeit macht, das ist, daß ich alle Sterne herunterholen muß, um sie blank zu putzen. Ich nehme sie alle in meine Schürze, aber zuvor muß jeder Stern numeriert werden. Und die Löcher, in denen sie da oben sitzen, müssen auch numeriert werden, damit wieder alles an den richtigen Platz kommt. Sonst würden sie nicht fest sitzen, und wir bekämen dann viel zu viele Sternschnuppen, weil ein Stern nach dem andern herunterfallen würde.«

Bild: Hans Tegner

»Hören Sie einmal, Herr Ole Luk-Oie!« sagte ein altes Bild, das an der Wand hing, wo Hjalmar schlief. »Sie müssen wissen, ich bin Hjalmars Urgroßvater, und ich danke Ihnen sehr, daß Sie dem Knaben so schöne Geschichten erzählen. Allein Sie sollten seine Begriffe nicht verwirren! Die Sterne können doch nicht heruntergenommen und blankgeputzt werden. Die Sterne sind Weltkörper wie unsere Erde, und das ist gerade das Gute an ihnen.«

»Ich danke dir bestens, alter Urgroßvater«, erwiderte Ole Luk-Oie. »Schönen Dank für die gütige Belehrung! Du bist ja das Haupt der Familie, jawohl, und du bist ja wirklich ein uraltes Haus, aber ich bin doch älter als du. Ich bin nämlich ein alter Heide, und die Griechen und Römer nannten mich den Traumgott. In die vornehmsten Häuser bin ich gekommen und komme noch heute dorthin. Ich weiß sowohl mit Hohen wie mit Niedrigen umzugehen! So, nun kannst du weiter erzählen!«

Damit ging Ole Luk-Oie seiner Wege und nahm seinen Regenschirm mit.

»Nun darf man nicht einmal mehr seine Meinung geradeheraus sagen!« brummte das Bild.

Da erwachte Hjalmar.

Bild: Hans Tegner

Sonntag

»Guten Abend!« sagte Ole Luk-Oie, und Hjalmar nickte ihm zu, eilte dann an die Wand und drehte das Bild des Urgroßvaters um, damit er nicht wie gestern dreinsprechen konnte.

»Nun mußt du mir Geschichten erzählen! Von den ›fünf grünen Erbsen, die in einer Schote wohnten‹, und von dem ›Hahnenfuß, der dem Hühnerfuß den Hof machte‹, und von der ›Stopfnadel, die so vornehm tat, daß sie sich einbildete, sie sei eine Nähnadel‹.«

»Man kann auch des Guten zu viel bekommen«, sagte Ole Luk-Oie. »Du weißt ja, daß ich dir am liebsten etwas zeige. Heute will ich dir meinen Bruder zeigen; er heißt auch Ole Luk-Oie, aber er kommt zu niemand öfter als einmal. Und wen er besucht, den nimmt er mit sich auf sein Pferd und erzählt ihm dann Geschichten. Er kennt allerdings deren nur zwei: die eine ist so wunderbar schön, wie niemand in der ganzen Welt sie sich auszudenken vermag – die andere dagegen ist so häßlich und abschreckend, daß sie gar nicht zu beschreiben ist.«

Darauf schob Ole Luk-Oie den kleinen Hjalmar zum Fenster hinauf und sagte: »Dort kannst du meinen Bruder, den andern Ole Luk-Oie, erblicken. Man nennt ihn auch den Tod! Siehst du, er sieht gar nicht so schlimm aus wie in den Bilderbüchern, wo er immer als ein Knochengerippe dargestellt ist. O nein, und was du auf seinem Kleid gewahrst, das ist lauter Silberstickerei. Ist das nicht eine prächtige Husarenuniform? Ein Mantel von schwarzem Samt wogt hinter ihm über das Pferd hin. Sieh, wie er im Galopp dahinjagt!«

Bild: Hans Tegner

Ja, Hjalmar sah, wie dieser Ole Luk-Oie dahinstürmte und sowohl junge als alte Leute auf sein Pferd nahm. Die einen setzte er vor sich, die andern aber hinter sich; allein immer fragte er sie zuvor: »Wie steht's mit dem Zeugnisbuch?« – »Gut«, antworteten alle. – »Aber ich möchte es doch selbst sehen«, entgegnete dann der Tod; und darauf mußten sie ihm das Buch zeigen. Alle diejenigen, welche »sehr gut« oder »vorzüglich« hatten, kamen vorne aufs Pferd, und ihnen erzählte er die schöne Geschichte. Diejenigen aber, welche nur »ziemlich gut« und »mittelmäßig« hatten, mußten hinten aufs Pferd und bekamen die häßliche Geschichte zu hören. Sie zitterten und weinten und wollten von dem Pferd hinabspringen, konnten es aber nicht, denn sie waren sogleich darauf festgewachsen.

»Aber der Tod ist ja der prächtigste Ole Luk-Oie«, sagte Hjalmar; »vor ihm habe ich keine Angst!«

Bild: Hans Tegner

»Das brauchst du auch nicht«, sagte Ole Luk-Oie; »sieh nur zu, daß du ein gutes Zeugnis bekommst.«

»Ja, das ist lehrreich«, murmelte das Bild des Urgroßvaters. »Es hilft offenbar doch etwas, wenn man seine Meinung geradeheraus sagt.«

Und nun war das Bild zufrieden.

Sieh, das ist die Geschichte von Ole Luk-Oie, dem Augenschließer, dem Sandmann. Nenne ihn, wie du willst; aber laß dir von ihm heute abend noch eine recht schöne Geschichte erzählen.

Bild: Hans Tegner


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