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Bild: Hans Tegner

Die glückliche Familie

Das größte grüne Blatt hierzulande ist sicherlich das Klettenblatt. Hält man es vor seinen Leib, so kann es vollkommen als Schürze dienen, und legt man es sich auf den Kopf, so leistet es im Regenwetter dieselben Dienste wie ein Regenschirm; denn es ist ungeheuer groß. Nie wächst eine Klette allein, nein, wo eine steht, da stehen auch mehr. Es ist eine große Herrlichkeit, und all diese Herrlichkeit ist Schneckenspeise. Die großen weißen Schnecken, aus denen sich die vornehmen Leute in alten Zeiten Frikassee bereiteten, ließen sich die Klettenblätter trefflich schmecken und sagten: »Ei, wie das schmeckt!«, denn sie hielten Klettenblätter nun einmal für die wohlschmeckendste Speise und lebten allzeit davon; und deshalb säten die Vornehmen Kletten.

Bild: Hans Tegner

Es gab aber einen alten Herrenhof, wo man keine Schnecken mehr speiste; denn sie waren fast ausgestorben. Aber die Kletten waren nicht ausgestorben; sie wuchsen und wucherten über alle Gänge und Beete. Man konnte ihrer gar nicht mehr Herr werden. Zuletzt entstand ein förmlicher Klettenwald. Da und dort stand ein vereinzelter Apfel- oder Pflaumenbaum, sonst wäre man nie auf den Gedanken gekommen, daß hier einmal ein Garten gewesen sei. Alles war Klette – und darin wohnten die beiden letzten uralten Schnecken.

Wie alt sie waren, wußten sie selbst nicht. Aber dessen konnten sie sich noch ganz gut entsinnen, daß ihrer weit mehr gewesen waren, daß sie von einer aus fremden Ländern eingewanderten Familie abstammten, und daß für sie und die Ihrigen der ganze Wald angepflanzt war. Sie waren zwar niemals über diesen hinausgekommen, aber sie wußten doch, daß zu der Welt noch etwas gehörte, was »Herrenhof« hieß. Dort wurde man gekocht, wovon man schwarz wurde, und dann wurde man auf eine silberne Schüssel gelegt. Was dann aber weiter geschah, das wußten sie nicht. Wie es einem übrigens zu Mute war, wenn man gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt wurde, konnten sie sich nicht vorstellen; nur so viel wußten sie, daß es etwas überaus Vornehmes war. Weder die Maikäfer, noch die Kröten oder Regenwürmer, die sie darum fragten, konnten ihnen Auskunft geben; keines von ihnen war je gekocht oder auf eine silberne Schüssel gelegt worden.

Die alten weißen Schnecken waren, wie sie wohl wußten, die vornehmsten in der Welt; um ihretwillen war der Wald da, damit sie gekocht und auf silberne Schüsseln gelegt werden konnten.

Sie lebten jetzt sehr einsam und glücklich, und da sie selbst keine Kinder besaßen, hatten sie eine kleine gewöhnliche Schnecke angenommen, die sie wie ihr eigenes Kind erzogen. Der Kleine – es war ein Junge – wollte indes nicht wachsen; denn er gehörte einer niedrigen Schneckenart an. Aber die Alten, besonders die Schneckenmutter, meinten doch eine Zunahme bemerken zu können, und die Mutter bat den Vater, falls er es nicht mit den Augen wahrnehmen könne, doch nur einmal das Schneckenhäuschen zu befühlen. Das tat er und fand, daß seine Ehehälfte recht hatte.

Eines Tages fiel ein tüchtiger Platzregen.

»Höre nur, wie es auf die Kletten trommelt! Tromme – romme – romme!« sagte der Schneckenvater.

»Ja und welche Tropfen!« sagte die Schneckenmutter. »Sieh, da läuft das Wasser schon am Stengel hinab! Da wird es hier ordentlich naß werden. Ich bin nur froh, daß wir unser gutes Haus besitzen, und daß der Kleine das seinige auch hat. Für uns ist allerdings besser gesorgt als für die übrigen Geschöpfe. Da kann man wohl sehen, daß wir die Herrn der Welt sind! Von Geburt an haben wir ein Haus; und der Klettenwald ist um unsertwillen angelegt worden –! Ich möchte nur wissen, wie weit er sich eigentlich erstreckt, und was außerhalb desselben ist!«

»Außerhalb ist nichts«, sagte der Schneckenvater. »Besser als bei uns kann es nirgends sein; und mir bleibt nichts zu wünschen übrig.«

»Da hast du recht«, sagte die Mutter. »Aber ich möchte doch gerne nach dem Herrenhofe kommen, dort gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden. Das war das Los aller unserer Vorfahren, und du kannst mir glauben, daß das etwas ganz Besonderes ist.«

»Das Schloß ist vielleicht eingestürzt«, sagte der Schneckenvater, »oder der Klettenwald ist darüber hinweggewachsen, so daß die Menschen nicht mehr herauskommen können. Du wirst es ja schon noch erleben; das eilt doch auch gar nicht. Du allein hast es nur immer so eilig, und der Kleine fängt nun auch an, es dir nachzumachen. Ist er nicht in drei Tagen schon den Stiel hier hinaufgekrochen? Mir wird ganz schwindlig, wenn ich nur zu ihm hinaufsehe.«

»Du mußt nicht schelten!« erwiderte die Schneckenmutter. »Er kriecht ja recht besonnen und wir werden gewiß Freude an ihm erleben. Wir haben doch nichts anderes, wofür wir leben könnten! Hast du wohl aber auch schon daran gedacht, wo wir eine Frau für ihn herbekommen? Glaubst du nicht, daß weit, weit drin im Klettenwald sich noch jemand von unserer Art finden sollte?«

»Ich glaube schon, daß es noch schwarze Schnecken gibt«, sagte der Alte, »schwarze Schnecken ohne Haus. Die sind freilich von ganz geringer Herkunft, obgleich sie sich Wunder was einbilden.

Wir können es jedoch den Ameisen auftragen; sie laufen regelmäßig hin und her, als ob sie ein richtiges Geschäft hätten, und sie wissen gewiß eine Frau für unser Schneckchen!«

»Ich wüßte freilich die allerschönste!« sagte eine Ameise, »aber ich fürchte, es läßt sich nicht machen: denn es ist eine Königin.«

»Das tut nichts«, sagten die Alten. »Hat sie ein Haus?«

»Sie hat sogar ein Schloß!« antwortete die Ameise. »Das schönste Ameisenschloß mit siebenhundert Gängen.«

»O nein, da danken wir schön!« sagte die Schneckenmutter. »Unser Sohn soll nicht in einen Ameisenhaufen. Wenn ihr nichts Besseres wißt, dann wollen wir es den weißen Mücken auftragen. Sie fliegen in Regen und Sonnenschein weit umher und kennen den Klettenwald von innen und von außen.«

Bild: Hans Tegner

»Wir haben eine Frau für ihn!« sagten die Mücken. »Hundert Menschenschritte von hier sitzt auf einem Stachelbeerstrauch eine kleine Schnecke mit einem Häuschen. Sie steht ganz allein in der Welt und ist alt genug, um sich zu verheiraten. Es sind nur hundert Menschenschritte von hier!«

»Gut, sie soll zu ihm kommen!« sagten die Alten, »denn er hat einen Klettenwald und sie hat nur einen Strauch!«

Da holten die Mücken das kleine Schneckenfräulein. Es dauerte indes volle acht Tage, bis sie eintraf, aber das war gerade ein Vorzug, damit bewies sie, daß sie von der echten Art war.

Darauf wurde die Hochzeit gefeiert. Sechs Leuchtkäfer leuchteten, so gut sie es vermochten, sonst aber verlief das Fest in aller Stille, denn die alten Schnecken konnten Festgelage und Lustbarkeiten nicht ertragen. Dagegen hielt die Schneckenmutter eine schöne Rede – der Vater konnte vor lauter Rührung nicht sprechen – und dann übergaben die Alten dem jungen Paare den ganzen Klettenwald als Erbteil und wiederholten, was sie von jeher gesagt hatten, daß er das Beste in der Welt sei. Und wenn die Jungen redlich und ehrbar lebten, würden sie und ihre Kinder dermaleinst auf den Herrenhof kommen, schwarz gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden.

Nachdem die Rede zu Ende war, zogen sich die Alten in ihre Häuser zurück und kamen nie wieder heraus; sie schliefen. Das junge Schneckenpaar aber regierte im Walde und bekam eine zahlreiche Nachkommenschaft, aber nie wurden die Schnecken gekocht und nie kamen sie auf eine silberne Schüssel, und daraus schlossen sie, daß der Herrenhof verfallen und die Menschen in der Welt ausgestorben sein müßten. Und da ihnen niemand widersprach, so galt es natürlich für wahr. Und der Regen schlug auf die Klettenblätter, um ihretwegen Trommelmusik zu machen; und die Sonne leuchtete, um ihretwegen dem Klettenwald Farbe zu verleihen; und sie waren sehr glücklich, und die ganze Familie war glücklich, und sie war es auch in der Tat.

Bild: Hans Tegner


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