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Am 2. April 1905 sind hundert Jahre verflossen, daß Hans Christian Andersen zu Odense auf Fühnen geboren wurde. Er nahm, gleich dem »Sohn des Pförtners« (Bd. II, 137) aus den niedrigen und ärmlichen Verhältnissen der väterlichen Schuhmacherwerkstätte seinen Aufstieg in die höchsten Kreise und durfte auf der Höhe seines Ruhmes Fürsten zu seinen Freunden zählen. Diese Wandlung kam ihm selbst so wunderbar vor, daß er am Schlusse seiner Tage beglückt ausrief: »Ja, das Leben ist das schönste Märchen« (Bd. II, 255). Doch wurde ihm der Aufstieg nicht leicht gemacht; Neid, Unverstand und Lieblosigkeit seiner Landsleute und ihrer literarischen Beiräte verbitterten ihm manche Stunde, erpreßten ihm manche Träne. »Das häßliche junge Entlein« (Bd. I, 141), »Ein Blatt vom Himmel« (Bd. I, 394), »Was man erfinden kann« (Bd. II, 228) und »Der Gärtner und die Herrschaft« (Bd. II, 266) lassen diese Stimmung deutlich genug erkennen. Die schwerste Wunde aber schlug ihm die Liebe und an ihr ist seine Seele langsam verblutet; denn die er sich als junger Student erkor, liebte und heiratete einen anderen. Darum blieb er auch unvermählt und knüpfte auch nur freundschaftliche Beziehungen zu den Frauen an. Wo immer er die Liebe schildert, nimmt sie einen unglücklichen Ausgang, wie in dem standhaften Zinnsoldaten (Bd. I, 45), »Unter dem Weidenbaum« (Bd. I, 150) und »Was die alte Johanne erzählte« (Bd. II, 277). Aber trotz alles Leides und Ungemachs setzte Andersen sich durch, da er eine starke Dichterpersönlichkeit war und er fest an seinen Dichterberuf glaubte. Er wurde der bekannteste dänische Dichter aus dem Anfang und der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und das wurde er vor allem durch seine Märchen und Geschichten. Ausgehend von den dänischen Volksmärchen und Volkssagen, von denen er ungefähr ein Dutzend nacherzählt hat, hat er mehr und mehr seine reiche Lebenserfahrung und Menschenkenntnis in ihnen niedergelegt. Der Mensch mit seinen Freuden und Leiden, seinem Sehnen und Hoffen, seinen Fehlern und Gebrechen ist der eigentliche Gegenstand seiner Märchen und Geschichten, selbst dort wo sie an das Volksmärchen erinnern oder von ihm beeinflußt sind. So hat Andersen dichterisches Neuland gewonnen, urbar gemacht und reich angebaut, um es späteren Dichtern als Erbe zu überlassen. Gehört er auch nicht zu den großen literarischen Eroberern, so doch zu denen, die stille Triften aufgefunden haben. Denn alle späteren Märchenerzähler stehen auf seinen Schultern, wie ihm die ersten Anregungen von den deutschen Romantikern, namentlich von Th. A. Hoffmann gegeben worden sind. Und auch der neueste Trieb am Märchenbaume, die naturgeschichtlichen Märchen eines Laßwitz und Ewald liegen als Knospe schon in den »Störchen« (Bd. I, 22) und »Den kleinen Grünen« (Bd. II, 126).
Aber nicht nur literarhistorisch verdienen seine Märchen und Geschichten einen hervorragenden Platz, sondern auch um ihres dichterischen Wertes willen. Sie sind heute noch so anziehend wie am ersten Tag, und dies ganz allein durch eigene Schönheiten. Haben sie auch noch keine lange Vergangenheit, so ist nach ihnen doch schon manches Märchen in den Staub der Vergessenheit gesunken. Die reiche Phantasie des Dichters ist in ihnen zu schönen, üppigen, aber auch grotesken Blumen erblüht, und der Humor des Dichters lacht bald übermütig, bald spottlustig, bald lächelt er unter Tränen. Andersen gehört zu den echten Humoristen, von denen Rosegger sagt: daß sie die Kluft zwischen Kasperl und Bußprediger zu überbrücken vermögen.
In seinem künstlerischen Schaffen nehmen wir kaum eine Entwicklung wahr. Nachdem Andersen sich von Musäus lossagte, in dessen Manier er sein erstes Märchen »Der Tote,« das er später noch einmal erzählt und als »Reisekamerad« (Bd. I, 662) in seine gesammelten Märchen und Geschichten aufgenommen hat, ist er in seinen ersten Schöpfungen ebenso vollendet wie in seinen mittleren und letzten. Wenn auch die Fähigkeit, die Idee klarer zu gestalten, mit den Jahren noch wächst und neue Probleme hinzutreten, so ist er im Gebrauch seiner künstlerischen Mittel von Anfang an erstaunlich sicher, was jeder an der Hand der chronologischen Übersicht der Märchen und Geschichten, die an das Ende des Bandes gestellt worden ist, herausfühlen kann.
Um das Jahr 1860 herum veranstaltete Andersen eine deutsche Ausgabe seiner Märchen und Geschichten, die 112 derselben umfaßte, die viele Jahre in Deutschland als Gesamtausgabe galt. Aber erst im Jahre 1872 schrieb er sein letztes Märchen, so daß ihr die Märchen der letzten zwölf Jahre fehlen, sowie einige Märchen, die nicht mit aufgenommen waren. Zu der sogenannten Gesamtausgabe ist daher dieser Ergänzungsband, der die fehlenden 44 Märchen und Geschichten enthält, hinzugetreten. Dies ist also die einzige deutsche Gesamtausgabe, wenn man von seinen gesammelten Werken absieht, so daß allen Freunden Andersens endlich Gelegenheit gegeben ist, seine Hauptschöpfung im ganzen Umfange kennen zu lernen. An Kinder allein ist dabei nicht gedacht. Es gehört zu den Grundirrtümern über Andersen, daß man glaubt, er habe seine Märchen nur für Kinder geschrieben. Nur bis zum Jahre 1845 trugen seine kleinen Märchenhefte im Titel den Zusatz: »Für Kinder erzählt,« von der Zeit an nannte er die Erzählungen kurzweg: Märchen und Geschichten. Andersen selbst spricht sich über diesen Punkt aus: »Die Kinder interessieren sich mehr für das, was ich Staffage nennen will, die Erwachsenen mehr für die zugrunde liegenden Ideen.«