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Tante Zahnweh.

Woher wir die Geschichte haben?

Willst du es wissen?

Wir haben sie aus der Tonne, aus der Tonne mit dem alten Papier.

Manches gute und seltene Buch ist schon zum Fettwarenhändler und zum Krämer gewandert, nicht zum Lesen, sondern zu wichtigeren Dingen. Sie müssen Papier für Stärke und Kaffeebohnen haben, Papier für Heringe, Butter und Käse. Beschriebene Blätter sind auch brauchbar.

Häufig kommt in die Tonne, was nicht in die Tonne kommen sollte. Ich kenne einen Krämerlehrling, den Sohn eines Fettwarenhändlers. Er nahm seinen Weg vom Keller in den Laden des Erdgeschosses und war ein Mensch von großer Belesenheit – Ladentischlektüre, sowohl der gedruckten als der beschriebenen Blätter. Er hat eine interessante Sammlung solcher Papiere und darunter manch wichtiges Aktenstück aus dem Papierkorb des einen oder des andern allzu beschäftigten und zerstreuten Beamten und ein und den andern vertraulichen Brief einer Freundin an die andere: Skandalgeschichten, welche von keinem Menschen weitererzählt werden dürfen. Er ist eine lebendige Rettungsanstalt für einen nicht geringen Teil der Literatur, und er hat dafür ein großes Gebiet, die Läden seiner Eltern und seines Prinzipals. Manches Buch und manche Seite eines Buches hat er dort gerettet, das wohl verdiente zweimal gelesen zu werden.

Er hat mir seine Sammlung gedruckter und geschriebener Sachen gezeigt, die aus der Tonne des Fettwarenhändlers stammen. In derselben befanden sich einige Blätter aus einem großen Schreibheft; die besonders schöne und deutliche Handschrift erregte sofort meine Aufmerksamkeit.

»Das hat der Student geschrieben,« sagte er, »der Student, der uns gegenüber wohnt und vor einem Monat gestorben ist. Wie uns die Blätter sagen, hatte er schwer an Zahnweh zu leiden. Es ist ganz lustig zu lesen! Ich habe nur wenige der geschriebenen Blätter; es war einst ein ganzes Buch und noch einige lose Blätter mehr. Meine Eltern gaben der Wirtin des Studenten ein halbes Pfund grüne Seife dafür. Hier ist, was ich gerettet habe.«

Ich lieh es, las es und teile es nun mit.

Die Überschrift lautet:

Tante Zahnweh.

 

I.

Als ich klein war, gab Tante mir oft Süßigkeiten. Meine Zähne hielten es aus, wurden nicht hohl. Nun, da ich älter geworden, Student geworden bin, verwöhnt sie mich noch mit Süßigkeiten, sagt, daß ich ein Dichter bin.

Ich habe etwas von einem Dichter in mir, aber nicht genug. Oft, wenn ich durch die Straßen der Stadt gehe, erscheint es mir, als ob ich in einer großen Bibliothek gehe. Die Häuser sind die Reale, jede Etage ein Bort mit Büchern. Hier steht eine Alltagsgeschichte, dort ein gutes, altes Lustspiel; wissenschaftliche Werke stehen in jedem Fache; hier ist Schmutzliteratur und dort gute Lektüre, und alle diese Bücher regen mich an, über sie zu phantasieren und zu philosophieren.

Es steckt etwas von einem Dichter in mir, aber leider nicht genug. Viele haben sicherlich ebensoviel davon in sich und tragen deshalb doch nicht ein Schild oder ein Halsband mit dem Worte: Dichter.

Ihnen und mir ist eine Gottesgabe, ein Talent gegeben worden, das wohl für eigenen Gebrauch groß genug, aber zu klein ist, um es für andere zu zerstückeln. Es kommt wie ein Sonnenstrahl und erfüllt Seele und Gedanken; es kommt wie Blumenduft, wie eine Melodie; man weiß und vernimmt doch nicht woher.

Gestern abend – ich saß in meiner Stube – drängte es mich zu lesen. Ich hatte nichts, kein Buch, kein Blatt. Da fiel ein Blatt, frisch und grün, von dem Lindenbaum in mein Zimmer hinein. Der Abendwind hatte es zu mir durchs Fenster getragen.

Ich betrachtete die vielen verzweigten Adern. Eine kleine Raupe kroch über dasselbe, als wollte sie ein gründliches Studium des Blattes vornehmen. Da mußte ich an die menschliche Weisheit denken. Wir kriechen auch auf einem Blatt, kennen nur dasselbe und halten doch sofort einen Vortrag über den ganzen Baum mit Wurzel, Stamm und Krone, über den großen Baum: Gott, Welt und Unsterblichkeit, und kennen von ihm nur ein kleines Blatt.

Wie ich so dasaß, erhielt ich Besuch von Tante Mille.

Ich zeigte ihr das Blatt mit der Raupe, sagte ihr meine Gedanken darüber, und ihre Augen leuchteten.

»Du bist ein Dichter,« sagte sie; »vielleicht der größte, den wir haben! Sollte ich das erleben, so will ich gern sterben. Du hast mich stets seit dem Begräbnis des Brauers Rasmussen durch deine gewaltige Phantasie in Erstaunen gesetzt.«

Das sagte Tante Mille und küßte mich.

Wer ist Tante Mille und wer war Brauer Rasmussen?

 

II.

Die Tante der Mutter wurde von uns Kindern Tante genannt; wir hatten keinen anderen Namen für sie.

Sie gab uns Eingemachtes und Zuckerwerk, obgleich es schädlich für unsere Zähne war. Aber sie wäre den süßen Kindern gegenüber zu schwach, sagte sie. Es wäre ja grausam, ihnen die wenigen Näschereien, die sie so sehr liebten, zu versagen.

Und deshalb hielten wir viel von der Tante.

Sie war ein altes Fräulein; sie war immer alt gewesen, so weit ich zurückdenken kann. Doch schien sie auch nicht älter zu werden.

In jüngeren Jahren hatte sie viel an Zahnweh gelitten. Sie sprach oft davon, und so kam es, daß ihr witziger Freund, der Brauer Rasmussen, sie Tante Zahnweh nannte.

Er braute seit Jahren nicht mehr, lebte von seinen Renten, kam häufig zur Tante und war älter als sie. Er hatte gar keine Zähne mehr; sondern nur einige schwarze Stümpfe.

Als Kind hätte er viel Zuckerwerk gegessen, sagte er zu uns Kindern, und deshalb sähe er so aus.

Tante hatte sicherlich in ihrer Kindheit niemals Zucker gegessen; sie hatte die schönsten weißen Zähne.

Sie schonte sie auch und schliefe des Nachts nicht mit ihnen, sagte der Brauer Rasmussen.

Darüber müßte man doch böse werden, dachten wir Kinder; Tante aber sagte, es wäre nicht so bös gemeint.

Eines Vormittags beim Frühstück erzählte sie einen häßlichen Traum, den sie in der Nacht gehabt hatte: einer ihrer Zähne wäre ihr ausgefallen.

»Das bedeutet,« fügte sie, »daß ich einen treuen Freund oder eine treue Freundin verlieren werde.«

»War es ein falscher Zahn,« sagte der Brauer und lächelte; »so kann es nur bedeuten, daß Sie einen falschen Freund verlieren.«

»Sie sind ein ungalanter alter Herr,« sagte die Tante so zornig, wie ich sie nie vorher und auch nie später wieder gesehen habe.

Als Rasmussen fort war, sagte sie, daß ihr alter Freund sie nur habe necken wollen; er wäre der edelste Mensch auf der ganzen Welt, und wenn er einmal stürbe, würde er im Himmel zu einem kleinen Engel Gottes.

Ich dachte viel über diese Verwandlung nach und zweifelte, ob ich wohl imstande wäre, ihn in der neuen Gestalt zu erkennen.

Als Tante jung war und er auch, warb er um sie. Allem sie bedachte sich zu lange, blieb sitzen, blieb zu lange sitzen und wurde ein altes Fräulein; blieb ihm aber immer eine treue Freundin.

Und dann starb der Brauer Rasmussen.

Er wurde in dem teuersten Leichenwagen zu Grabe gefahren und hatte ein großes Gefolge, Leute mit Degen und Uniformen.

Tante stand schwarz gekleidet mit uns Kindern am Fenster, und in der Nähe lag der kleine Bruder, den der Storch vor einer Woche gebracht hatte.

Nun war der Leichenzug vorbei, die Straße leer. Tante wollte gehen, aber ich wollte noch hinaussehen. Ich wartete auf den Engel, auf Brauer Rasmussen. Er war ja nun ein kleines beflügeltes Kind Gottes geworden und mußte sich zeigen.

»Tante,« sagte ich; »glaubst du nicht, daß er jetzt kommt! Oder bringt uns der Storch, wenn er uns wieder einen kleinen Bruder bringt, den Engel Rasmussen?«

Tante wurde von meiner Phantasie ganz überwältigt und sagte: »Das Kind wird ein großer Dichter.« Und sie wiederholte es während meiner ganzen Schulzeit, ja nach meiner Konfirmation und nun auch in meinen Studentenjahren.

Sie war und ist mir die teilnehmendste Freundin, sowohl in meinen Dichterwehen als im Zahnweh; ich hatte ja Anfälle von beiden.

»Schreibe mir alle deine Gedanken auf,« sagte sie, »und lege sie in die Tischschieblade. Das tat Jean Paul auch, und er wurde ein großer Dichter. Ich liebe ihn freilich nicht; er ist nicht spannend genug. Du mußt spannend schreiben, und du wirst es tun!«

Die Nacht nach dieser Rede lag ich im Bette mit einem Herzen voll Sehnsucht und Schmerz, voll Drang und Lust, um wirklich der große Dichter zu werden, den Tante in mir sah und empfand. Ich lag in Dichterwehen! Aber ach! Es gibt noch ein schlimmeres Weh: Zahnweh. Es peinigte und zermürbte mich; ich krümmte mich wie ein Wurm unter Kleibeutel und spanischer Fliege.

»Das kenne ich,« sagte Tante.

Ein trauriges Lächeln saß um ihren Mund; ihre Zähne schimmerten weiß.

 

*

Aber ich muß einen neuen Abschnitt in meiner und Tantes Geschichte beginnen.

 

III.

Ich war umgezogen und bewohnte seit einem Monat mein neues Heim. Davon erzählte ich meiner Tante.

»Ich wohne bei einer stillen Familie; sie kümmert sich nicht um mich, selbst wenn ich dreimal klingle. Übrigens ist es ein wahres Spektakelhaus; von Wind, Wetter und Menschen ist stets Lärm und Getöse. Ich wohne gleich über dem Eingänge. Jeder Wagen, welcher ein- und ausführt, läßt die Bilder an den Wänden sich regen. Die Tür rüttelt und schüttelt das das Haus, als wäre ein Erdbeben. Liege ich im Bett, so spüre ich die Stöße in allen Gliedern; aber das soll ja nervenstärkend sein. Weht es – und es weht immer hierzulande, – so schlenkern die Fensterlrampen draußen hin und her und schlagen gegen die Mauer. Die Glocke an des Nachbars Gartenpforte tönt bei jedem Windstoß.

Unsere Hausbewohner kommen einzeln heim, spät am Abend bis gegen den Morgen. Gleich über mir wohnt ein Musiklehrer, der am Tage Posaunenunterricht gibt. Er kommt am spätesten nach Hause und legt sich nicht eher ins Bett, als bis er mit schweren Tritten und eisenbeschlagenen Stiefeln einen kleinen Mitternachtsspaziergang in seinem Zimmer gemacht hat.

Doppelte Fenster gibt es nicht; aber eine zerbrochene Scheibe gibt es, die meine Wirtin mit »Papier« überklebt hat. Der Wind bläst trotzdem durch die Spalten und bringt einen Laut wie eine summende Bremse hervor. Das ist die Schlafmusik. Falle ich endlich in Schlaf, so werde ich bald durch das Krähen eines Hahnes geweckt. Hahn und Hühner des Kellerbewohners melden aus ihrem Verschlag, daß es Tag werden will. Die kleinen Ponys, die keinen Stall haben und in dem Sandloch unter der Treppe angebunden stehen, stoßen gegen Türen und Verschalung, so oft sie sich rühren.

Der Tag dämmert. Der Hausmeister, welcher mit seiner Familie im Bodenraum schläft, poltert die Treppe herunter. Die Holzpantoffeln klappern; die Haustür fällt krachend ins Schloß, das Haus bebt, und ist das überstanden, beginnt der Mieter über mir seine Turnübungen. Er hebt mit jeder Hand eine schwere Eisenkugel; aber er kann sie nicht halten und sie fallen wieder und wieder zu Boden. Zur selben Zeit stürzt die Jugend des Hauses, die zur Schule geht, schreiend durchs Haus. Ich gehe ans Fenster und öffne es, um frische Luft zu schöpfen, und es wäre erquickend, wenn nicht die Mädchen im Hinterhause gerade Handschuhe in Fleckwasser wüschen, womit sie ihren Unterhalt verdienen. Sonst ist es ein ganz nettes Haus, und ich wohne bei einer stillen Familie.«

So war der Bericht, den ich der Tante von meiner Häuslichkeit gab. Ich gab ihn lebhafter, die mündliche Erzählung hat ja frischere Töne als die geschriebene.

»Du bist ein Dichter,« rief die Tante, »Schreibe nur deine Erzählung auf und du bist ein Zweiter Dickens! Ja, mich interessierst du weit mehr. Du malst, wenn du erzählst! Du beschreibst dein Haus, so daß man es sieht! Man kriegt ja eine Gänsehaut dabei! Dichte weiter! Bringe Leben hinein, Menschen, reizende Menschen, am liebsten unglückliche!«

Das Haus wurde wirklich beschrieben, wie es dasteht mit all seinem Getöse und seinen Gebrechen, aber nur mit mir, ohne Handlung. Die kam später.

 

IV.

Es war an einem Winterabend nach Schluß des Theaters; es war ein fürchterliches Wetter, Schneesturm, so daß man kaum vorwärts kommen konnte.

Tante war im Theater und ich war dort, um sie nach Hause zu begleiten. Aber man hatte Mühe, allein zu gehen, geschweige denn andere zu führen. Die Droschken waren alle besetzt. Tante wohnte weit drinnen in der Stadt; meine Wohnung war ganz in der Nähe, Das war ein glücklicher Zufall, sonst hätten wir uns im Schilderhaus bis auf weiteres unterstellen müssen.

Wir stapften durch den tiefen Schnee, umsaust von den wirbelnden Schneeflocken. Ich hob sie, ich hielt sie, ich schob sie vorwärts. Nur zweimal fielen wir; aber wir fielen weich. Wir erreichten endlich meine Behausung, wo wir uns schüttelten. Auch auf der Treppe schüttelten wir uns, und doch hatten wir noch Schnee genug, um den Fußboden des Vorplatzes weiß zu machen.

Wir legten Oberkleidung und Unterkleidung ab, alles was wir entbehren konnten. Die Wirtin lieh Tante trockene Strümpfe und eine Morgenhaube. Das sei nötig, sagte die Wirtin, und fügte hinzu, daß Tante unmöglich diese Nacht heimgehen könnte, und bat sie, mit ihrer Wohnstube vorlieb zu nehmen. Dort wollte sie auf dem Sofa hinter der stets verschlossenen Tür, die in mein Zimmer führte, ein Bett zurechtmachen.

Und es geschah.

Das Feuer brannte in meinem Kachelofen; die Teemaschine kam auf den Tisch; es wurde behaglich in der kleinen Stube, wenn auch nicht so behaglich wie bei der Tante, die hatte im Winter dicke Vorhänge vor den Türen, dicke Gardinen vor den Fenstern und doppelte Fußteppiche mit drei Lagen Papier darunter, das Zimmer warm zu halten. Man saß dort wie in einer gutverkorkten Flasche mit warmer Luft. Doch wie gesagt, es wurde auch daheim bei mir behaglich, während draußen der Wind heulte.

Tante erzählte und erzählte. Die Kindheit kam wieder; der Brauer Rasmussen kam wieder, alte Erinnerungen!

Sie konnte sich noch der Zeit erinnern, als ich den ersten Zahn bekam, und wie froh die ganze Familie darüber war.

Der erste Zahn! Der Zahn der Unschuld! Wie ein Milchtropfen schimmerte er, der Milchzahn.

Erst kommt einer; dann kommen mehrere, eine ganze Reihe, Seite an Seite, oben und unten, die schönsten Kinderzähne. Und doch sind es nur Vortruppen, nicht die echten, die für das ganze Leben halten sollen.

Und sie kommen und mit ihnen der Weisheitszahn, der Flügelmann der Reihe, der unter Schmerzen und Beschwerden geboren wird.

Sie gehen wieder, jeder einzelne! Sie gehen, ehe die Dienstzeit um ist, selbst der letzte Zahn geht, und das ist kein Festtag, es ist ein Tag der Wehmut.

Dann ist man alt, selbst wenn das Herz noch jung ist.

Solche Gedanken und Gespräche stimmen nicht fröhlich, und doch kamen wir auf dies alles zu sprechen; wir kamen zurück auf die Jahre der Kindheit, erzählten und erzählten. Die Uhr wurde zwölf, ehe Tante in der Stube nebenan zur Ruhe ging. »Gute Nacht, mein süßer Junge!« rief sie; »nun will ich schlafen, als ob ich in meinem eigenen Bette läge.«

Und sie war zur Ruhe gegangen, aber ruhig wurde es nicht, weder im Hause noch draußen. Der Sturm rüttelte an den Fenstern, schlug mit den langen, klappernden Eisenkrampen und läutete mit der Türglocke zu des Nachbars Hintergarten. Der Mieter über mir war nach Hause gekommen. Er ging noch eine Zeitlang auf und ab, warf die Stiefel von sich und ging ins Bett und zur Ruhe, Allein er schnarchte, daß gute Ohren es durch die Decke hören konnten.

Ich fand keine Ruhe, fand keinen Schlaf. Das Unwetter legte sich auch nicht; es war unmanierlich lebendig. Der Wind sauste und sang auf seine Weise; meine Zähne fingen auch an lebendig zu werden; sie sausten und sangen auf ihre Weise. Sie schlugen an für großes Zahnweh.

Vom Fenster kam ein kalter Luftzug. Der Mond schien auf den Fußboden. Der Lichtschein kam und ging, wie die Wolken in dem Sturm kamen und gingen. Es war ein Jagen von Licht und Schatten; aber endlich nahm der Schatten Gestalt an. Ich sah, wie sich etwas bewegte, und fühlte einen kalten Hauch.

Auf dem Fußboden saß eine Gestalt, dünn und lang, wie ein Kind mit einem Griffel etwas auf die Tafel zeichnet, das einen Menschen vorstellen soll. Ein einziger dünner Strich ist der Körper, ein Strich und noch einer sind die Arme; jedes Bein ist auch ein Strich, der Kopf ist ein Kreis mit vielen Ecken.

Bald wurde die Gestalt deutlicher: sie erhielt eine Art Gewand, das sehr dünn, sehr sein war; aber es zeigte, daß sie zum weiblichen Geschlecht gehörte.

Ich hörte ein Summen. War sie es oder der Wind, der wie eine Bremse in dem zerbrochenen Fenster sang?

Nein, sie war es selbst, Frau Zahnweh. Ihre Entsetzlichkeit Satania infernalis! Gott schütze und bewahre uns vor ihrem Besuch!

»Hier ist es gut sein,« summte sie. »Hier ist ein gutes Quartier. Sumpfiger Grund! Moorboden. Hier haben die Mücken mit giftigem Stachel gesummt. Nun habe ich den Stachel; den will ich an Menschenzähnen wetzen. Sie scheinen so weiß dort aus dem Bette heraus! Sie haben bis jetzt Süßem und Saurem, Heißem und Kaltem, Nußschalen und Pflaumensteinen widerstanden. Aber ich will sie rütteln und schütteln, die Wurzel mit Zugwind füttern, bis sie ganz durchkältet ist.«

Es war eine entsetzliche Rede, ein entsetzlicher Gast.

»Also, du bist ein Dichter,« sagte sie; »na warte, ich will dich dichten lehren, dich in allen Versarten des Schmerzes dichten lehren. Ich will dir Eisen und Stahl in deinen Körper schütten und Fäden an alle deine Nervenenden knüpfen.«

Es war mir, als ob ein glühender Pfriem sich in meine Kinnladen bohrte; ich wand und krümmte mich.

»Ein ausgezeichnetes Gebiß,« sagte sie; »eine feine Orgel, auf der will ich spielen. Das gibt ein großartiges Konzert, Maultrommelkonzert mit Pauken und Trompeten, Piccoloflöte und Posaune im Weisheitszahn. Großer Dichter, große Musik!«

Ja, sie spielte auf und sah entsetzlich aus, selbst wenn man von ihr nicht mehr als die Hände sah, diese schattengrauen, eiskalten Hände mit den langen, pfriemendünnen Fingern. Jeder von ihnen war ein Marterwerkzeug! Daumen und Zeigefinger hatten Kneifzange und Schraube, der Mittelfinger endete in einem spitzigen Pfriemen, der Goldfinger war ein Bohrer und der kleine Finger eine Spritze mit Mückengift.

»Ich will dich die Versmaße lehren,« sagte sie. »Der große Dichter soll großes Zahnweh haben, der kleine Dichter kleines Zahnweh.«

»O! laß mich ein kleiner, laß mich kein Dichter sein,« bat ich. »Und ich bin auch kein Dichter; ich hatte nur einen Anfall von Dichteritis, einen Anfall, wie jetzt von Zahnweh. Fahre hin, Fahre hin!«

»Erkennst du nun, daß ich mächtiger bin als Poesie, Philosophie, Mathematik und die ganze Musik?« sagte sie; »mächtiger als alle die gemalten und in Marmor gehauenen Gefühle? Ich bin älter als alle zusammen. Ich wurde bei dem Garten des Paradieses geboren, draußen, wo der Wind wehte und die feuchten Pilze wachsen. Ich bewog Eva, sich wegen des kalten Wetters zu bekleiden, und Adam auch. Du kannst mir glauben, daß Kraft in dem ersten Zahnweh war.«

»Ich glaube alles,« sagte ich. »Fahre hin! fahre hin!«

»Ja, wenn du es aufgeben willst, ein Dichter zu sein, niemals wieder Verse schreiben willst, weder auf Papier noch auf die Schiefertafel, noch auf irgend ein anderes Schreibmaterial, will ich dich verlassen. Aber ich komme wieder, sowie du dichtest.«

»Ich schwöre es,« sagte ich. »Laß mich dich nur niemals wieder sehen oder fühlen.«

»Sehen sollst du mich, aber in einer volleren, dir lieberen Gestalt, als meine jetzige. Du sollst mich als Tante Mille sehen, und ich will zu dir sagen: »Dichte, mein süßer Junge! Du bist ein großer Dichter, vielleicht der größte, den wir haben! Aber glaubst du mir und beginnst wieder zu dichten, so sehe ich deine Verse in Musik und spiele sie auf deiner Maultrommel. Tu süßer Junge! – Denke daran, wenn du Tante Mille siehst.«

Damit verschwand sie.

Ich erhielt wie zum Abschied noch einen glühenden Pfriemenstich in die Kinnbacken: aber dann ließ der Schmerz bald nach. Da war es mir, als glitte ich über weites Wasser dahin, sähe die weißen Seerosen mit den breiten, grünen Blättern schwanken, unter mir versinken, verwelken und sich lösen, und ich sank mit ihnen in Frieden und Ruhe aufgelöst.

»Sterben dahin, schmelzen wie der Schnee,« sang und klang es in dem Wasser, »zu Wolken verdunsten, wie die Wolke dahinfahren« – – – –

Zu mir glänzten durch das Wasser hernieder große leuchtende Namen, Inschriften auf wehenden Siegesfahnen, Patente der Unsterblichkeit – auf die Flügel einer Eintagsfliege geschrieben.

Der Schlaf war tief, ein traumloser Schlaf. Ich hörte nicht den sausenden Wind, die schmetternde Tür, die klingelnde Türglocke des Nachbars, die schweren Turnübungen des Mieters.

Glückseligkeit!

Da kam ein Windstoß, so daß die geschlossene Tür zur Tante hinein aufsprang, Tante sprang auf und kam in Schuhen, kam in Kleidern zu mir herein.

»Du schliefst fest wie ein Engel Gottes,« sagte sie, »und ich hatte nicht das Herz, dich zu wecken.«

Ich erwachte von selbst, schlug die Augen auf und hatte ganz vergessen, daß Tante hier war. Aber bald erinnerte ich mich, erinnerte meine Zahnweherscheinung. Traum und Wirklichkeit gingen durcheinander.

»Du hast gestern abend wohl, nachdem wir uns gute Nacht gesagt, nicht mehr geschrieben,« fragte sie, »Hättest du es nur getan! Du bist mein Dichter und bleibst es.«

Mir schien es, als ob sie tückisch dabei lächelte. Ich wußte nicht, ob es meine gutmütige Tante Mille war, die mich liebte, oder jene entsetzliche, der ich zur Nacht das Versprechen gegeben hatte.

»Hast du gedichtet, süßer Junge?«

»Nein, nein,« rief ich. »Du bist doch Tante Mille?« »Wer sonst!« sagte sie. Und es war Tante Mille. Sie küßte mich, stieg in die Droschke und fuhr heim. Und ich schrieb nieder, was hier geschrieben steht. Es sind ja keine Verse und soll auch niemals gedruckt werden.

 

*

Ja, hielt, hält das Manuskript auf.

Mein junger Freund, der angehende Krämerkommis, konnte das Fehlende nicht auftreiben; es war in die Welt hinausgegangen, als Papier für Heringe, Butter und grüne Seife; es hatte seine Bestimmung erfüllt.

Der Brauer ist tot, Tante ist tot, der Student ist tot, er, dessen Geistesfunken in die Tonne kamen.

Alles kommt in die Tonne.

Das ist das Ende der Geschichte – der Geschichte von Tante Zahnweh.

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