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Eine Geschichte aus den Dünen.

Es ist eine Geschichte aus den jütischen Dünen; aber sie beginnt nicht dort, nein, weit davon im Süden, in Spanien. Das Meer ist die große Fahrstraße zwischen den Ländern. Denke dich dorthin, nach Spanien! Dort ist es warm, dort ist es schön; dort wachsen die feuerroten Granatblüten zwischen dunklen Lorbeerbäumen. Von den Bergen weht ein erfrischender Wind hernieder über die Orangenhaine und die prächtigen maurischen Hallen mit goldenen Kuppeln und bunten Wänden. Durch die Straßen ziehen Kinder in Prozessionen mit Lichtern und wehenden Fahnen, und über ihnen, so hoch und klar, wölbt sich der Himmel mit den funkelnden Sternen. Lieder und Kastagnetten erklingen; Burschen und Mädchen schwingen sich im Tanz unter blühenden Akazienbäumen, während der Bettler auf behauenem Marmorsteine sitzt, sich an saftigen Wassermelonen erquickt und so das Leben verträumt. Es ist wie ein schöner Traum, und sich demselben hinzugeben – ja, das taten so ganz zwei junge, neuvermählte Menschen, denen alle irdischen Güter gegeben waren: Gesundheit, Frohsinn, Reichtum und Ehre.

»Wir sind so glücklich, wie es nur irgend jemand sein kann,« sagten sie so recht aus Herzensgrunde. Doch konnten sie sich noch eine Staffel höher auf der Glücksleiter erheben, und das würde geschehen, wenn Gott ihnen ein Kind schenkte, einen Sohn, der ihnen an Leib und Seele gliche. Das glückliche Kind würde mit Jubel begrüßt werden, die höchste Liebe und Sorgfalt finden, all das Wohlsein, welches Reichtum und einflußreiche Verwandtschaft geben kann.

Wie ein Fest glitten ihnen die Tage dahin.

»Das Leben ist eine Gnadengabe der Liebe, unermeßlich groß,« sagte die Frau, »und diese Fülle der Glückseligkeit soll im andern Leben noch wachsen bis in die Ewigkeit hinein. Ich fasse diesen Gedanken nicht!«

»Er entspringt sicherlich nur dem Übermute der Menschen,« sagte der Mann. »Es ist im Grunde ein übermäßiger Stolz, zu glauben, man werde ewig leben – werden wie Gott! Das waren ja auch die Worte der Schlange, und sie war der Geist der Lüge.«

»Du zweifelst doch nicht an einem ewigen Leben?« fragte die junge Frau, und es war als führe zum erstenmal ein Schatten durch ihr sonniges Gedankenreich.

»Der Glaube verheißt es, die Priester sagen es,« sagte der junge Mann, »aber grade in all meinem Glück fühle und erkenne ich, daß es ein Stolz, ein übermütiger Gedanke ist, ein zukünftiges Leben, eine fortgesetzte Glückseligkeit zu fordern. Ist uns nicht in diesem Dasein so viel gegeben, daß wir zufrieden sein können und müssen?«

»Ja, uns ist es gegeben,« sagte die junge Frau, »aber wie vielen Tausenden wird nicht dieses Leben zu einer schweren Prüfung. Wie viele sind nicht in die Welt geworfen zu Armut, Krankheit, Schande und Unglück. Nein, wäre kein zukünftiges Leben, so wären die Güter dieser Erde ungleich verteilt, so wäre Gott nicht die Gerechtigkeit.«

»Der Bettler dort unten hat eine Freude, die für ihn ebenso groß ist, wie die des Königs in seinem reichen Schloß,« sagte der junge Mann. »Und glaubst du nicht, daß das Lasttier, welches geprügelt wird, hungert und sich zu Tode schleppt, auch eine Empfindung von seinen harten Lebenstagen hat? Es könnte ja auch ein anderes Leben verlangen, es ein Unrecht nennen, daß es nicht in eine höhere Reihe der Geschöpfe gestellt wurde.« »Im Himmelreich sind viele Wohnungen, hat Christus gesagt,« antwortete die junge Frau, »das Himmelreich ist unendlich, wie Gottes Liebe! Auch das Tier ist ein Geschöpf, und kein Leben, glaube ich, wird verloren gehen, sondern alle werden die Glückseligkeit gewinnen, die sie empfinden können und die ihnen genügt.«

»Aber mir genügt diese Welt,« sagte der Mann und schlang seinen Arm um sein schönes, geliebtes Weib und rauchte seine Zigarre auf dem offenen Altan, wo die kühle Luft von dem Dufte der Orangen und Nelken erfüllt war. Musik und Kastagnetten tönten von der Straße herauf, die Sterne blinkten von oben herab und zwei Augen, die Augen seiner Frau, sahen ihn voller Liebe, mit dem ewigen Leben der Liebe an.

»Ein solcher Augenblick,« sagte er, »ist es wohl wert, daß man geboren wird, ihn genießt – und verschwindet.« Er lächelte, die Frau erhob sanft drohend ihre Hand, und die Wolke war wieder fort. Sie waren allzu glücklich, und alles schien sich ihnen zu fügen, daß sie in Ehre, Freude und Wohlstand fortschritten. Da trat ein Wechsel ein, aber nur in dem Orte, nicht in den Dingen, um die Lust und Freude des Lebens zu gewinnen und recht zu genießen. Der junge Mann wurde von seinem König als Gesandter an den kaiserlichen Hof in Rußland geschickt. Es war ein Ehrenposten, auf den Geburt und Kenntnisse ihm ein Recht gaben. Er besaß ein großes Vermögen; seine junge Frau hatte ihm kein geringeres mitgebracht. Sie war die Tochter einer der angesehensten Kaufleute. Eins seiner größten und besten Schiffe sollte gerade in diesem Jahre nach Stockholm abgehen. Es sollte die lieben Kinder, Tochter und Schwiegersohn, nach Rußland bringen, und wurde königlich ausgerüstet. Weiche Teppiche für die Füße, Seide und Pracht überall! Es gibt ein altes Heldenlied, welches heut noch alle Dänen kennen. Es heißt: »Der Sohn des englischen Königs.« Auch er segelte auf einem kostbaren Schiffe fort, seine Anker waren mit rotem Golde ausgelegt und jedes Tau mit Seide umwunden. An dieses Schiff mußte man denken, als man jenes aus Spanien auslaufen sah. Es war dieselbe Pracht, derselbe Abschiedsgedanke: »Gott gebe uns allen ein freudiges Wiedersehen.« Ein starker Wind blies von der spanischen Küste her; der Abschied war kurz; in wenig Wochen mußten sie das Ziel ihrer Reise erreichen. Aber als sie draußen waren, legte sich der Wind; das Meer wurde glatt und still; das Wasser glitzerte, die Sterne des Himmels funkelten. Da gab es Feste in der reichen Kajüte. Aber man wünschte doch, daß es auffrischen, ein günstiger Wind wehen möchte, aber er kam nicht. Erhob sich ein Wind, so war er ihnen entgegen. So vergingen Wochen, ja zwei volle Monate; erst dann wurde der Wind günstig, er blies aus Südwest. Sie waren mitten zwischen Schottland und Jütland, und der Wind nahm zu, wie in dem Liede von dem Sohne des englischen Königs.

»Ringsum kein Land; die Wolke türmt
sich schwarz empor; es heult und stürmt.
Sie warfen aus die Anker stark
und trieben doch westlich gen Dänemark.«

Das ist nun viele Jahre her! König Christian VII. saß auf dem dänischen Thron und war damals jung. Vieles ist seit der Zeit geschehen, vieles hat gewechselt und sich verändert. Seen und Moore sind üppige Wiesen, Heidestriche fruchtbares Ackerland geworden, und im Schutze der westjütischen Häuser wachsen Apfelbäume und Rosenstöcke. Aber sie müssen gesucht werden! denn wegen des scharfen Westwindes erheben sie sich nur an geschützten Orten. Man kann sich dort leicht in frühere Zeiten zurückdenken, die weiter zurück sind als Christians VII. Regierung. Wie damals, so erstreckt sich noch heute meilenweit die braune Heide mit ihren Hünengräbern, ihren Luftspiegelungen und ihren sich kreuzenden, holperigen und tiefsandigen Wegen. Im Westen, wo große Bäche sich in die Buchten ergießen, breiten sich Wiesen und Moore aus, von hohen Dünen begrenzt, die sich gleich einer zackigen Alpenkette gegen das Meer erheben. Sie werden von hohen, steilen Lehmhügeln unterbrochen, von denen das Meer mit unersättlichem Schlunde riesige Brocken verschlingt, so daß Höhen und Hügel, wie durch ein Erdbeben erschüttert, zusammenstürzen. So sieht es dort noch heute aus; so war es dort auch vor vielen Jahren, als die beiden Glücklichen auf dem reichen Schiffe hinaussegelten.

Es war gegen Ende September an einem Sonntag und sonniges Wetter. Die Töne der Kirchenglocken verschmolzen ineinander am Nissumfjord. Großen behauenen Felsblöcken gleichen die Kirchen, jede ist ein Stück Gebirge. Das Meer könnte über sie hinwegrollen und sie würden stehen bleiben. Den meisten fehlt der Turm, und die Glocken hängen dann frei zwischen zwei Balken. Der Gottesdienst war zu Ende; die Menschen traten aus dem Gotteshaus auf den Kirchhof hinaus, wo sich damals, wie heute noch, weder Baum noch Strauch fand, wo weder Blumen gepflanzt noch Kränze auf das Grab gelegt wurden. Nur niedrige Hügel zeigten, wo die Toten begraben lagen. Rauhe Gräser, vom Winde gepeitscht, wuchsen über den ganzen Kirchhof. Ein einziges Grab hatte vielleicht ein Denkmal, das heißt einen verwitterten Baumstamm, der wie ein Sarg zurechtgehauen war. Er stammte aus den Wäldern des Westens. Im wilden Meere wachsen für die Küstenbewohner Bäume, Planken und Bretter. Die Brandung spült sie ans Land. Wind und Seenebel verwittern bald die angespülten Holzstücke. Ein solcher Stumpf lag auf einem Kindergrab, und nach demselben ging eine der Frauen, die aus der Kirche kamen. Sie stand still und sah auf den halbverwitterten Holzblock. Dicht hinter sie trat ihr Mann; sie sprachen kein Wort. Da nahm er sie bei der Hand, und sie gingen vom Grab auf die weite Heide hinaus und über Moorland den Dünen zu. Lange gingen sie schweigend.

»Das war heute eine gute Predigt,« sagte der Mann, »hätten wir Gott nicht, so hätten wir niemand.«

»Ja,« antwortete die Frau, »er schickt Freude und Schmerz; das ist sein Recht. – Morgen wäre unser kleiner Junge fünf Jahre alt, wenn wir ihn behalten hätten.«

»Es ist nicht gut so zu trauern,« sagte der Mann. »Er ist gut daran; er ist ja dort, wohin wir beten einst zu kommen.«

Und sie sprachen nicht mehr darüber und gingen ihrem Hause zu, das in den Dünen lag. Plötzlich erhob es sich von einem der Hügel, wo der Strandhafer den Sand nicht festhalten konnte, wie ein starker Rauch. Es war ein Windstoß, der in den Dünen wühlte und den feinen Sand aufwirbelte. Noch ein Windstoß kam, so daß die an Schnüren aufgehängten und ausgebreiteten Fische gegen die Mauer des Hauses schlugen – und dann war alles wieder still. Die Sonne brannte.

Mann und Frau gingen ins Haus und waren bald aus ihren Sonntagskleidern. Dann eilten sie über die Dünen, die wie ungeheure, plötzlich in ihrer Bewegung erstarrte Sandwellen dastanden. Die rauhen, blaugrünen Halme des Sandgrases und des Strandhafers riefen auf dem weißen Sand den einzigen Farbenwechsel hervor. Einige Nachbarn kamen hinzu: sie halfen sich gegenseitig, die Boote höher auf den Strand zu ziehen. Der Wind wurde stärker; es wurde schneidend kalt, und als sie über die Dünen zurückgingen, flogen ihnen Sand und kleine scharfe Steine ins Gesicht. Die Wellen erhoben sich mit weißen Kämmen, und der Sturm riß ihnen die Spitzen ab, daß der Gischt weit umherspritzte.

Es wurde Abend; ein immer stärker werdendes Sausen erfüllte die Luft, es heulte und klagte wie eine Schar verzweifelter Geister; es übertönte das Rollen des Meeres, obgleich das Fischerhaus dicht am Strande lag. Der Sand fegte gegen die Fensterscheiben, und zuweilen kam ein Windstoß, der das Haus in seinen Grundfesten erbeben ließ. Es war finster; doch gegen Mitternacht mußte der Mond aufgehen.

Das Wetter klärte sich auf; allein der Wind fuhr mit aller seiner Kraft hin über das tiefe, schwärzliche Meer. Die Fischersleute hatten sich längst zu Bett gelegt; aber es war in diesem Wetter Gottes nicht daran zu denken, ein Auge zu schließen. Da klopfte es ans Fenster, die Tür öffnete sich und eine Stimme rief:

»Ein großes Schiff sitzt auf dem äußersten Riff fest!« Im Nu waren die Fischersleute aus dem Bett und in ihren Kleidern.

Der Mond war hervorgekommen. Er schien hell genug, um sehen zu können; hätte man nur die Augen wegen des Flugsandes offen halten können. Es war ein Wind, daß man sich gegen ihn stemmen mußte. Nur mit großer Mühe, mit der man in den Windespausen vorwärts kroch, kam man über die Dünen, und hier flogen gleich Schwanenfedern der salzige Gischt und Schaum des Meeres durch die Luft, das sich wie ein kochender, rollender Wasserfall gegen die Küste wälzte. Man mußte wirklich ein geübtes Auge haben, um sofort das Fahrzeug da draußen zu finden. Es war ein prächtiger Zweimaster. Es erhob sich gerade über das Riff, das drei, vier Kabellängen vom gewöhnlichen Meeresstrande entfernt war. Es trieb gegen das Land, stieß auf ein anderes Riff und saß fest. Es war unmöglich, Hilfe zu bringen. Die See ging zu hoch; sie schlug gegen das Schiff und über dasselbe hinweg. Man glaubte das Notgeschrei, die Hilferufe der Todesangst zu hören. Man sah die emsige, vergebliche Tätigkeit. Nun kam eine Sturzsee, die wie ein zerschmetternder Felsblock auf das Bugsprit fiel und es fortriß. Und das Hinterdeck erhob sich hoch über das Wasser. Zwei Menschen sprangen miteinander in das Meer und verschwanden – ein Nu – und eine der stärksten Wogen, die an den Dünen hinaufrollte, warf einen Körper an den Strand. – Es war ein Weib, eine Leiche mußte man glauben. Ein paar der Frauen machten sich bei ihr zu schaffen und glaubten Leben in ihr zu bemerken. Sie wurde über die Dünen in das Fischerhaus getragen. Wie schön und fein sie war, gewiß eine vornehme Dame.

Sie legten sie in das armselige Bett. Kein leinenes Laken war darin, nur eine wollene Decke, um sich einzuhüllen; denn die hält warm. Sie kam ins Leben zurück und lag in heftigem Fieber. Sie wußte nicht, wo sie war, und das war gut, denn alles, was sie geliebt hatte, lag auf dem Grunde des Meeres. Es erging ihr, wie es in dem Heldenlied von dem englischen Königssohn gesungen wird:

»Gar großer Jammer war dort zu sehn.
Das Schiff, es mußt' in Trümmer gehn.«

Schiffsteile und Trümmer spülten ans Land; sie allein war von allen am Leben geblieben, und noch immer fuhr der Wind heulend über die Küste dahin. Einen Augenblick hatte die arme Frau Ruhe; aber bald schrie sie vor Schmerzen. Sie schlug ihre schönen Augen auf und sagte einige Worte; aber niemand verstand sie.

Und siehe! für alles, was sie gelitten und gestritten hatte, hielt sie ein neugeborenes Kind in ihren Armen. Es hätte in einem Prachtbett ruhen sollen, hinter seidenen Gardinen, in einem reichen Hause: es hätte mit Jubel begrüßt werden sollen, ein Leben, reich an allen irdischen Gütern führen sollen. Und nun hatte der Herr es in der armseligen Hütte geboren werden lassen; nicht einmal einen Kuß empfing es von seiner Mutter.

Die Fischersfrau legte das Kind an die Brust seiner Mutter, und es lag an einem Herzen, das nicht mehr schlug; sie war tot. Das Kind, welches Reichtum und Glück hätten großziehen sollen, war in die Welt hineingeworfen, vom Meer in die Dünen geworfen, um das Los der Armen und schwere Tage zu ertragen. Und immer kommt uns das alte Lied in den Sinn:

»Dem Königssohn rannen die Tränen herab;
Hilf Himmel! hier gähnt meiner Hoffnung Grab;
wir treiben hinein gegen Bovbjerg.
Doch dienstbar nicht werd' ich Herrn Bugges Geschlecht
und wird mir erschlagen auch Ritter und Knecht.«

Etwas südlich vom Nissumfjord auf dem Strand, den Herr Bugge einst sein eigen nannte, war das Schiff gestrandet. Die harten, unmenschlichen Zeiten, als die Bewohner der Westküste übel taten, das Strandrecht übten, wie man sagte, waren langst vorbei. Liebe, freundliche Gesinnung und Aufopferung für die Schiffbrüchigen sind an die Stelle getreten und leuchten als edelste Züge unserer Zeit hervor. Eine sterbende Mutter, ein elendes Kind würden Wartung und Pflege gefunden haben, wohin der Wind sie auch geweht hätte, aber nirgends herzlicher als bei der armen Fischersfrau, welche noch gestern mit schwerem Herzen an dem Grabe ihres kleinen Kindes stand, das heute sein fünftes Jahr erreicht haben würde, wenn Gott ihm länger zu leben vergönnt hätte.

Niemand wußte, wer die fremde, tote Frau war oder woher sie kam. Die Trümmer und Planken des Schiffes erzählten nichts davon.

In Spanien, in dem reichen Hause, traf niemals ein Brief, niemals eine Nachricht von der Tochter oder dem Schwiegersohne ein. Sie waren nicht an ihren Bestimmungsort gekommen; starke Stürme hatten in den letzten Wochen getobt. Man wartete monatelang. »Versunken, ertrunken!« Anders konnte es nicht sein.

Draußen im Fischerhause in den Dünen von Huusby hatte sie nun einen kleinen Jungen.

Wo Gott für zwei Nahrung gibt, wird ein drittes auch wohl satt. Und so nahe am Meere gibt es Fische für den hungrigen Mund. Georg wurde der Kleine genannt.

»Es ist gewiß ein Judenkind: es sieht so schwarz aus,« sagte man, »Es kann auch ein Italiener oder Spanier sein,« sagte der Pfarrer. Der Fischersfrau schien es freilich auf eins hinauszukommen, und sie tröstete sich damit, daß das Kind christlich getauft wäre. Der Knabe gedieh: das adlige Blut erhielt von der dürftigen Kost Kraft und Wärme, und der Knabe wuchs in dem geringen Hause. Die dänische Sprache – wie sie die Westküste spricht – wurde seine Sprache. Der Granatkern aus dem spanischen Erdreich wurde zu einem Sandhalm der jütischen Westküste. Dazu kann es ein Mensch bringen! An dieses Heim klammerte er sich mit allen Wurzeln je länger, je fester. Hunger und Kälte, Not und Sorge des armen Mannes sollte er erfahren, aber auch seine Freude. Für jeden hat die Kindheit Lichtpunkte, die durch das ganze Leben strahlen. Wieviel gab es nicht zu Spiel und Lust! Meilenweit lag der Strand voll Spielzeug: Ein Mosaik von Geröllsteinen, rot wie Korallen, gelb wie Bernstein und rund und weiß wie Vogeleier. Alle Farben gab es, und alle waren von dem Meer geschliffen und geglättet. Selbst das ausgetrocknete Fischskelett, die vom Winde getrockneten Wasserpflanzen, der weißschimmernde Seetang, der lang und schmal wie Bänder zwischen den Steinen flatterte – alles bot Augen und Gedanken Spiel und Lust. Der Knabe war ein aufgewecktes Kind; mannigfaltige Fähigkeiten schlummerten in ihm. Wie gut konnte er sich der Geschichten und Lieder erinnern, die er gehört hatte, und wie fingerfertig war er. Von Steinen und Schalen setzte er ganze Schiffe und Bilder zusammen; man konnte die Stuben damit schmücken. Er verstände sogar seine Gedanken in Holzstückchen zum Ausdruck zu bringen, sagte seine Pflegemutter, und wäre doch noch so klein. Seine Stimme klang schön, und die Melodien strömten ihm leicht vom Munde. Gar manche Saite war in seiner Brust ausgespannt; sie hätten in die Welt hinausklingen können, wenn er an einen andern Ort als in das Fischerhaus an der Nordsee gestellt worden wäre.

Eines Tages strandete hier ein Schiff. Eine Kiste mit seltenen Blumenzwiebeln trieb ans Land. Man nahm einige und warf sie in einen Topf. Man glaubte, daß sie zu essen wären. Andere verfaulten im Sande; sie gelangten nicht zu ihrer Bestimmung, die Farbenpracht, die Herrlichkeit, die in ihnen lag, zu entfalten. Würde es Georg besser ergehen? Mit den Blumenzwiebeln war es bald vorbei; er hatte noch Jahre zu leiden.

Niemals fiel es ihm noch einem andern dort oben ein, wie einsam und einförmig die Tage vergingen. Es gab vollauf zu tun, zu hören und zu sehen. Das Meer selbst war ein großes Lehrbuch; jeden Tag bot es eine neue Seite: Meeresstille, – hohle See, leichter Wind und Sturm; Strandungen waren die Glanzpunkte; der Kirchgang war ein Festtagsbesuch. Doch von den Besuchen war einer im Fischerhause besonders willkommen, und er wiederholte sich zweimal im Jahre. Es war der Besuch des Onkels mütterlicherseits, eines Aalhändlers aus Fjaltrung droben bei Bovbjerg. Er kam mit einem rot angestrichenen Wagen voll Aale. Der Wagen war wie ein Kasten verschlossen, mit blauen und weißen Tulpen bemalt, und wurde von zwei falben Ochsen gezogen. Georg erhielt die Erlaubnis, ihn zu fahren. Der Aalhändler war ein guter Kopf, ein munterer Gast. Er führte stets ein Fäßchen mit Branntwein mit sich herum; jeder erhielt daraus ein Gläschen oder eine Kaffeetasse voll, wenn nichts anderes zur Stelle war. Selbst Georg erhielt, so klein er war, einen guten Fingerhut voll. Das geschähe, um den fetten Aal niederzuhalten, sagte der Aalhändler, und er erzählte dann immer dieselbe Geschichte, und lachte man, so erzählte er sie sofort noch einmal, und da sie für Georgs Jugend und Mannesalter Bedeutung gewann, müssen wir sie wohl hören: »Draußen im Flusse schwammen Aale, und die Aalmutter sagte zu ihren Töchtern, als sie baten, ein kleines Stück die Aue hinaufschwimmen zu dürfen: »Geht nicht so weit, sonst kommt der böse Aalstecher und tötet euch alle zusammen,« Aber sie gingen zu weit, und von den acht Töchtern kamen nur drei wieder zur Aalmutter zurück. Sie jammerten: »Wir waren nur ein wenig vor die Tür gegangen, da kam der böse Aalstecher und stach unsere fünf Schwestern tot.« »Sie kommen noch wieder,« sagte die Aalmutter, »Nein,« sagten die Töchter, »denn er zog ihnen die Haut ab, schnitt sie in Stücke und briet sie.« »Sie kommen noch wieder,« sagte die Aalmutter. »Ja aber er aß sie.« »Sie kommen noch wieder.« »Aber dann trank er Branntwein hintennach,« sagten die Töchter. »O, dann kommen sie niemals wieder,« heulte die Aalmutter, »der Branntwein begräbt den Aal.«

»Und deshalb muß man immer ein Gläschen Branntwein nach dem Essen trinken,« sagte der Aalhändler.

Und diese Geschichte wurde der Flittergoldfaden, der Faden der guten Laune in Georgs Leben. Auch er wollte gern vor die Tür, »den Fluß ein wenig hinauf,« das hieß mit einem Schiffe in die weite Welt hinaus, und die Mutter sagte wie die Aalmutter: »Es gibt viele schlechte Menschen, viele Aalstecher.« Aber ein wenig in die Dünen, ein wenig in die Heide hinaus mußte er doch. Und es sollte geschehen. Er erlebte fröhliche Tage, die durch seine ganze Kinderzeit hindurch leuchteten. Die ganze Schönheit Jütlands, die Freude und der Sonnenschein der Heimat lag in ihnen. Er sollte zu einem Schmaus, freilich nur zu einem Leichenschmaus. Ein wohlhabender Verwandter der Fischerfamilie war gestorben. Sein Hof lag im Lande, »östlich, einen Strich gegen Norden,« wie es hieß. Vater und Mutter wollten hinüber und Georg sollte mit. Von den Dünen ging es über Heide und Moorland zu den grünen Wiesen, wo der Skjärum sich sein Bett gegraben hatte, der Fluß der Aale, wo die Aalmutter mit ihren Töchtern wohnte, die die bösen Menschen fingen und in Stücke schnitten. Doch besser hatten die Menschen oft auch nicht gegen ihre Mitmenschen gehandelt. Der Ritter Bugge, welcher in dem alten Liede vorkommt und von schlechten Menschen ermordet wurde – obgleich man ihn »den Guten« nannte – wollte den Baumeister totschlagen lassen, der ihm das Schloß mit Turm und dicken Mauern an der Stelle erbaut hatte, wo Georg mit seinen Pflegeeltern stand, wo sich der Skjärum in den Nissumfjord ergießt. Die Wälle waren noch zu sehen und rote Mauerreste rings umher. Hier hatte Ritter Bugge, als der Baumeister abgereist war zu seinem Knecht gesagt: »Geh' ihm nach und sage ›Meister, der Turm fällt,‹ dreht er sich um, so schlägst du ihn tot und nimmst ihm das Geld wieder ab, das ich ihm gab; dreht er sich aber nicht um, so laß ihn in Frieden ziehen.« Der Knecht gehorchte, und der Baumeister antwortete: »Der Turm fällt nicht; aber einst wird vom Westen ein Mann in blauem Mantel kommen, der wird ihn zum Stürzen bringen.« Das geschah hundert Jahre später. Da brach die Nordsee herein, der Turm fiel; aber der Besitzer des Hofes Pröbjörn Gyldenstjerne baute sich höher, wo die Wiese endet, ein neues Schloß. Und das steht noch jetzt; das ist Nörre Voßborg. Dort mußte Georg mit seinen Pflegeeltern vorbei. Von jener Stätte dort oben hatte man ihm in langen Winterabenden erzählt. Nun sah er den Hof mit den doppelten Gräben, mit den Bäumen und Büschen. Wälle mit Farnkraut überwachsen erhoben sich stolz; aber am schönsten waren die hohen Lindenbäume, die fast bis zum Dachfirst reichten und die Luft mit süßem Duft erfüllten. Gegen Nordwesten in einer Ecke des Gartens stand ein großer Strauch mit Blüten wie Winterschnee im Sommergrün. Es war ein Fliederstrauch, der erste, den Georg in solcher Pracht blühen sah. Ihn und die Lindenbäume behielt Georg während seines ganzen Lebens in der Erinnerung als Dänemarks Duft und Schönheit, welche seine Kinderseele bis in das Alter bewahrte.

Die Reise ging unaufhaltsam weiter. Nun reiste man bequemer; denn gerade in Nörre Voßborg, wo der Fliederbaum in Blüte stand, fanden sie Fahrgelegenheit. Sie trafen andere Gäste, die auch zum Begräbnisfest wollten, und zu diesen stiegen sie in den Wagen. Freilich mußten sie rückwärts sitzen, auf einer kleinen Holzkiste mit eisernen Beschlägen. Aber sie meinten: »Schlecht gefahren, sei besser als gut gegangen.« Die Fahrt ging über die wellige Heide. Die Ochsen, welche zogen, standen manchmal still, wenn sie an einen frischen Grasfleck zwischen dem Heidekraut kamen. Es war seltsam, weit draußen eine Rauchsäule zu sehen, die hin und her wogte und doch blasser als die Luft war. Man sah durch sie hindurch; es war als ob die Sonnenstrahlen über die Heide schwebten und tanzten. »Das ist der Lokemann, der seine Schafherde treibt,« sagten sie, und das war für Georg genug gesagt. Er meinte ins Land der Märchen hinein zu fahren, und doch war es Wirklichkeit. Wie still war es hier! Groß und weit lag die Heide, wie ein kostbarer Teppich; das Heidekraut stand in Blüte, die zypressengrünen Wacholderbüsche und die frischen Eichenschößlinge kamen wie Blumensträuße aus dem Heidekraut hervor. Es war gar zu verlockend, sich darin umherzutummeln, wenn nur nicht die vielen giftigen Schlangen wären. Von ihnen sprach man und von den vielen Wölfen, die es hier gegeben hatte; weshalb auch dieser Landstrich Kreis Wolfsburg genannt wurde. Der Alte, welcher fuhr, erzählte aus seines Vaters Zeit, wie die Pferde hier damals einen harten Kampf mit den jetzt ausgerotteten wilden Tieren gekämpft hätten. Als er eines Morgens hinausgekommen wäre, hätte eins der Pferde auf einem getöteten Wolf gestanden; aber seine Beine wären gänzlich zerfleischt gewesen. Allzu schnell ging es über die rauhe Heide und durch den tiefen Sand. Sie hielten vor dem Trauerhause, das innen und außen voller Fremder war. Ein Wagen stand neben dem andern, Pferde und Ochsen gingen auf der magern Weide. Große Sandhügel erhoben sich, wie daheim; hinter dem Hofe erstreckten sie sich weit und breit. Wie waren die hierhergekommen? Drei Meilen landeinwärts, und ebenso hoch und mächtig wie am Meeresstrand, Der Wind hatte sie aufgetürmt und fortgetrieben; sie hatten auch ihre Geschichte, Trauergesänge wurden gesungen, einige Alte weinten, sonst wäre alles recht vergnügt gewesen, meinte Georg, Essen und Trinken gab es in Fülle, die schönsten fetten Aale, und auf die soll man ein Gläschen Branntwein trinken; dann bleiben die Aale, hatte der Aalhändler gesagt, und dieses Wort wurde hier allerdings zur Tat.

Georg war drinnen und draußen. Am dritten Tage fühlte sich Georg hier so heimisch wie zu Hause in den Dünen, wo er alle seine früheren Tage verlebt hatte. Die Heide hier war an andern Dingen reich; hier wucherten Heidekraut, Erdbeeren und Bickbeeren, Groß und süß quollen sie hervor; man mußte sich in acht nehmen, um sie nicht mit den Füßen zu zerquetschen, daß der rote Saft von dem Heidekraut tröpfelte. Hier lag ein Hünengrab, dort ein anderes; Rauchsäulen stiegen in die stille Luft. Das wäre der Heidebrand, sagte man, der weithin durch den Abend leuchtete.

Nun kam der vierte Tag; der Leichenschmaus war zu Ende, und sie wollten von den Landdünen wieder nach den Stranddünen zurück.

»Unsere sind doch die richtigen,« sagte der Vater; »diese haben keine Macht.«

Und so wurde darüber gesprochen, wie sie hierher gekommen wären; es war allen recht verständlich. Am Strande hatte man eine Leiche gefunden, und die Bauern hatten sie auf den Kirchhof gebracht. Da begannen die Sandwehen, und das Meer brach gewaltsam herein. Ein kluger Mann der Gemeinde riet, das Grab zu öffnen und nachzusehen, ob nicht der Begrabene läge und auf seinem Daumen söge; dann wäre es ein Meermann, den man begraben hätte. Das Meer würde das Grab aufbrechen und ihn holen. Das Grab wurde geöffnet; er lag und sog auf dem Daumen, und deshalb legte man ihn sofort auf eine Karre, spannte zwei Ochsen vor und, wie von der Tarantel gestochen, fuhren sie mit ihm über Heide und Moor zum Meere zurück. Da hörten die Sandwehen auf; aber die Dünen stehen noch jetzt. Alles dies hörte Georg, und er behielt es aus den glücklichsten Tagen seiner Kindheit, aus den Tagen des Leichenschmauses.

Schön ist es hinauszukommen, neue Gegenden und neue Menschen zu sehen, und Georg sollte noch weiter hinauskommen. Er war ein Kind noch, kaum vierzehn Jahre, da ging er zu Schiffe fort, kam hinaus und sah, was die Welt bietet. Er lernte böses Wetter und harte See, bösen Sinn und harte Menschen kennen; er wurde Schiffsjunge. Schlechte Kost und kalte Nächte, Tauende und Faustschläge mußten ertragen werden. Es machte wohl das hochadelige spanische Blut, daß sein Mund von zornigen Worten überschäumte; aber es war am klügsten, sie bei sich zu behalten, und er hatte ein Gefühl, wie die Aale, die gehäutet, zerschnitten und in die Pfanne gelegt werden.

Ich komme wieder, sprach es in ihm. Die spanische Küste, das Vaterland seiner Eltern, die Stadt selbst, wo er in Wohlstand und Glück hätte leben sollen, bekam er zu sehen; aber er wußte nichts von seiner Heimat und seiner Verwandtschaft, und seine Familie wußte noch weniger von ihm. Der arme Schiffsjunge bekam keine Erlaubnis ans Land zu gehen; doch am letzten Tage, den das Schiff hier lag, kam er doch auf das feste Land. Einkäufe sollten gemacht werden, und er sollte sie an Bord schleppen. Da stand nun Georg in seinen jämmerlichen Kleidern, die aussahen, als wären sie im Rinnstein gewaschen und im Schornstein getrocknet. Zum erstenmal sah er, der Dünenbewohner, eine große Stadt. Wie hoch waren doch die Häuser, wie eng die Straßen, wie wimmelte es von Menschen. Einige drängten hierher, einige dorthin; es war wie ein ganzer Mälstrom von Städtern und Bauern, Mönchen und Soldaten. Das war ein Schreien und Rufen, ein Klingeln der Glocken von Eseln und Maultieren, und dazwischen läuteten die Kirchenglocken, ertönte Sang und Klang, Hämmern und Klopfen; denn jeder Beruf hatte seine Wertstatt in der Tür oder auf der Straße. Dabei brannte die Sonne heiß; es war als ob man in einem Backofen wäre voller Mistkäfer und Maikäfer, voller Bienen und Fliegen, die summten und surrten. Georg wußte nicht, wo er ging noch stand. Da sah er gerade vor sich das mächtige Portal des Domes. Die Lichter strahlten aus den halbdunklen Schiffen und Weihrauchduft zog heraus. Selbst der ärmste, zerlumpteste Bettler wagte sich die Treppe hinauf. Der Matrose, dem Georg folgte, nahm seinen Weg quer durch die Kirche, und Georg stand im Heiligtum. Farbenprächtige Bilder strahlten aus goldenem Grunde hervor. Die Mutter Gottes mit dem Jesuskinde stand auf dem Altar zwischen Blumen und Lichtern. Der Priester im Meßgewand sang, und schöne, geputzte Chorknaben schwangen kostbare silberne Rauchgefäße. Das war eine Pracht, eine Herrlichkeit! Es durchströmte Georgs Seele und überwältigte ihn. Die Kirche und der Glaube seiner Eltern umfingen ihn und ließen eine Saite in seiner Seele erklingen, daß sich seine Augen mit Tränen füllten.

Von der Kirche ging es zum Markt; er mußte einen Teil der Küchen- und Eßwaren schleppen. Der Weg war nicht kurz. Er wurde müde und ruhte sich deshalb vor einem großen, prächtigen Hause aus, das Marmorsäulen, Statuen und breite Treppen hatte. Er lehnte seine Last auf die Mauer; aber da kam der Portier im Tressenrock, erhob den silberbeschlagenen Stock gegen ihn und jagte ihn fort, ihn, den Enkel des Hauses; aber das wußte dort niemand, er am allerwenigsten.

Und er kam an Bord, wurde gestoßen und fand harte Worte, wenig Schlaf und viel Arbeit. Das mußte er erfahren, und es soll gut sein, wenn man in der Jugend Böses erduldet, sagt man. Ja, wenn das Alter dann nur besser wird.

Die Zeit seiner Heuer war zu Ende; das Fahrzeug lag wieder in Ringkjöbing-Fjord. Er kam ans Land und wieder heim zu den Huusby-Dünen. Aber die Mutter war gestorben, während er auf der Reise gewesen war.

Es folgte ein strenger Winter; die Schneestürme fuhren über Land und Meer: man konnte kaum vorwärts kommen. Wie verschieden ist es doch in der Welt verteilt. Hier eisige Kälte und wirbelnder Schnee, und in Spanien nur allzu starke brennende Sonnenhitze, Und doch, wenn hier ein ruhiger, frostklarer Tag war und Georg die Schwäne in großen Scharen über das Meer, über den Nissum-Fjord nach Nörre Voßberg fliegen sah, schien es ihm, daß man hier die beste Luft atmete. Und wie schön war hier erst der Sommer, In Gedanken sah er die Heide blühen und mit reifen, saftigen Beeren bedeckt. Die Lindenbäume und Fliedersträucher bei Nörre Voßberg standen dann in Blüte; dahin mußte er doch noch einmal.

Der Frühling stand vor der Tür; die Fischerei begann, Georg half. Er war im letzten Jahre gewachsen, und die Arbeit ging ihm rasch von der Hand. Leben war in ihm; wassertreten konnte er, schwimmen und tauchen wie ein Fisch. Oft wurde er gewarnt, sich vor den Makrelenschwärmen zu hüten. Sie ergreifen den besten Schwimmer, ziehen ihn unter Wasser, fressen ihn, und dann ist es aus mit ihm. Aber das wurde nicht Georgs Los.

Sein Nachbar in den Dünen war ein Bursche namens Morten. Mit ihm stand sich Georg gut, und beide nahmen Heuer auf einem Schiffe nach Norwegen und Holland. Niemals gab es Streitigkeiten zwischen den beiden; aber sie können leicht kommen, und ist man nur ein wenig heftiger Natur, so macht man leicht zu starke Gebärden. Das tat Georg einst, als sie auf dem Schiffe sozusagen über nichts in Streit geraten waren. Sie saßen gerade hinter der Kajütenwand und aßen von einer leeren Tonne, die zwischen ihnen stand. Georg hatte sein Taschenmesser in der Hand. Er zückte es gegen Morten, während er kreideweiß wurde und der Haß ihm aus den Augen sah. Und Morten sagte nur: »So, du bist auch einer von denen, die gleich mit dem Messer zur Hand sind.«

Kaum war es gesagt, so fuhr Georgs Hand wieder zurück. Er sagte kein Wort, aß weiter und ging an seine Arbeit. Als er fertig war, ging er zu Morten und sagte: »Schlage mich nur gleich ins Gesicht; ich habe es verdient. Es war mir, als ob ein Topf in mir überkochen wollte.«

»Laß es gut sein,« sagte Morten, und sie waren danach doppelt so gute Freunde. Als sie dann zu den Dünen heimkamen, ins jütische Land, und erzählten, was sie erlebt hatten, wurde auch davon gesprochen, Georg konnte überkochen; aber der Topf in ihm wäre doch ganz anständig. »Ein Jüte ist er ja nicht; einen Jüten kann man ihn auch nicht nennen,« und das war witzig gesprochen von Morten.

Jung und gesund waren alle beide, gut gewachsen und von starken Gliedern. Aber Georg war der geschmeidigste, Droben in Norwegen ziehen die Bauern auf die Almen und lassen ihr Vieh auf den Bergen werden. An der jütischen Westküste hat man inmitten der Dünen Hütten erbaut, die aus Schiffstrümmern gezimmert und mit Heidetorf und Heideplacken gedeckt sind. Die Schlafstellen liegen ringsum an den Wänden, und hier wohnen und schlafen die Fischer schon frühzeitig im Frühling. Jeder hat seine Magd, seinen »Lastesel,« wie er sie nennt, und ihre Arbeit ist es, die Köder an die Angelhaken zu legen, die Fischer am Landungsplätze mit Warmbier zu empfangen und Essen aufzutragen, wenn sie müde nach Hause kommen. Die Lastesel schleppen die Fische aus den Booten und schneiden sie auf. Sie haben gar viel zu tun.

Georg, sein Vater, ein paar andere Fischer und ihre Mägde hatten zusammen eine Hütte. Morten wohnte in der nächsten. Eine der Mägde, Else, hatte Georg von klein auf an gekannt. Sie vertrugen sich gut miteinander und paßten in vielen Dingen gut zueinander; aber äußerlich waren sie durchaus ungleich. Er war braun von Farbe, und sie weiß mit flachsgelbem Haar. Ihre Augen waren so blau wie das Meer im Sonnenschein.

Eines Tages, als sie beisammen gingen und Georg sie herzlich und fest bei der Hand hielt, sagte sie zu ihm: »Georg, ich habe etwas auf dem Herzen, laß mich deine Magd sein; denn du bist mir wie ein Bruder, aber Morten und ich sind Brautleute. Doch lohnt es sich nicht, mit anderen darüber zu sprechen.«

Es war Georg, als ob sich der Dünensand unter ihm bewegte; er sagte kein Wort, er nickte mit dem Kopfe, und das bedeutet dasselbe wie »ja«. Mehr bedurfte es nicht. Aber er fühlte plötzlich in seinem Herzen, daß er Morten nicht leiden könnte, und je länger er darüber nachdachte, – und vorher hatte er niemals so an Else gedacht – desto klarer wurde es ihm, daß Morten ihm das Einzige gestohlen hatte, das er liebte. Und das war Else. Jetzt erst war es ihm klar geworden.

Ist die See bewegt und die Fischer kehren in ihren Booten zurück, dann sieh, wie sie über die Riffe setzen. Einer der Männer steht vorn aufrecht, die andern achten auf ihn und halten die Ruder still, welche sie vor dem Riffe seitwärts auslegen, bis er ihnen das Zeichen gibt, daß die große Welle kommt, die das Boot hinüberheben soll. Und sie hebt es, daß man vom Lande aus den Kiel zu sehen glaubt. Im nächsten Augenblick ist es ganz von der See bedeckt, weder Boot noch Fischer noch Mast ist zu sehen; man sollte glauben, das Meer hätte sie verschluckt; aber im nächsten Augenblick kommt es wie ein mächtiges Seeungeheuer hervor, das die Wogen hinaufklimmt. Die Ruder bewegen sich wie seine gelenkigen Beine. Beim zweiten und dritten Riff geht es wie beim ersten, und nun springen die Fischer ins Wasser, ziehen das Boot ans Land, und jeder Wellenschlag hilft ihnen und gibt dem Boote einen tüchtigen Stoß, bis sie es auf dem Strande haben.

Ein falscher Befehl vor dem Riff – ein Zögern – und sie leiden Schiffbruch.

»Dann wäre es mit mir und mit Morten vorbei.« Dieser Gedanke kam Georg draußen auf dem Meere, wo sein Pflegevater ernstlich krank geworden war. Das Fieber schüttelte ihn. Es war ein wenig vor dem äußersten Riff, als Georg aufsprang:

»Vater, laß mich,« sagte er, und sein Blick glitt über Morten und über die Brandung hin. Aber während sich jedes Ruder in den starken Händen bewegte und die größte Woge kam, sah er in das bleiche Gesicht seines Vaters, und er vermochte der bösen Eingebung nicht nachzugeben. Das Boot kam heil über die Riffe und ans Land. Aber der böse Gedanke lag ihm im Blute: es kochte und schäumte in ihm. Jede kleine Faser, die in der Zeit ihrer Kameradschaft infolge Zwistigkeiten aus ihrem Freundschaftsbande ausgerauht war, kam ihm in die Erinnerung; doch konnte er sie nicht zu einem Tau zusammenspleißen, und deshalb ließ er es sein, Morten hatte ihn beraubt, das fühlte er, und das war genug, um ihn zu Haffen, Einige der Fischer bemerkten es, aber Morten nicht. Er war immer noch wie vorher, hilfsbereit und gesprächig, und dieses ein wenig zu viel. Georgs Pflegevater mußte sich zu Bett legen, und es wurde sein Sterbebett; er starb eine Woche später. Und so erbte Georg das Haus in den Dünen, zwar nur ein geringes Haus; aber es war doch immer etwas. So viel hatte Morten nicht.

»Nun nimmst du wohl keine Heuer mehr, sondern bleibst immer bei uns, Georg,« sagte ein alter Fischer. Diesen Gedanken hatte Georg nicht; er dachte gerade daran, sich ein wenig in der Welt umzusehen. Der Aalhändler aus Fjaltering hatte einen Onkel oben in Skagen; er war Fischer, aber zugleich wohlhabender Kaufmann, der ein Schiff besaß. Es sollte ein lieber, alter Mann sein, bei dem gut zu dienen wäre. Gammelhagen liegt an der Nordspitze Jütlands, so weit von Huusbys Dünen entfernt, wie man hierzulande nur kommen, konnte, und das war es gerade, was Georg am meisten gefiel. Er wollte nicht einmal bis zur Hochzeit Elses und Mortens bleiben, die in einigen Wochen sein sollte.

Es wäre unklug fortzugehen, meinte der Fischer. Nun, da Georg das Haus hätte, würde Else ihn sicherlich lieber nehmen.

Georg gab darauf so kurze Antwort, daß es nicht leicht war, den Sinn zu erfassen. Aber der Alte führte Else zu ihm, Sie sagte nicht viel, aber sie sagte:

»Du hast das Haus, das muß man bedenken.«

Und Georg bedachte gar viel.

Das Meer schlägt hohe Wogen, das menschliche Herz oft höhere. Manche Gedanken, starke und schwache, gingen Georg durch Kopf und Herz. Und er fragte Else:

»Wenn Morten ebenfalls ein Haus hätte, wen von uns beiden würdest du dann nehmen?«

»Aber Morten hat keins und bekommt keins.«

»Aber denke dir, daß er eins hätte.«

»Ja, dann würde ich wohl Morten nehmen, denn ihn liebe ich. Aber davon kann man nicht leben.«

Und Georg dachte die ganze Nacht an die Antwort. Es war etwas in ihm, worüber er sich aber keine Rechenschaft geben konnte. Aber er hatte einen Gedanken, und der war stärker als seine Liebe zu Else, Deshalb ging er zu Morten, und was er ihm sagte und tat, hatte er wohl überlegt. Er überließ ihm zu den billigsten Bedingungen das Haus. Er selbst wollte eine Heuer nehmen; dazu trieb es ihn. Und Else küßte ihn auf den Mund, als sie es hörte; denn sie liebte ja Morten am meisten.

Am frühen Morgen wollte Georg fort. Am Abend vorher – es war schon spät – bekam er Lust, noch einmal Morten zu besuchen. Er ging fort, und in den Dünen traf er den alten Fischer, der nicht an seine Abreise glaubte. Morten hätte sich sicherlich einen Zauber in die Hose genäht, sagte er, da die Mädchen so sehr verliebt in ihn wären. Georg schlug die Rede in den Wind, sagte Lebewohl und ging nach dem Hause, wo Morten wohnte. Er hörte drinnen laut reden. Morten war nicht allein. Georg wurde wankelmütig, mit Else wollte er nicht wieder zusammentreffen, und wenn er sich recht bedächte, sollte er lieber vermeiden, daß Morten ihm noch einmal Dank sagte, und deshalb kehrte er wieder um.

Am nächsten Morgen, ehe es Tag ward, schnürte er sein Bündel, nahm seinen Mundvorrat und ging die Dünen hinunter an den Meeresstrand, wo leichter als in den tiefen, sandigen Wegen fortzukommen und deshalb der kürzere Weg war. Er wollte zunächst nach Fjaltering bei Bovbjerg, wo der Aalhändler wohnte, dem er einen Besuch versprochen hatte.

Das Meer lag blank und blau; Schalen und Muscheln lagen umher; sein Kinderspielzeug krachte unter seinen Füßen Indem er dahinging, fing seine Nase an zu bluten. Es ist nur ein geringer Umstand; aber auch er kann Bedeutung haben. Ein paar große Blutstropfen fielen auf seinen Ärmel; er wischte sie ab, stillte das Bluten, und es war ihm, als ob der Blutverlust ihm Kopf und Gedanken leichter gemacht hätte. Im Sande blühte der Strandkohl. Er brach einen Stengel ab und steckte ihn an den Hut. Froh und frei wollte er sein, ging es doch in die weite Welt hinaus. »Vor die Tür, den Fluß ein wenig hinauf,« wie die Aalkinder es wollten. »Nehmt euch vor den bösen Menschen in acht, sie stechen, häuten und schneiden euch in Stücke,« wiederholte er in seinen Gedanken und lachte dabei. Er schlüpfte wohl noch mit heiler Haut durch die Welt. Guter Mut ist gute Wehr.

Die Sonne stand schon hoch, als er sich der schmalen Einfahrt der Nordsee in Nyssum-Fjord näherte. Er sah zurück und gewahrte ein gutes Stück hinter sich zwei Reiter, denen andere folgten. Sie beeilten sich; doch was ging es ihn an.

Das Fährboot lag auf der andern Seite der Einfahrt. Georg rief, bis es kam, und stieg hinein. Aber ehe er mit dem Fährmann bis in die Mitte gekommen war, kamen die Leute heran, die sich so sehr beeilt hatten. Sie riefen, sie drohten und befahlen im Namen des Gesetzes. Georg verstand nicht, was es bedeutete; aber er meinte, das beste wäre umzukehren. Er ergriff selbst das eine Ruder und ruderte zurück. Im nächsten Augenblick sprangen die Leute in das Boot, und ehe er etwas ahnte, banden sie ihm mit einem Tau die Hände zusammen.

»Deine Schandtat wird dir dein Leben kosten,« sagten sie. »Gut, daß wir dich faßten.«

Es war nichts Geringeres als ein Mord, den er begangen haben sollte. Man hatte Morten mit einem Messer im Halse erstochen gefunden. Einer der Fischer hatte Georg gestern abend getroffen, als er zu Morten ging. Man wußte, daß es nicht das erste Mal war, daß Georg das Messer gegen ihn erhoben hatte. Er mußte der Mörder sein. Es kam nur darauf an, ihn in sichere Haft zu bringen. Ringkjöping war der rechte Ort; aber der Weg war weit; der Wind blies aus Westen. Keine halbe Stunde brauchte man, um nach Skjäruma überzusetzen, und von dort hatte man noch ein Viertel des Weges nach Nörre Voßberg, dem starken Schloß mit Wall und Graben. Im Boote befand sich ein Bruder des dortigen Verwalters. Er meinte, sie würden wohl Erlaubnis erhalten, Georg ohne weiteres in das Loch zu sperren, wo die »Lange Margarete«, die Zigeunerhexe, vor ihrer Hinrichtung gesessen hatte. Georgs Verteidigung wurde nicht gehört. Die Blutstropfen auf seinem Hemde sprachen zu deutlich gegen ihn. Er war sich seiner Unschuld bewußt, und da er sich hier doch nicht rechtfertigen konnte, ergab er sich in sein Schicksal.

Sie stiegen gerade bei der Stelle ans Land, wo das Schloß des Ritters Bugge gestanden hatte. Dorthin war Georg in den vier seligen, glänzenden Tagen seiner Kindheit mit seinen Pflegeeltern zum Leichenschmause gewandert. Es ging wieder denselben Weg über die Wiese nach Nörre Voßberg hinauf; dort stand der Fliederstrauch wieder in voller Blüte, dufteten wiederum die hohen Linden, und es dünkte ihn, als wäre er gestern hier gewesen.

In dem westlichen Flügel des Schlosses ist unter der hohen Treppe ein Eingang, welcher zu einem niedrigen, gewölbten Keller führt, und von hier war die »Lange Margarete« zur Richtstätte geführt worden. Sie hatte fünf Kinderherzen gegessen, und sie glaubte, daß sie fliegen und sich unsichtbar hätte machen können, wenn sie noch zwei gegessen hätte. In der Mauer befand sich ein kleines, enges Luftloch ohne Scheiben; aber die duftenden Linden draußen vermochten nicht einen erquickenden Hauch hinabzusenden. Drinnen war alles feucht und moderig. Nur eine Pritsche stand da; aber ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen, und deshalb konnte Georg hier sanft ruhen. Die dicke Bohlentür wurde geschlossen, eine Eisenstange vorgelegt. Aber der Mahr des Aberglaubens kriecht durch ein Schlüsselloch auf dem Herrensitz sowohl als in dem Fischerhause. Sicherlich käme er auch hier herein, wo Georg nun saß und an die »Lange Margarete« und ihre Untaten dachte. Ihre letzten Gedanken hatten diesen Raum in der Nacht vor der Hinrichtung erfüllt. Georg erinnerte sich all der Zauberkünste, die hier in alter Zeit ausgeübt waren, als der Gutsherr Svanwedel hier noch wohnte. Und es war ja allgemein bekannt, daß noch jetzt der Kettenhund, welcher auf der Brücke stand, jeden Morgen an seiner Kette über das Geländer gehängt, aufgefunden wurde. Alles dies erfüllte und durchschauerte Georg; doch ein Sonnenstrahl leuchtete von außen zu ihm hinein. Und das war die Erinnerung an den blühenden Flieder und die Lindenbäume.

Lange blieb er hier nicht. Er wurde nach Ringkjöping geführt, wo die Haft gleich strenge war. Jene Zeiten gleichen nicht den heutigen. Der arme Mann hatte es schwer: es war häufig genug, daß Bauernhöfe und Bauerndörfer in neue Herrensitze aufgingen und Kutscher und Diener Vögte wurden. Sie konnten wegen eines geringen Versehens den armen Mann um Hab und Gut bringen und ihn am Pranger auspeitschen lassen. Noch jetzt fand sich einer oder der andere dieser Art. Und in dem jütischen Land, weit entfernt von der Königsstadt Kopenhagen und den erleuchteten, wohlgesinnten Staatsmännern, bog man das Gesetz wie man konnte, und das geringste war es daher, daß Georgs Sache sich sehr in die Länge zog.

Es war bitterkalt, wo er saß. Wann würde das Ende kommen? Unschuldig war er in Leid und Jammer gestürzt. Das war sein Los, das ihm in dieser Welt beschert worden war. Er hatte nun Zeit, darüber nachzudenken, weshalb er so in die Welt gestellt worden war. Ja, das würde sich im andern Leben, das uns sicherlich erwartet, aufklären. Der Glaube war in dem armen Hause in ihm aufgewachsen. Was in Spaniens Fülle und Sonnenschein nicht seinem Vater einleuchtete, wurde ihm in Kälte und Finsternis ein tröstendes Licht, eine Gnadengabe Gottes, und sie täuscht niemals.

Nun ließen die Frühlingsstürme sich hören. Das Donnern der Nordsee hörte man meilenweit in das Land hinein; aber erst wenn der Sturm sich legte, tönte es wie von schweren Wagen, die zu Hunderten über einen harten, unterhöhlten Weg fuhren. Georg hörte es in seinem Gefängnisse, und es war ihm eine Abwechselung. Keine alte Melodie konnte ihn stärker ans Herz fassen, als die Töne des rollenden Meeres, des freien Meeres, auf dem man durch die Welt getragen wurde, mit dem Winde flog und wo man, wohin man auch kam, wie die Schnecke, stets sein eigenes Haus bei sich hatte. Man stand immer auf eigenem Grund und Boden, auf dem Boden der Heimat, selbst im fremden Lande.

Wie lauschte er auf das tiefe Rollen, wie wogten in seinen Gedanken die Erinnerungen durcheinander! Frei, frei! glücklich sein! selbst in zerrissenen Schuhsohlen und im geflickten, blauleinenen Kittel! Etlichemal loderte es heiß in ihm auf, und er schlug mit der geballten Faust gegen die Mauer.

Wochen, Monate, ein ganzes Jahr waren vergangen, da griff man einen Vagabunden Niels Tyv, den Pferdedieb, wie er genannt wurde, auf, und da – kamen die besseren Zeiten; es wurde offenbar, wie großes Unrecht Georg erduldet hatte.

Nördlich vom Ringkjöbing-Fjord, bei einem Kätner, der eine Schankwirtschaft hielt, waren am Nachmittag vor Georgs Abreise aus der Heimat und vor dem Morde, Morten und Niels zusammengetroffen. Es wurden einige Glas getrunken; sie konnten freilich einem Manne nicht zu Kopfe steigen; aber sie setzten doch Mortens Mundwerk ein wenig zu sehr in Gang. Er schnitt auf, erzählte, daß er einen Hof erhalten hätte und heiraten wollte. Und als Niels ihn fragte, wo er das Geld dazu hatte, schlug er hochmütig auf seine Tasche und antwortete:

»Es ist dort, wo es sein muß.«

Diese Prahlerei kostete ihm das Leben. Als er ging, folgte Niels ihm und stach ihm das Messer in die Kehle, um das Geld zu nehmen, das nicht vorhanden war.

Es wurde weitläufig auseinandergesetzt. Uns genügt zu wissen, daß Georg auf freien Fuß gesetzt wurde. Aber was erhielt er als Entgelt für alles, was er gelitten hatte, in Jahr und Tag, im Gefängnis, in der Kälte, da er aus der Menschheit ausgestoßen war? Ja, es wurde ihm gesagt, daß es ein Glück für ihn wäre, unschuldig zu sein. Er könne nun gehen, wohin er wollte. Der Bürgermeister schenkte ihm zehn Mark Reisegeld, und mehrere Bürger des Städtchens gaben ihm gut zu essen und zu trinken. Es gab doch gute Menschen; nicht alle stechen, häuten und legen in die Pfanne. Aber das Beste von allem war, daß der Kaufmann Brönne aus Skagen, bei dem Georg vor einem Jahr Stellung nehmen wollte, gerade in diesen Tagen in Geschäften nach Ringkjöping gekommen war. Er hörte von der Sache, und da er ein Herz hatte, verstand und fühlte er, was Georg gelitten hatte. Nun wollte er es gut machen; ja mehr als das, wollte ihn erfahren lassen, daß es auch gute Menschen gäbe.

Aus dem Gefängnis ging es zur Freiheit, zum Himmelreich, zur Liebe und zur Herrlichkeit; ja, das sollte er erproben. Kein Becher des Lebens erhält nur Wermut; kein guter Mensch kann einem Menschenkinde nur den bitteren Kelch reichen, und sollte da Gott, der Allgütige, es können?

»Laß nun alles begraben und vergessen sein,« sagte Kaufmann Brönne. »Wir wollen einen dicken Strich durch das letzte Jahr machen. Den Kalender verbrennen wir! und in zwei Tagen reisen wir in das friedliche, gesegnete und fröhliche Skagen. Man nennt es einen entlegenen Winkel des Landes, aber es ist ein gesegneter Winkel hinterm Ofen, mit offenen Fenstern in die weite Welt hinaus.«

Das war eine Reise! Man konnte wieder recht atmen! Hinauszukommen aus dem Gefängnis in den warmen Sonnenschein. Die Heide stand mit tausend Blüten, ein weites Blumenmeer, und der Hirtenknabe saß auf dem Hünengrab und spielte auf seiner Flöte, die er aus einem Schafknochen geschnitzt hatte. Die Fata morgana, die schöne Spiegelung der Wüste, zeigte sich mit Hangenden Gärten und schwimmenden Wäldern, und auch jene seltsame leichte Luftwelle, die man Lokemann nennt, der eine Herde treibt.

Gegen den Limfjord nach Skagen ging die Reise, woher die Männer mit den langen Bärten, die Longobarden, einst ausgewandert waren, als in einer Hungersnot unter König Snio alle Kinder und Greise getötet werden sollten. Aber das edle Weib Gambaruk, die dort Landbesitz hatte, schlug vor, daß die Jugend lieber aus dem Lande ziehen sollte. Das wußte Georg, so gelehrt war er, und kannte er auch nicht das Land der Longobarden hinter den hohen Alpen, so wußte er doch, wie es dort aussehen mußte. Er war ja selbst als Knabe im Süden, in Spanien, gewesen; er erinnerte sich der aufgestapelten Fruchthaufen, der roten Granatblüten, des Summens, Brummens und Glockenklangs in dem großen Bienenkorb der Städte. Aber am schönsten ist es doch im Lande der Heimat, und Dänemark war Georgs Heimat.

Endlich erreichten sie Vendilskaga, wie Skagen in alten nordischen und isländischen Schriften genannt wird. Meilenweit, von Dünen und Ackerland unterbrochen, erstreckt sich und erstreckte sich schon damals »Gammelskagen« mit West- und Oststadt bis zum Leuchtturm von Grenen. Häuser und Gehöfte lagen, wie noch heutigen Tags, zerstreut zwischen den aufgewehten, veränderlichen Sandhügeln, ein Wüstenstrich, wo sich der Wind in dem losen Sand wälzt und wo Möwen, Seeschwalben und wilde Schwäne sich hören lassen, so daß es durch das Trommelfell schneidet. Eine Meile südwestlich von Grenen liegt Höien oder Gammelskagen. Hier wohnte Kaufmann Brönne; hier sollte Georg leben. Das Haus war geteert; die kleinen Nebengebäude hatten ein umgestülptes Boot zum Dach. Schiffstrümmer waren zu Schweineställen zusammengeschlagen. Eine Einfriedigung war nicht vorhanden, es gab ja nichts einzufriedigen. In langen Reihen aber hingen auf Schnüren, eine immer über der andern, aufgeschnittene Fische, um im Winde zu trocknen. Der ganze Strand war mit verfaulten Heringen überhäuft. Das große Schleppnetz kam schwerlich ins Wasser, ehe nicht die Heringe fuderweise ans Land gezogen waren. Es gab ihrer zu viele, man warf sie wieder ins Meer oder ließ sie liegen und verfaulen.

Die Frau und die Tochter des Kaufmanns, ja auch das Hausgesinde kamen jubelnd herbei, als der Vater heimkehrte. Das war ein Händedrücken, ein Rufen und Erzählen! Und was ein liebes Gesicht und wie schöne Augen hatte doch die Tochter.

Die Räume des Hauses waren behaglich und groß, Schüsseln mit Fischen wurden aufgetragen, Goldbutten, die ein König ein Prachtgericht genannt haben würde, und Wein aus den Weinbergen Skagens, aus dem weiten Meere. Die Trauben rollten gekeltert ans Land, in Fässern sowohl als in Flaschen.

Als Mutter und Tochter erfuhren, wer Georg wäre und daß Georg unschuldig und schwer gelitten hätte, da leuchteten ihre Augen noch freundlicher, am freundlichsten aber erglänzten die Augen der Tochter, der holden Jungfrau Klara. Er fand ein gesegnetes Heim in Gammelskagen; das tat seinem Herzen wohl, und Georgs Herz hatte viel erprobt, auch der Liebe bitteren Trank, der hart oder weich macht. Georgs Herz war noch weich; es war so jung, es hatte noch einen Platz zu vergeben. Und daher traf es sich sicher sehr glücklich, daß gerade in drei Wochen Jungfrau Klara mit einem Schiff nach Christiansand in Norwegen hinauf sollte, um eine Tante zu besuchen und dort den ganzen Winter zu bleiben.

Am Sonntag vor der Abreise waren sie alle in der Kirche zum Abendmahl. Groß und stattlich war die Kirche. Schotten und Engländer hatten sie vor mehreren Jahrhunderten in der Nähe der Stelle erbaut, wo nun die Stadt liegt. Etwas baufällig war sie geworden, und der Weg durch den tiefen Sand hinauf und hinab war sehr beschwerlich. Doch man ertrug es gern, um in Gottes Haus zu kommen, fromme Lieder zu singen und die Predigt zu hören. Der Sand ging schon über die Ringmauer des Kirchhofes hinüber; aber die Gräber hatte man bis jetzt noch von den Sandwehen frei halten können.

Es war die größte Kirche nördlich vom Limfjord. Die Jungfrau Maria mit der Goldkrone auf dem Haupte und dem Jesuskinde in dem Arme stand wie lebend in dem Altarschrein. Im Chor standen die heiligen Apostel, geschnitzt; zu oberst der Wand sah man die Porträts der alten Bürgermeister und Ratsherren mit Namen und Jahr ihrer Wirksamkeit, Die hölzerne Kanzel war reich verziert. Freundlich schien die Sonne in die Kirche auf den blanken Messingkronleuchter und das kleine Schiff, die von der Decke herniederhingen.

Georg war von einem heiligen, kindlich reinen Gefühle überwältigt wie damals, als er als Knabe in der reichen Kirche Spaniens stand. Aber hier hatte er das Bewußtsein, daß er mit zur Gemeinde gehörte. Nach der Predigt war das Abendmahl; er genoß mit den andern das Brot und den Wein. Es traf sich, daß er gerade an der Seite der Jungfrau Klara kniete; doch seine Gedanken waren so auf Gott und die heilige Handlung gerichtet, daß er erst beim Aufstehen bemerkte, wer sein Nachbar gewesen war, und er sah die salzige Träne ihre Wangen hinabrollen.

Zwei Tage später reiste sie nach Norwegen ab, Georg machte sich im Hause und bei der Fischerei nützlich, und es gab damals mehr Fische zu fangen als heutzutage. Die Makrelenschwärme schimmerten durch die dunkle Nacht und zeigten wo sie waren, die Knurrhähne knurrten und Schwarzfische gaben ein jämmerliches Geheul von sich, wenn sie gejagt wurden. Die Fische sind nicht so stumm wie man denkt. Georg war stummer in dem, was er verbarg; aber es kommt wohl noch einmal hervor.

Jeden Sonntag, wenn er in der Kirche saß, und seine Augen auf das Bild der Mutter Maria im Altarschrein heftete, ruhten sie auch eine Weile auf der Stelle, wo Jungfrau Klara an seiner Seite gekniet hatte. Und er dachte an sie und wie herzensgut sie gegen ihn gewesen war.

Das Spätjahr kam mit Regen und Tauschnee. Das Wasser stieg und überflutete ganz Skagen. Der Sand konnte nicht alles Wasser einschlucken; man mußte durch die Straßen waten oder gar mit einem Boote fahren. Die Stürme warfen Schiffe über Schiffe auf die todbringenden Riffe. Es gab Schneestürme und Sandstürme. Der Sand legte sich um die Häuser, so daß die Leute zum Schornstein hinauskriechen mußten. Allein das war nichts Besonderes hier oben. Warm und behaglich war es im Zimmer. Heidetorf und Wrackholz knitterten und knatterten im Ofen, und der Kaufmann Brönne las laut aus einer alten Chronik vor, las von dem Prinzen Hamlet von Dänemark, der aus England hier ins Land herüber kam und bei Bovbjerg eine Schlacht lieferte. Bei Ramme war sein Grab, nur ein Paar Meilen von dem Ort entfernt, wo der Aalhändler wohnte. Gleich einem großen Friedhofe erhoben sich dort auf der Heide Hünengräber zu Hunderten. Kaufmann Brönne hatte selbst einst Hamlets Grab besucht. Es wurde von alten Zeiten erzählt, von den Nachbarn, den Engländern und Schotten, und Georg sang das Lied vom Sohne des englischen Königs, von dem prächtigen Schiff, das so reich ausgestattet war:

»Vergoldet war's von Bord zu Bord
Drauf stand geschrieben Gottes Wort.
Der Königssohn nahm liebewarm
Die Jungfrau fest in seinen Arm.«

Besonders diesen Vers sang Georg so innig. Seine Augen leuchteten dabei, sie waren ja auch schwarz und glänzend von seiner Geburt an.

Es wurde gesungen und gelesen. Wohlstand war dort zu Hause. Das Familienleben schien auch die Haustiere zu umschließen, und sie wurden gut gehalten. In Reihen schimmerten die blank gescheuerten Zinnteller, und unter der Decke hingen Würste und Schinken. Wintervorräte gab es in Fülle. Das können wir heute noch in manchen reichen Bauernhöfen drüben an der Westküste sehen. Lebensmittel bis unter das Dach hinauf und größte Reinlichkeit in den Stuben. Klugheit und frohe Laune haben in jüngster Zeit dort merklich zugenommen. Gastfreundschaft herrscht dort wie im Zelte des Arabers.

Niemals vorher hatte Georg eine so fröhliche Zeit verlebt, seit er als Knabe vier Tage beim Leichenschmaus war. Und doch war Jungfrau Klara fort, nur nicht aus den Gedanken und den Gesprächen.

Im April sollte ein Schiff nach Norwegen hinaufgehen und Georg sollte mit. Das konnte seine gute Laune nur erhöhen. Und Fleisch hätte er auf den Knochen, sagte Mutter Brönne; es wäre eine Freude ihn anzusehen.

»Und dich anzusehen nicht minder,« sagte der alte Kaufmann. »Georg hat die Winterabende und dich, Mütterchen, neu belebt. Du bist in diesem Jahre jünger geworden; du siehst gut und heiter aus; du warst ja auch das schönste Mädchen in Viborg und das sagt viel; denn dort habe ich immer die schönsten Mädchen gefunden.«

Georg sagte nichts dazu, das schickte sich nicht; aber er dachte an ein Mädchen aus Skagen, und zu ihm segelte er hinauf. Das Schiff legte in Christiansand an, es war mit günstigem Wind in einem halben Tage hinaufgefahren.

Eines Morgens ging Kaufmann Brönne nach dem Leuchtturm hinaus, der weit von Gammelskagen in der Nähe von Grenen liegt. Die Kohlen auf der Drehscheibe waren längst erloschen, und die Sonne stand bereits hoch, als er auf dem Turme anlangte. Eine ganze Meile über den äußersten Punkt des Landes hinaus erstreckten sich unter dem Wasser die Sandbänke. Vor denselben zeigten sich heute viele Schiffe, und unter denselben glaubte man mit einem Fernrohr »Karen Brönne,« so hieß das Schiff des Kaufmanns, zu erkennen. Und so war es; es war in voller Anfahrt. Georg und Klara waren an Bord. Skagens Leucht- und Kirchturm zeigten sich ihnen wie ein Reiher und ein Schwan auf dem blauen Wasser, Klara saß an der Reeling und sah nach und nach die, Dünen auftauchen. Ja, blieb der Wind stetig, konnten sie in einer Stunde in der Heimat sein, so nahe waren sie ihr und der Freude. – – – So nahe waren sie dem Tode und der Todesangst.

Da barst eine Planke im Schiffe; das Wasser drängte herein. Es wurde gedichtet und gepumpt, alle Segel beigesetzt und die Notflagge gehißt. Sie waren noch eine ganze Meile entfernt, Fischerboote waren zu sehen, aber in weiter Entfernung. Der Wind trieb sie gegen das Land, die Wellen halfen, aber nicht genügend, das Schiff sank. Georg schlang seinen rechten Arm fest um Klara.

Mit welchem Blick sah sie ihm in die Augen, als er sich in Gottes Namen mit ihr in das Meer stürzte. Sie stieß einen Schrei aus; aber sie konnte sicher sein, er würde sie nicht loslassen.

Was das Heldenlied sang:

»Der Königssohn nahm liebewarm
Die Jungfrau fest in seinen Arm,«

das übte Georg in der Stunde der Gefahr und der Angst. Nun kam es ihm zu statten, daß er ein tüchtiger Schwimmer war. Er arbeitete sich mit den Füßen und einer Hand vorwärts, die andere hielt er fest um das junge Mädchen. Er ruhte in dem Wasser, trat es mit Füßen, führte alle die Bewegungen aus, die er kannte und wußte, um Kräfte genug zu haben, das Land zu erreichen. Er hörte sie einen Seufzer ausstoßen, er fühlte ein krampfhaftes Zittern, durch ihren Körper fahren und hielt sie fester. Eine einzelne Welle schlug über sie hin; die Strömung hob sie. Das Wasser war tief und klar. Einen Augenblick glaubte er die schimmernden Makrelenschwärme dort unten zu sehen, oder war es der Leviathan selber, der ihn verschlingen wollte. Die Wolken warfen Schatten über das Wasser und wieder erglänzte es im Sonnenlicht. Schreiende Vögel zogen in großen Schwärmen über sie hin und die wilden Enten, die schwer und schläfrig auf dem Wasser dahintrieben, flogen erschreckt vor dem Schwimmer auf. Aber seine Kräfte nahmen ab, er fühlte es; das Land war noch einige Kabellängen entfernt; doch Hilfe kam, ein Boot näherte sich. – Aber unter dem Wasser stand – er sah es deutlich: eine weiße, starre Gestalt; eine Woge hob ihn, die Gestalt näherte sich, er empfand einen Stoß: es wurde Nacht und alles schwand um ihn.

Auf der Sandbank stand ein Schiffswrack, die See überflutete es. Die weiße Figur am Bugspriet stützte sich auf einen Anker, dessen scharfe Spitze gerade bis zum Wasserspiegel reichte. Georg war dagegen gestoßen. Die Strömung hatte ihn mit vermehrter Kraft dagegen getrieben. Ohnmächtig sank er mit seiner Last; doch die nächste Welle hob ihn und das junge Mädchen wieder empor.

Fischer ergriffen sie und zogen sie ins Boot. Blut strömte über Georgs Gesicht. Er lag wie tot; aber das Mädchen hielt er fest umklammert, so daß sie es ihm aus Arm und Hand reißen mußten. Leichenblaß, leblos und ausgestreckt lag sie im Boote, das auf Skagens Spitze zusteuerte.

Alle Mittel wurden angewendet, Klara ins Leben zurückzubringen; doch sie war tot. Lange war Georg draußen mit einer Leiche geschwommen, hatte sich für eine Tote gemüht und entkräftet.

Georg atmete noch; man trug ihn nach dem nächsten Hause in den Dünen. Ein Schmied und Kleinhändler, der zugegen war und zur Not Feldscherdienste verrichtete, verband Georg, bis am nächsten Tage der Arzt aus Hjörring geholt werden konnte. Das Gehirn des Kranken war angegriffen; er lag in Raserei und stieß wilde Schreie aus. Am dritten Tage versank er in einen Schlummer: das Leben hing nur an einem Faden, und daß er riß, sagte der Arzt, wäre das Beste, was man Georg wünschen könnte.

»Laßt uns zu Gott beten, daß er dem Tode entrinnt; er ist immer ein Mensch.«

Aber das Leben entrann ihm nicht: der Faden wollte nicht reißen, aber die Erinnerung zerriß, das Band seiner Geistesfähigkeiten war zerschnitten. Das war gräßlich. Nur der Körper blieb zurück; ein Körper, der die Gesundheit wieder erhalten sollte.

Im Hause des Kaufmanns Brönne blieb er. »Er hat ja den Todesstoß erhalten, als er unser Kind retten wollte,« sagte der alte Mann, »jetzt ist er unser Sohn.«

Blödsinnig nannte man Georg; aber das war nicht das rechte Wort. Er war wie ein Instrument, dessen Saiten sich gelockert hatten und nicht mehr klingen konnten. Nur in einigen Augenblicken, für wenige Minuten erhielten sie die alte Spannkraft zurück, und sie klangen. Alte Melodien erklangen, aber nur wenige Takte. Bilder entrollten sich und verdämmerten. Dann saß er wieder stier und gedankenleer da. Aber wir dürfen glauben, daß er nicht litt. Die dunklen Augen verloren ihren Glanz, sie glichen einem schwarzen, behauchten Glase.

»Der arme, blödsinnige Georg,« sagte man.

Das war er, der unter dem Herzen seiner Mutter einem Erdenleben entgegengetragen worden war, so reich und glücklich, daß es ein Übermut, ein entsetzlicher Stolz war, ein Leben nach dem Tode zu wünschen.

Alle die großen Fähigkeiten der Seele wären also verspielt. Nur schwere Tage, Schmerz und Enttäuschungen wären ihm zuerteilt? Eine Prachtzwiebel wäre aus dem reichen Erdboden gerissen und in den Sand geworfen, um zu verfaulen? Das nach Gott geschaffene Bild hätte keinen besseren Wert? Ein Spiel des Zufalls wäre nur das Ganze, wäre alles? Nein, Gottes Allliebe, Allgüte muß und wird ihm im andern Leben einen Entgelt geben für das, was er hier litt und entbehrte. »Der Herr ist barmherzig und seine Güte währet ewiglich.« Diese Worte aus dem Psalm Davids sprach die alte, fromme Kaufmannsfrau voll Glauben und Zuversicht, und das Gebet ihres Herzens war, daß Gott bald Georg erlösen möge und er nach Gottes Gnade zum ewigen Leben eingehen könne.

Auf dem Kirchhof, wo der Sand über die Mauer dahinfegte, lag Klara begraben. Es schien, als ob Georg gar nicht daran dachte; es gehörte nicht in das Reich seiner Gedanken; sie erhoben sich nur in Bruchstücken aus seiner Vergangenheit. Jeden Sonntag folgte er der Familie zur Kirche und saß still mit gedankenleerem Blick da. Eines Tages stieß er während des Gesanges einen Seufzer aus; seine Augen leuchteten; sie waren auf den Altar gerichtet, auf die Stelle, wo er vor mehr als Jahr und Tag neben seiner toten Freundin gekniet hatte. Er nannte ihren Namen, wurde bleich wie ein Tuch und Tränen rollten seine Wangen hinab.

Man half ihm aus der Kirche, und er sagte, daß er sich wohlfühle, daß es ihm nicht schiene, als ob ihm etwas fehle. Er hatte keine Erinnerung daran; er, der von Gott Geprüfte, der von Gott Verworfene, – Und Gott, unser Schöpfer, ist allweise und allgütig; wer kann es bezweifeln. Unser Herz und unser Verstand bekennen es, die Bibel bekräftigt es: »Seine Güte währet ewiglich.«

In Spanien, wo zwischen Orangen- und Lorbeerhainen die vergoldeten maurischen Kuppeln, von warmen Lüften umwogt, glänzen, wo Lieder und Kastagnetten erklingen, saß in dem prachtvollen Hause ein kinderloser Greis, der reichste Kaufmann. Durch die Straßen zogen Kinder in Prozessionen und wehenden Fahnen. Wie viel seines Reichtums hätte er nicht dahingegeben, wenn er seine Kinder noch besäße, seine Tochter oder ihr Kind, welches vielleicht niemals das Licht der Welt erblickt hatte und deshalb auch niemals das Licht der Ewigkeit, das Paradies sehen werde. Armes Kind!

Ja, armes Kind! Wirklich ein Kind und doch schon über dreißig Jahre. So alt war Georg in Gammelskagen geworden.

Der Flugsand hatte sich über die Gräber gelegt, bis an die Kirchenmauer hinauf. Aber die Toten mußten und wollten doch bei den Vorausgegangenen, bei Verwandten und Freunden begraben werden. Kaufmann Brönne und seine Frau ruhten hier bei ihren Kindern unter dem weißen Sande.

Es war im Frühjahr, die Zeit der Stürme; die Dünen rauchten, das Meer schlug hohe Wellen. Die Vögel flogen in großen Scharen, wie Wolken im Sturme, schreiend über die Dünen. Schiffbruch auf Schiffbruch folgte auf den Sandbänken von der Spitze Skagens bis zu den Dünen von Huusby.

Eines Nachmittags saß Georg allein in der Stube. Dämmerte es in seiner Seele? Ein Gefühl der Unruhe erfaßte ihn, das ihn in jüngeren Jahren in die Dünen und auf die Heide hinaustrieb.

»Heim! heim!« sagte er; niemand hörte ihn. Er ging zum Hause hinaus in die Dünen hinein, Sand und kleine Steine wirbelten umher und flogen ihm ins Gesicht. Er ging auf die Kirche zu. Der Sand lag an der Mauer bis halb zu den Fenstern hinauf; aber um einen Gang freizuhaben, hatte man den Sand beiseite geworfen. Die Kirchentür war nicht geschlossen und leicht zu öffnen. Georg ging hinein.

Der Wind fuhr heulend über die Stadt Skagen. Es war ein Orkan, wie sich kein Mensch erinnern konnte, je einen erlebt zu haben, ein entsetzliches Wetter Gottes. Aber Georg war im Hause des Herrn. Wahrend es draußen dunkle Nacht wurde, wurde es in ihm hell; es war das Licht der Seele, das nie erlischt. Er fühlte, wie der schwere Stein, der auf seinem Kopfe lag, mit einem Knall zersprang; er glaubte den Klang der Orgel zu hören; aber es war der Sturm und das rollende Meer. Er setzte sich in den Kirchenstuhl, und Lichter wurden angezündet, Licht auf Licht, eine unendliche Zahl, wie er es nur in Spanien gesehen hatte. Und die Bilder der alten Ratsherren und Bürgermeister wurden lebendig. Sie traten aus den Wänden hervor, wo sie seit Jahren gestanden hatten, und setzten sich in den Chor. Die Pforten und Türen der Kirche öffneten sich, und herein traten alle die Toten in der festlichen Tracht ihrer Zeit. Sie kamen unter einer schönen Musik und setzten sich in die Stühle. Kirchenlieder ertönten gleich dem rollenden Meere, und seine alten Pflegeeltern aus den Huusby-Dünen waren hier, und der alte Kaufmann Brönne und seine Frau ebenfalls. Und an ihrer Seite dicht neben Georg saß ihre sanfte, liebliche Tochter. Sie reichte Georg die Hand. Sie traten vor den Altar, wo sie früher gekniet hatten; der Priester legte ihre Hände zusammen und weihte sie für ein Leben in Liebe. Da brausten die Töne der Posaunen, wunderbar wie Knabenstimmen voll Sehnsucht, Lust und Freude; sie schwollen an zu Orgelklang, zu einem Orkan voller erhebender Töne holdselig anzuhören und doch mächtig genug, um die Grabsteine zu sprengen.

Und das Schiff, welches im Chor hing, glitt vor den beiden nieder. Es war so groß und prächtig, mit seidenen Segeln und vergoldeten Rahen, Die Anker waren von rotem Golde und jedes Tau war mit Seide umsponnen, wie es in dem alten Liede heißt. Das Brautpaar ging an Bord und die ganze Kirchengemeinde folgte, und es war Platz und Herrlichkeit für alle vorhanden. Und die Wände und das Gewölbe blühten von Flieder und duftenden Linden, Sanft säuselten die Zweige und Blätter. Sie neigten sich, gingen auseinander und das Schiff erhob sich und segelte mit ihnen durch das weite Luftmeer. Jedes kleine Kirchenlicht wurde ein kleiner Stern, und die Winde stimmten den Kirchengesang an, und alle sangen mit.

In Liebe zur Herrlichkeit! Kein Leben soll verloren gehen! Glückselig und froh! Halleluja!

Das waren seine letzten Worte in dieser Welt. Das Band zerriß, welches die unsterbliche Seele hielt. Ein toter Körper lag nur in der finstern Kirche, über welche die Stürme sausten und sie mit Flugsand umwirbelten.

 

*

Der nächste Tag war ein Sonntag, Gemeinde und Pfarrer kamen zum Gottesdienst. Der Weg hierher war beschwerlich, durch den Sandsturm fast unwegsam. Und nun, als sie hier waren, lag ein großer Sandhügel vor der Kirchentür. Der Pfarrer las ein kurzes Gebet, sagte, daß Gott die Tür zu diesem seinem Hause geschlossen hatte; sie müßten nun gehen, um an anderer Stätte ein neues zu erbauen.

Dann sangen sie ein Lied und wanderten zu ihren Behausungen zurück.

Georg war nicht zu finden, weder in der Stadt Skagen noch in den Dünen, wo sie ihn auch suchten. Die weit auf den Sand rollenden Wellen hätten ihn wohl mit sich gezogen, hieß es.

Sein Körper lag in dem größten Sarkophag begraben, in der Kirche selbst. Gott selbst hat im Sturm Erde auf seinen Sarg geworfen. Die schwere Sandschicht lag und liegt noch heute dort.

Die Sandwehen haben die mächtigen Gewölbe bedeckt. Sanddorn und wilde Rosen wachsen über die Kirche hin, über welche der Wanderer nun zu ihrem Turm hinschreitet, der über den Sand hervorragt, wie ein mächtiger Leichenstein, meilenweit sichtbar. Kein König hat ein prächtigeres Grab. Niemand stört die Ruhe des Toten. Niemand wußte, niemand weiß es bis jetzt. – Der Wind sang es mir in den Dünen.


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