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W.O. von Horn.
Eine Begebenheit aus den letzten Tagen der Franzosenherrschaft am Rheine

Als nach der Schlacht bei Hanau die Trümmer der Armee Napoleons sich bei Mainz über die Brücke drängten, konnte man Zeuge des Entsetzens sein, welches diese Menschen erfüllte. Jeder glaubte, die Kosaken seien ihm auf den Fersen, und erst jenseits des Rheines sei Sicherheit, man konnte Zeuge sein des bodenlosen Unwillens über Napoleons Flucht nach Paris, der seine Armee preisgegeben, um nur das eigene Leben zu retten. Da waren alle Pforten geöffnet, die des Herzens innerste Gedanken und Regungen bis jetzt hinter Schloß und Riegel gehalten, und in den gräßlichsten Verwünschungen machten sich die Herzen Luft, in denen der Haß gärte gegen den Würger, der rücksichtslos Hunderttausende seinem Ehrgeize und seiner Herrschsucht geopfert hatte.

Es währte bis tief in den Dezember des Jahres 1813 hinein, ehe die Rheinufer besetzt wurden. Und was war das für eine Besetzung? Kleine Abteilungen legte man in Städtchen und Dörfer, und diese wenigen Truppen bestanden aus allen Waffengattungen, bunt zusammengerafft und -gewürfelt, fast so viele Offiziere als Gemeine.

Auf ein Dorf der linken Rheinseite wurde in diesen Tagen eine Abteilung von hundert Soldaten gelegt. Das Dorf ist groß, wohlhabend, und Höfe und Mühlen gehören dazu, welche meist in einiger Entfernung von dem Dorfe liegen. Auf einem dieser Höfe wohnte eine sehr wackere, tüchtige Familie, deren Namen zu nennen ich Abstand nehmen muß, dessen Anfangsbuchstabe aber L. ist. Sie bestand aus vier Gliedern, den Eltern, welche noch ziemlich junge Leute waren, und zwei Kindern, einem Knaben und einem Mädchen, welche zwischen zwölf und fünfzehn Jahren standen. Wenn auch die Familie L. nicht zu den reichen gehörte und ihr Hofgut von allen umliegenden das kleinste war, so bekam sie dennoch, wie jeder Hof und jede Mühle, dieselbe Einquartierungslast, nämlich drei Mann. Diese waren ein Italiener, ein Wallone und ein Deutscher, und auch wie nach dem Vaterlande, so waren sie nach den Waffengattungen verschieden: Der Italiener war Chasseur à cheval, der Wallone Tirailleur und der Deutsche Sergeantmajor bei den Grenadieren. Das waren Erscheinungen, die keiner Seele auffielen, weil sie eben alltäglich waren.

Als die drei sich dem Hofe näherten, bemerkten die Hofleute, daß der Sergeantmajor den Arm in der Binde trug. Herr L. ging ihnen bis zur Tür entgegen, um sie zu begrüßen. Er war kein Franzosenfreund, nichts weniger sogar, aber er sagte zu seiner Frau: »Wenn ich mich in die Lage des Soldaten denke, der, weil ein ungebetener, ein unwillkommener Gast ist, wohin er kommt, so drängt's mich, ihm dies Bittere durch freundlichen Willkommen zu versüßen.«

Sie lächelte und nickte ihm Beifall zu.

Die Leute traten ein. Der Italiener war ungemein geschmeidig, der Wallone derb, der Deutsche ernst und gehalten, ließ auch fürs erste nicht merken, daß er Deutscher war. Er sprach das Französische wie das Deutsche, denn seine Heimat lag drunten, wo die Ebene Belgiens sich zu den Dünen der Nordsee neigt, und wo, wenigstens bei guten Familien, beide Sprachen gesprochen werden und oft noch die dritte dazu, die alte, flämische.

Man wies den Gästen die Quartiere an. Die beiden Gemeinen hatten ein Gemach zu gleicher Erde und der Sergeantmajor das gerade darüberliegende des ersten Geschosses.

Die Mittagszeit war nahe.

Herr L. fragte den Sergeantmajor, ob er mit der Familie zu Tische sitzen wolle oder allein? Die beiden Gemeinen aßen mit dem Gesinde.

Sehr artig nahm der junge Mann das Anerbieten an, in der Familie sein Mittagbrot einzunehmen, und begleitete Herrn L. sogleich in das Wohnzimmer, welches zugleich das Speisezimmer war, wie es am Rheine in guten, bürgerlichen Familien noch Sitte ist, wohin der Luxus der Gegenwart noch nicht gedrungen ist.

Kaum war das Tischgebet gesprochen, als der Sergeantmajor die Hand seines Wirtes ergriff und sagte:

»Ich habe mich nach diesem Augenblicke sehr gesehnt! Ich bin Deutscher, aber ich habe Gründe, die beiden Soldaten dies nicht merken zu lassen. Seien Sie so gütig, uns jederzeit der französischen Sprache bedienen zu lassen, wenn wir ihre Nähe wissen, während die Muttersprache uns erquicke, wenn wir allein oder im Kreise Ihrer Familie sind.«

Obgleich Herr L. nicht recht einsah, was er damit beabsichtigte, so gestand man es doch gern zu, und der junge Mann öffnete nun sein Herz rücksichtslos. Er war in der Schlacht bei Hanau durch einen Streifschuß am Arme verwundet worden, allein erst gestern, am vierten Tage nachher, wurde er auf dem Marsche verbunden, weil zufällig ein Chirurg nahe war. Sein Herz entlud sich des wildesten Hasses gegen Napoleon mit einer Schonungslosigkeit, die Herrn L. Bedenken machte, der an die Ohren dachte, welche selbst in das Heiligtum der Familie hineinhorchten.

Er hielt sich befugt, seinen jungen Gast zu warnen.

Dieser legte die gesunde Hand auf Herrn L.s Arm und sagte: »Sie waren nicht mit in Rußland wie ich, sonst würden Sie mit mir sagen, von diesem Falle sei kein Auferstehen; Sie würden mit mir sagen, wo die Liebe und die Bewunderung der Armee für ihren Helden und Führer so zerrüttet ist, wie wir es sehen und erkennen, da hört alle Herrlichkeit der Erfolge auf; Sie würden endlich sagen: wo, so wie hier, alle sittlichen Bande zerrissen sind, da löst sich alles in einzelne Teile auf, und dies Reich, das Reich der Lüge und der Gewalt, muß zerfallen! – Sie sollten hören und gehört haben, was man auf der Flucht dem Kaiser und den Marschällen in die Ohren schrie! Nein, nein«, sagte er, es ist alles vorüber. Der Herr hat das Gericht begonnen!«

Der junge Mann hob nun an, Szenen aus dem russischen Kriege zu erzählen, da man sie damals am Rheine nicht kennen konnte, weil ja nur die Presse das brachte, was sie bringen durfte. – Und dafür war der Maßstab: die »Bulletins der großen Armee«! –

Die Familie L. hörte mit Schaudern diese Schilderungen einfacher Wahrheit, wie sie sich den Augenzeugen dargeboten hatten. In solcher Weise bildete sich bald ein vertraulicher Verkehr mit dem jungen Sergeantmajor, der immer inniger wurde. Herr L. heilte seine Wunde in kurzer Zeit mit einfachen Hausmitteln, wie vertraulich sich aber auch dies Verhältnis gestaltete, so beobachtete dennoch immer der junge Vilmorin, wie der Sergeantmajor hieß, da sein Vater Belgier gewesen war, jene grundsätzliche, förmliche Haltung und als Verkehrsmittel die französische Sprache, sobald er die Nähe der beiden Soldaten merkte.

Nur mittags und abends bei Tische schloß er sein Herz auf, und da hörten denn die Glieder der Familie L., daß Vilmorins Eltern ein sehr blühendes Hüttenwerk besaßen und er der einzige Sohn war. Sein Vater war, seit er in Spanien und dann in Rußland diente, gestorben; die Mutter hatte Himmel und Erde bewegt, wie man zu sagen pflegt, aber an ein Loskommen des Sohnes war gar nicht zu denken. Blicke, welche er Herrn L. in diese Verhältnisse tun ließ, verrieten, daß das Werk unter Leitung der Mutter nicht sonderlich gedieh, ja vielleicht gar dem Verderben nahe war. –

Wochen waren so hingegangen, und die Familie L. hatte den guten Vilmorin liebgewonnen.

Eines Tages kam er zu Tische und sagte: »Lieber Herr L., um Neujahr geht es zu Ende. An ein Verteidigen des linken Rheinufers denkt niemand. Wir ziehen uns zurück, und wahrscheinlich in den Grenzen des alten Frankreich wird Napeolon sich zu wehren beginnen, nämlich da, wo er der Bevölkerung vertrauen kann. Hier am Rhein traut er nicht und tut, von seiner Seite betrachtet, wohl daran. Wie es geht, weiß Gott! Nur das will ich Ihnen sagen: Vergelten Deutsche und Russen, was die Franzosen ihnen zugefügt, dann kann hier kein Stein auf dem andern bleiben. Verstecken Sie vor den Kosaken, was Sie Wertvolles haben, wer weiß, was die Franzosen beim Abmarsch tun?« Das waren Worte, die nicht verlorengingen.

Im Hofhause war nämlich ein sogenanntes »heimliches Gemach«, wie man am Rhein ein solches Versteck nennt, den das Auge auf den ersten Blick nicht entdecken kann. Es war durch eine Doppelwand gebildet, und der Erbauer des Hauses, der schwere Lebenserfahrungen gemacht haben mochte, stellte diese Wände feuerfest her. Zu entdecken war es nicht, wenn nicht Verrat geübt wurde. Auf sein Gesinde konnte sich L. verlassen und zog es auch dadurch in das Interesse, daß er dessen Habe mit in dem Verstecke zu bergen beschloß. Nur die zwei Soldaten waren ein Stein des Anstoßes, da Vilmorin selbst vor ihnen warnte.

Gerade in den letzten Tagen des Dezembers 1813 waren die Wälder des linken Rheinufers so überfüllt mit Deserteuren der französischen Armee, daß sie des Nachts zu zwanzigen und dreißigen in die Dörfer kamen und Brot und Lebensmittel entweder kauften, wenn sie Geld hatten, oder bettelten. Es waren Deutsche aus den Rheinbundstaaten und Belgier und Holländer zumeist, wohl auch Franzosen. Man sprach laut von diesen Deserteuren, und niemand dachte daran, auf sie Jagd zu machen. Am Morgen des ersten Weihnachtstages fehlten, zu L.s nicht geringem Schrecken, die beiden Soldaten. Ihr Fenster war offen, und sie hatten alles mitgenommen, was sie besaßen. Voller Angst weckte er Vilmorin, der noch schlief. »Ha, sie sind desertiert!« rief er lachend. »Mögen sie glücklich ihre Heimat erreichen!«

»Aber ich bitte Sie, was soll das werden?« fragte L. in äußerster Besorgnis. Wird man mich nicht verantwortlich dafür machen?« – »Pah!« rief Vilmorin. »Es kräht kein Hahn nach ihnen. Zeigen Sie es nur an, wie ich es auch tun werde. Nun können Sie ohne Angst alles verstecken, und ich werde Ihnen redlich helfen.«

Des jungen Mannes Ruhe gab L. die verlorene zurück, die Anzeige wurde von beiden in dem Dorfe bei dem Kommandanten, einem Husarenoffizier ohne Roß, gemacht, und alles blieb ruhig, zumal da auch aus dem Dorfe fünf Soldaten desertiert waren, die ohne Zweifel mit den beiden im Bunde standen.

Kaum waren L. und Vilmorin auf dem Hofe wieder angelangt, als sie den Eingang des Verstecks wegräumten und zu verstecken begannen. Vilmorin kroch hinein und sagte:

»Da könnte man ja wochenlang weilen!«

Nach mühsamer Arbeit war alles vollendet.

Vilmorin aber war, seit die Soldaten weg waren, still und nachdenklich geworden.

Die Anzeichen, daß die Deutschen in der Neujahrsnacht über den Rhein gehen würden, mehrten sich.

Selbst die Proklamation Blüchers fand ihren Weg über den Rhein herüber und brachte Freude und Beruhigung. Die Franzosen schickten sich zum Abzuge an. Am dreißigsten, morgens, erhielt Vilmorin Befehl, sich abends 10 Uhr im Dorfe einzufinden.

.

Er trat mit dem Blatte in die Stube L.s und legte es in seine Hand. Der las es und sagte: »Also das ist das Ende vom Liede?« –

Vilmorin sprang auf und faßte L.s Hände und rief mit einer Träne im Auge: »Teurer Mann, retten Sie mich, einer alten Mutter einzige Stütze! Ich fühle es, wenn ich mit den Franzosen ziehe, so ist es mein Tod und der meiner guten Mutter!« –

L. erschrak. »Um Gottes willen, was muten Sie mir zu?« sagte er mit zitternder Stimme, deren Ausdruck aber verriet, wie gern er die Bitte erfüllen möchte. »Welche schrecklichen Folgen könnte es für mich haben?«

»Hat die Desertion der beiden Soldaten Folgen für sie gehabt?« fragte der junge Mann. Er schilderte nun die Lage seiner Mutter, die Gefahren, denen er entgegengehe, und immer stürmischer wurden seine Bitten. Er wies auf das heimliche Versteck hin, wo er tagelang weilen könne, bis alle Gefahr vorüber sein würde.

Lange widerstand L., aber sein Herz stand im Kampfe mit seinem Verstande, und – Vilmorin siegte. Er wurde mit dem sinkenden Abend unbemerkt vom Gesinde, das man entfernt hatte, in das Versteck gebracht mit allem, was er hatte, und mit Lebensmitteln versehen. Dann schloß sich die Öffnung über ihm, und keine Spur ließ sich von ihm entdecken.

Obgleich L. in sich eine gewisse Befriedigung fühlte, so verhehlte er sich dennoch nicht, daß er ein Unrecht begangen, und das Herz pochte heftiger. Die Nacht kam. Man legte sich vor zehn Uhr zu Bette.

Alles blieb ruhig, und eben wollte sich schon der Schlaf selbst auf die Augen L.'s senken, als ihn Pferdegetrappel und wilde Stimmen weckten. Schnell kleidete er sich an, zündete Licht an und eilte, den ungestüm Pochenden zu öffnen.

Es waren französische Reiter und an ihrer Spitze der Kommandant des Dorfes, sie hatten sich mit Bauernpferden beritten gemacht.

»Wo ist der Sergeantmajor Vilmorin?« rief mit drohender Gebärde der Husarenoffizier.

»Er hat um halb zehn Uhr Abschied von uns genommen«, sagte, allerdings etwas stockend, L. zu dem Offiziere, der ihn scharf ansah und seine Angst bemerkte.

»Aha!« rief er aus. »Ihr habt den beiden Soldaten durchgeholfen und jetzt Vilmorin versteckt, wir werden ihn finden! Allons!« rief er den ihn begleitenden Leuten zu, »laßt uns das Haus durchsuchen!«

Dies geschah mit wildem Ungestüm, aber dennoch mit der Schärfe der Aufmerksamkeit, die es verriet, daß diese Leute mit Entdecken versteckter Güter eine Gewandtheit besaßen, welche oft genug mochte zum Ziele geführt haben. Hier entdeckten sie nichts. Dennoch verschwanden Dinge, welche noch außerhalb des Versteckes waren, in den Taschen der nach Vilmorin Suchenden.

Als endlich das Haus vom Keller bis zur Giebelspitze untersucht war und nirgends eine Spur des Verschwundenen sich fand, ließ der Husarenoffizier L. binden, setzte ihn hinter einen seiner Reiter, und fort ging's im Galopp. Alles Flehen, Bitten, alle Tränen, alles Jammern der armen Frau und ihrer Kinder blieben wirkungslos.

Sie ließ schnell den Knecht anspannen, um nachzufahren und bei einem höheren Offizier die Freilassung ihres Gatten zu bewirken; aber als sie das Dorf erreichte, waren sie fort. Sie fuhr noch bis zur nächsten Stadt, allein sie mußte trostlos zu ihren Kindern zurückkehren, und nur im Gebete fand sie Trost. Keine Spur ihres Gatten war zu entdecken.

Die Lage des armen Weibes war wirklich entsetzlich. Sie hatte niemand, an den sie sich wenden, von dem sie Hilfe und Rettung ihres Gatten erwarten konnte, nur der eine treue Freund bedrängter Seelen blieb der Armen, und zu dem nahm sie ihre einzige Zuflucht.

An Vilmorin dachte sie in den ersten Tagen nicht. Er war wohlversorgt, aber er hatte das Lärmen der Suchenden wohl vernommen; dann den Jammer; dann wieder die Stille! Seine Einbildungskraft reihte entsetzliche Bilder aneinander in seiner Einsamkeit und Dunkelheit. Endlich ertrug er's nicht länger. Er klopfte immer heftiger, bis endlich der Schrank, der die Öffnung verdeckte, weggerückt und die verborgene Tür geöffnet wurde. Was er zuerst erblickte, war das bleiche, kummervolle Antlitz der einst so blühenden Frau. Und wenige Tage hatten diese Änderung hervorgebracht! Seinen dringenden Fragen folgte die erschütternde Erzählung des Hergangs.

Vilmorin sank in einen Stuhl und bedeckte seine Augen mit seinen Händen. Er war keines Wortes mächtig.

Endlich erhob er sich. In ihm hatte sich ein Plan gebildet. Er wollte, er mußte der Gattin den Gatten, den Kindern den Vater wieder zuführen, koste es auch Freiheit und Leben.

»Geben sie mir Kleider von Ihrem Gatten!« bat er dringend. »Er ist von meiner Größe und Gestalt. Ich eile ihm nach und bringe ihn zurück!«

Schon nach einer Stunde war er fort. Die Deutschen waren bereits Herren des Landes. Niemand achtete auf ihn. So kam er bis Zweibrücken, wohin die Truppen ihre Richtung genommen, zu denen er gehört hatte.

Nirgends aber wollte es ihm glücken, eine Spur von L. zu entdecken. Erst in Hornbach bei Zweibrücken fand er die erste dunkle Nachricht. Man sagte ihm, daß ein zusammengewürfeltes Detachement einen Gefangenen mit sich geführt habe.

In Zweibrücken machte er bei dem Kommandanten der Verbündeten seine Anzeige. Dieser stellte Nachforschungen an, und es ergab sich, daß L. hier den Franzosen glücklich entsprungen war. Die Nachrichten waren sicher. Vilmorin kehrte zurück, und in der Stadt, welche dem Hofe L.s auf anderthalb Stunden nahe lag, vernahm er, daß L. glücklich bei den Seinen angelangt war. Er schrieb an seine Retter einen Brief voll Dankes und sagte ihnen, die Sehnsucht treibe ihn nun zu der Mutter, die ihn vielleicht als tot beweine.

L. hatte viel leiden müssen auf seinem Zuge. Mehrmals wollte man ihn erschießen, aber dann wußte es doch der Husarenoffizier wieder zu hintertreiben, der ihn gefangengenommen hatte. Er war es, der ihm, vielleicht seine rasche Tat bereuend, in Zweibrücken Gelegenheit gab, zu entfliehen. Von nun an störte nichts mehr die Ruhe der Familie. Die Durchzüge der Verbündeten berührten sie nur in geringem Maße, und bald kehrte der geordnete Zustand des Landes zurück; aber leider wollten L.s Geschäfte nicht glücken. Unglücksfälle mancher Art suchten ihn heim, und nach sechs Jahren war er auf den Hefen. Seine Gläubiger erkannten indessen, daß, wenn sie ihn als Pächter auf seinem Hofe ließen, sie weniger verlieren, als wenn sie eine Versteigerung des Hofes einleiteten. Sie kamen daher auf dem Hofe zusammen und einigten sich, und L. blieb als Pächter auf seinem Eigentum. Kummer und Sorge lag auf dem Herzen; denn es war nicht L.s Schuld, daß es so gekommen war. Mit Schulden hatte er den Hof übernommen, und Unglücksfälle drückten ihn in den Staub.

Je weniger er eine Rettung aus dieser Lage sah, desto düsterer und unglücklicher wurde er.

Von Vilmorin hatten sie nichts mehr gehört.

»Es ist so der Gang der Welt«, sagte oft L. zu seiner Frau, wenn sie von ihm sprachen, »daß man die vergißt, die einem wohlgetan!« –

Indessen taten sie mit diesem Urteile dem jungen Manne unrecht. Er kam heim und fand seine Mutter gefährlich krank, und der Kummer um ihn war der Grund ihres Leidens. Erst nach langer Zeit erholte sie sich wieder. Das Hüttenwerk war in heillosem Verfall. Ein treuloser Faktor verwaltete es und sorgte für sich, nicht aber für die, deren Geschäfte er zu betreiben sich verpflichtet hatte. Er wurde reich, die Witwe arm, und sein Streben ging offenbar darauf hinaus, das Werk, wenn, wie er hoffte, der Sohn nicht mehr zurückkehren würde, an sich zu bringen.

Mit Schrecken nahm er daher die Rückkehr dieses gefürchteten Sohnes wahr, und eines schönen Morgens war er mit der Kasse verschwunden. Vilmorin sah mit Entsetzen die Verwirrung in den Geschäften, die Verluste, die ihm der Treulose zugefügt. Er stand am Rande des Bankrotts. Der Mutter durfte er die Sachlage nicht entdecken; sie war kaum aus der größten Lebensgefahr.

In Lüttich lebte ein Freund seines seligen Vaters, ein reicher Mann; zu diesem eilte er, legte ihm die Bücher vor und bat um Hilfe. Der wackere Mann prüfte die Bücher und reiste dann mit Vilmorin auf das Hüttenwerk, sah alles genau an, fand die Pläne des jungen Mannes gut und schoß das Geld, welches Vilmorin rettete, vor; aber nun mußte er sich mit ganzer Kraft in die Geschäfte werfen. Er tat's und sah seinen Fleiß, seine Tätigkeit mit Erfolg belohnt. Es war ihm ein wahres Freudenfest, als er dem wackeren Manne die erste Rückzahlung machen konnte. Damals lernte er erst dessen Familie kennen, die in jenem Sommer, wo er seine Zuflucht zu ihm genommen, auf dem Lande bei Chaudfontein lebte. Die jüngste Tochter gewann sein Herz, und nach einem Jahre führte er sie heim. Das geliehene Kapital war ihre Morgengabe. Jetzt war er gerettet und zugleich ein glücklicher Gatte.

Wohl dachte er vieltausendmal seiner Retter; allein in der ersten Zeit, wo das Leid an der Mutter Krankheit und des Geschäftes Ruin auf ihm lag, kam er nicht zum Schreiben, und – es ist ja eine Erfahrung, die sich hundertmal wiederholt, daß das einmalige Aufschieben vielmaliges im Gefolge hat. Jahre gingen hin. Einst saß er bei seiner Mutter und seiner Gattin und erzählte jene Begebenheit aus seinem Leben.

Da fragte ihn die junge Frau, ob er denn auch seiner Retter eingedenk, mit ihnen in Verbindung geblieben sei?

Er mußte sein Unrecht bekennen, und mit Recht überhäuften ihn beide Frauen mit Vorwürfen. Von da an stand es in seiner Seele fest, daß er selbst zu ihnen reisen würde, und als die schönen Herbsttage kamen, trat er mit seiner liebenswürdigen Frau die Reise an.

In der Stadt, nahe dem Hofe, kamen sie abends spät an. In Vilmorins Herzen war die lebhafteste Unruhe. Er rastete nicht, bis er von dem Wirte selbst Nachricht erlangen konnte. Dieser war selbst einer der Gläubiger L.s, ein rechtlicher Mann, der ihn stets bemitleidet hatte.

Er erzählte Vilmorin die Lage des unglücklichen Mannes. Auf beide Ehegatten machte diese Erzählung einen tiefen Eindruck.

»Wäre denn dem Manne nicht zu helfen?« fragte die junge, mitleidsvolle Frau ihren Gatten. »Er hat dir Leben und Glück gerettet, er hat für dich gelitten und geduldet. Lieber Vilmorin«, rief sie weinend aus, »laß uns ein Opfer bringen, um die Familie zu retten! Gott lohnet es uns gewiß!«

Vilmorin drückte das edle Weib an seine Brust und schwieg; aber seine Seele arbeitete viel, und am Morgen ließ er den Wirt wieder rufen und hatte eine lange Unterredung mit ihm. Die übrigen Gläubiger wohnten alle in der Stadt. Vilmorin hielt mehrere Besprechungen mit ihnen, dann gingen sie zu dem Notar und erst spät abends kehrte er mit leuchtenden Augen zu seiner ungeduldig harrenden Gattin zurück.

»Nun ist L.s Schuld auf mich übertragen«, sagte Vilmorin.

»Und du?« fragte das schöne Weib, nicht ohne tiefe Bewegung.

»Ich tue nichts«, sagte er. »Du sollst handeln, Eugenie!« Er legte eine Urkunde auf ihren Schoß.

»Oh, ich weiß schon!« rief sie mit Tränen der Freude im Blicke; »ich soll ihm die Urkunde schenken? Nicht so?« –

»Handle, wie dich dein Herz lehrt«, sagte Vilmorin bewegt.

Am andern Morgen fuhren sie auf den Hof.

Wie war es da anders geworden! Ärmlich war alles, aber reinlich und nett. Frau L., in einem einfachen Kleide, stand arbeitend im Garten, als die Fremden eintraten. Sie erkannte Vilmorin nicht. Ihr Gatte war mit seinem Sohne auf dem Felde beschäftigt.

Frau L. führte die Fremden in das Haus, wo ihre Tochter, ein blühend schönes Mädchen, ebenso einfach und ärmlich gekleidet wie die Mutter, sie empfing.

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Vilmorin hatte sich lange gehalten, aber als er in die Stube trat, war er seiner nicht mehr mächtig. Er faßte Frau L.s Hände und rief aus: »Kennen sie denn Vilmorin nicht mehr, den sie einst mit so schweren Opfern retteten?« –

Frau L. sah ihn lange an. Als sie aber die Tränen in seinen Augen sah, rang sich ein Schrei aus ihrer Brust.

»Also doch nicht vergessen!« rief sie aus.

»O mein Gott, wie fällt dies Wort auf mein Herz!« rief Vilmorin aus. »Ja, sie mußten mich für einen Undankbaren halten. Ich verschuldete es!«

Da fiel Vilmorins Gattin ihr um den Hals und sagte weinend: »Er hat Schweres erduldet, vergeben sie ihm! Vergessen hat er sie nie.«

Es war eine ergreifende Szene, die drei Personen in innigster Rührung zu sehen.

In diesem Augenblick ging die Tür auf.

L. stand in der Tür, im Gewande der Bauern dieser Gegend. Er sah Vilmorin an und rief, die Arme ausbreitend: »Lieber Vilmorin!«

Und die Männer lagen Brust an Brust.

Drei Tage blieben Vilmorin und seine treffliche Gattin auf dem Hofe, und es waren Tage einer seligen Freude.

Wie viel hatten sie sich zu erzählen!

Erst als sie schieden, legte Frau Vilmorin die Schenkungsurkunde in die Hände der Frau L., die nicht begriff, was das sein sollte. Als sie aber heimkehrten von der Begleitung der teuren Freunde und L. das Papier entfaltete und las, da faltete er seine Hände und saß da wie ein Steinbild.

Was ist's denn? fragte angstvoll seine Gattin.

»Der Hof ist unser Eigentum wieder!« sagte mit wankender Stimme der Gatte. »Der edle Vilmorin hat alle Schulden befriedigt und dir die Schenkungsurkunde gegeben!«

Da kehrte eine Freude ein im Kreise der Familie, wie sie seit langen Jahren nicht eingekehrt war, und tausend Segnungen folgten den Geschiedenen.

L. blieb in seinen bescheidenen Verhältnissen, aber sein Wohlstand blühte immer frischer auf. Seine Tochter heiratete einen Gutsbesitzer aus der Nähe, sein Sohn blieb auf dem Hofe, und ein frohes Alter war der Eltern Erbe.


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