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Sechstes Kapitel

Das Frühstück indes begegnete an diesem Morgen keinem großen Appetit und war rasch erledigt. Es kam mir ganz unglaublich vor, daß so viele außerordentliche Ereignisse in verhältnismäßig wenig, allerhöchstens zwölf Stunden, vorgefallen sein sollten, Ereignisse noch dazu, die ans Uebernatürliche zu grenzen schienen, wenn ich aufrichtig sein wollte, so konnte ich Mimms keinen Vorwurf daraus machen, daß er sich zum Trunk geflüchtet hatte; ich selber hatte nicht übel Stuft dazu, was für einen Vers konnte sich ein Mann in nüchternem Zustande aus einer so unverständlichen Geschichte machen? Zweifellos war, ohne daß der Zufall eingegriffen hätte, gerade das eingetroffen, was die Gräfin so sehr befürchtet hatte. Jetzt war sie endlich doch ihren Feinden in die Hände gefallen. Die Beweggründe dazu mußten mächtige gewesen sein, verächtlich waren Kleinigkeiten wie Juwelenschränkchen und Goldsachen liegen gelassen worden. Der Gegenstand, dem die Plünderung gegolten hatte, war in aller Klarheit das versiegelte Schriftstück, das jetzt bei meinem Bankier lag, und die arme alte Dame wurde nun zweifellos als Geisel für seine Auslieferung gefangen gehalten.

All dies war mir jetzt völlig klar. Es war die einzige logische Schlußfolgerung aus einer Reihe von Ereignissen, die unwiderleglich alle nach einer einzigen Richtung deuteten. Aber wie war es ihren Feinden gelungen, auf diese weise zu triumphieren? Annas Entdeckung einer wertvollen Busennadel wies unzweifelhaft darauf hin, daß ein Mann, der kein gewöhnlicher Verbrecher sein konnte, dieses Zimmer betreten hatte. Aber durch welche übernatürlichen Kräfte kam er hier herein? Und auf welche weise entkam er mit seiner Beute? Das brachte meine Ueberlegungen zu einem toten Punkte, und ich bin überzeugt, daß in diesem Augenblick zwischen Mimms und mir eine telepathische Verbindung bestand.

»Hol's der Denker!« rief ich schließlich aus, »die Geschichte muß sich selber weiter entwickeln. Ich muß meinen eigenen Geschäften nachgehen!« Ich sah auf meiner kleinen Merktafel im Vorplatze nach und fand, daß ich gerade um diese Zeit einen Besuch bei einer Pfarrersfrau zu erledigen hatte. So kam es, daß ich wieder zum Erdenleben und seinen Anforderungen zurückkehrte.

Dieser Besuch war bald erledigt, und mit dem Schlag elf betrat ich wieder mein Sprechzimmer. Das Wartezimmer war schon mit Patienten angefüllt. Auch der Polizeibeamte Jarvis, der die Nacht zuvor am Pontifex Square den Dienst versehen hatte, war darunter und grüßte militärisch, als ich mich zum Allerheiligsten hindurchdrängen wollte.

So, Sie sind da, Jarvis? sagte ich. Freut mich. Nun?

Ich hab' also ein Auge auf Nummer 19 gehabt, Herr Doktor, wie Sie mir gesagt hatten; aber ich habe nichts Auffälliges bemerkt. Um drei Uhr fuhr ein Zweispänner vor. Es war um diese Zeit ein wenig nebelig, und ich schlenderte langsam vorüber, um nicht zu weit von meinem Platz weg zu sein. Da fuhr der Wagen zurück, und der Kutscher ruft: »Mo bin ich denn hier?« und ich sage: Pontifex Square. »Nie davon gehört,« sagt' er, »Alifax Terrace möcht' ich fahren.« Zweite Querstraße rechts, sage ich, und fort war er.

Meine ureigenste Ansicht über Jarvis' geistige Fähigkeiten in diesem Augenblicke teile ich lieber nicht mit.

Dank' schön, Jarvis, sagte ich. Sie sehen, es warten eine Menge Patienten auf mich. Guten Morgen!

Ich war nicht wenig ärgerlich über den Menschen, als er mit einigermaßen verdutzter Miene grüßte und kehrt machte. Aber schon im nächsten Augenblick sagte mir meine Ueberlegung, daß ich die fünf Schilling trotz allem nicht verschwendet hatte. Denn ohne diese kleine Ausgabe würde ich ja nie etwas von dem Zweispänner erfahren haben, der zweifellos die unglückselige Gräfin entführt hatte. Zwar trug dieser Umstand noch dazu bei, die Nebel des Geheimnisses zu verdichten, gleichzeitig fiel aber auch ein schwacher Lichtstrahl auf die Angelegenheit. Und so sagte ich mir, daß ich nur dankbar für die Information sein müsse.

Ich hatte zwei Stunden lang angestrengt in meinem Sprechzimmer zu tun und konnte während dieser Zeit der brennenden Frage keinen Gedanken schenken, hierauf folgte ein Rundgang bei meinen Patienten. Endlich fand ich Zeit, mich zu meinem Bankier zu verfügen. Dort vergewisserte ich mich, daß das geheimnisvolle Paket ordnungsmäßig ausgeliefert und sofort im Sicherheitsschrank verwahrt worden war. Ich erhielt eine darauf bezügliche schriftliche Empfangsbescheinigung und fragte mich, wie in aller Welt das Ende dieses erstaunlichen Geschäftes sich gestalten würde.

Ich hatte bereits die Bank verlassen, als mich plötzlich ein Einfall veranlaßte, wieder umzukehren, und so betrat ich von neuem das Privatkontor des Direktors.

Ich möchte Sie bitten, Herr Direktor, sich zu notieren, daß die Papiere, die ich Ihnen zum Aufbewahren übergeben habe, niemandem als mir persönlich ausgeliefert werden dürfen – oder im Falle meines Todes meinen gesetzlichen Erben, die sich zudem in aller Form als solche ausweisen müssen. – Und als er mich, wie mir schien, mit einiger Ueberraschung anschaute, fügte ich lächelnd bei: Nur eine Sicherheitsmaßregel, Herr Direktor, für den Fall, daß Ihre Quittung verloren ginge oder gestohlen würde.

O ja, ganz recht, ich verstehe, sagte er. Ich werde mir sogleich eine diesbezügliche Notiz machen.

Ich drückte ihm meinen Dank aus und verließ zum zweiten Male das Haus. Dann eilte ich in meine Wohnung zum Mittagessen. Auf dem Vorplatz traf ich meinen Diener.

Niemand dagewesen, Billy? fragte ich.

Doch, Herr Doktor, vor zwei Stunden etwa, ein Ausländer, wenn ich mich nicht irre.

So? Hat er seine Karte dagelassen?

Nein. Er hat gesagt, er komme später wieder vorbei.

Wie sah er denn aus?

Das kann ich nicht genau sagen, Herr Doktor. Ein bärtiges Gesicht, grau, nicht weiß, ein freundlicher Herr.

Wie war er gekleidet?

Er trug einen Ueberrock, der mit Pelz gefüttert war und –

Das genügt, erwiderte ich. Ich denke, ich kenne den Herrn. Und was hat er dir gegeben?

Einen Schilling, Herr Doktor, antwortete Billy und wurde ganz rot dabei.

Und wie lang hat er gewartet?

Etwa eine halbe Stunde. Ich sagte ihm, es nütze nichts, auf Sie zu warten, weil Sie Sprechstunde hätten. Aber er meinte: »Ich möchte doch warten, ob er nicht kommt. Ich habe keine besondere Eile. wenn Sie mir gestatten, irgendwo Platz zu nehmen …«

So? Und dann?

Dann wies ich ihn natürlich ins Studierzimmer.

Und du hast ihn dort eine halbe Stunde allein gelassen?

Jawohl, Herr Doktor. Als er kam, war ich gerade in der Küche beim Messerputzen; daher ging ich wieder an meine Arbeit.

Wo war Frau Jones während dieser Zeit?

In der Küche draußen mit mir, Herr Doktor.

Somit war dieser Herr eine ganze halbe Stunde allein in der Wohnung?

Jawohl, Herr Doktor. Dann kommt er 'raus auf den Vorplatz und läutet und sagt: »Teilen Sie Herrn Doktor Perigord mit, daß ich nicht länger warten konnte und später wieder vorsprechen werde.«

In meinem innersten Herzen verwünschte ich den Burschen von Kopf bis zu Fuß. Aber, à quoi bon? Der Fehler war nicht wieder gutzumachen. Dieser Mann kannte meine Gewohnheiten und hatte sich diese Kenntnis zunutze gemacht, um meine Zimmer in aller Behaglichkeit zu durchstöbern. Gott sei dank war nichts darin für ihn zu finden, und ich war felsenfest überzeugt davon, daß er nicht zurückkehren würde. Trotzdem war die Geschichte sehr beunruhigend.

Daher entließ ich den Diener barsch, betrat das Eßzimmer und klingelte nach meinem Essen.

Auch die zweite Mahlzeit an diesem Tage war rasch erledigt. Ich war zu aufgeregt, um viel essen zu können, und binnen kurzem war ich wieder auf dem Weg zum Pontifex Square. Am Tor des Hauses Nummer 19 begegnete ich Mimms.

Der ehrenwerte Maurer war, um es schonend zu sagen, ein wenig angeheitert. Aus seiner inneren Rocktasche schaute der Hals einer Flasche verräterisch heraus.

Wie steht's, Herr Doktor? fragte er. «Kommen Sie mit hinein. Ich muß Ihnen 'was erzählen.

Ich murmelte nur ein »So?« und folgte ihm ins Haus. Als er die Haustür zugemacht hatte, fügte ich hinzu: So jetzt, was gibt's, Herr Mimms?

Ein Zweispänner is es gewesen, in dem die Gräfin fortgeführt wurde, Herr Doktor, sagte er.

Stimmt, Herr Mimms, erwiderte ich. Ich weiß das alles schon. Aber wie groß ist das Schlüsselloch in Ihrer Tür da? Erklären Sie mir, wie sie in diesen Zweispänner gelangt ist. Sie haben mir doch gesagt, daß Sie die Tür da heute morgen oben und unten verriegelt vorfanden?

Gewiß, Herr Doktor. Ganz richtig, Herr Doktor. Was Sie sagen wollen, is: wie kann eine Dame durch ein Schlüsselloch hinaus? Ich verstehe schon, Herr Doktor. Ja, wie hat sie das fertiggebracht? Hexerei sage ich, und das sagen auch Sie natürlich. Aber ich habe 'was von einem Zweispänner gehört.

Und ich auch, sagte ich. Erinnern Sie sich an den Wachtposten, mit dem ich letzte Nacht gesprochen habe?

Natürlich. Sie haben ihm ein Silberstück in die Hand gedrückt. Potz Kuckuck! Ich denk' schon dran, Herr Doktor!

Gut also. Er hat heut bei mir vorgesprochen und mir mitgeteilt, daß ein Wagen etwas nach drei Uhr hier vorgefahren und wieder davon sei. Weiß der Himmel, wie es zuging, aber sicherlich saß die Gräfin in diesem Wagen.

Ganz richtig, Herr Doktor. Es war die Gräfin, oder doch wenigstens ein Frauenzimmer. Ein Freund von mir, der bei der Eisenbahn angestellt is und um halb vier zur Arbeit muß und ganz oben am Square im letzten Haus wohnt – nun, der kommt heute morgen heraus und sieht, wie zwei Männer ein Frauenzimmer in den Wagen tragen und plötzlich auf und davon fahren, wie sie ihn erblicken. Er glaubt, es sei vor 19 gewesen. Aber, wie Sie sagen, Herr Doktor, Sie könnten noch nich 'mal Ihren kleinen Finger durch das Schlüsselloch zwängen – wieviel weniger eine Gräfin, und drum sag' ich's noch einmal: Hexerei, sag' ich.

In diesem Augenblick wurde oben eine Stimme laut, die ich sofort als der Frau Mimms gehörend erkannte.

Sind Sie's, Herr Doktor Perigord?

Jawohl, erwiderte ich.

Und du, Wilhelm?

Natürlich bin ich's, Mathilde.

Gut, dann kommen Sie herauf. Ich bin schon fürchterlich aufgeregt, ich kann's beinahe nich mehr aushalten. Hast du einen Tropfen mitgebracht, Wilhelm?

Keine Angst, versetzte er liebevoll.

Zusammen stiegen wir die Treppe hinan und betraten das kleine Wohnzimmer der Gräfin. Dort fanden wir Frau Mimms und Anna vor, die augenscheinlich sehr angestrengt damit beschäftigt gewesen waren, das Eigentum der verschwundenen Gräfin in Einsicht auf die von mir angeregte Inventaraufnahme zu ordnen.

Ich bin mit dem Zeug beinahe im reinen, Herr Doktor, wandte sie sich an mich, Hier Kleider, da Wäsche und – o Wilhelm! gib mir einen Tropfen, ich bin so nervös und aufgeregt, Horch! Hast du's gehört?

Wir hörten beide eine Katze im Zimmer kläglich miauen.

So geht's nun schon eine halbe Stunde fort, erklärte Frau Mimms; ich falle noch in Krämpfe, denn ich weiß, es is die Katze von der Gräfin, und doch kann man nirgends was von ihr sehen.

Still einen Augenblick! sagte Mimms. Nicht reden!

Das Miauen wiederholte sich. Die Töne schienen aus unheimlicher Nähe zu kommen.

Na, meinte Mimms und riß die Tür am Vertikow auf, da drin steckt sie! Nein! Da is sie nich drin. Aber jetzt miaut sie doch schon wieder! Beim Henker, ich will – was bedeutet denn das?

Er zog den Vertikow von der Wand weg ins Zimmer und schaute dahinter. Da sprang eine Katze mit glühenden Augen und gesträubtem Fell ins Zimmer.

Na, da soll doch gleich – soviel is sicher! rief Mimms aus.


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