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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Jetzt hatte sich mit einem Schlage das Feld meiner Tätigkeit beträchtlich erweitert. Von Lambeth nach Rom war es ein weiter Weg. Ich hatte indes seit Jahren den leidenschaftlichen Wunsch gehegt, den Schauplatz meiner Kindheit wiederzusehen. Die Ereignisse der letzten Zeit hatten diesen Wunsch noch verstärkt. Seiner Erfüllung stand jetzt keine Schwierigkeit mehr im Wege, und ich konnte gleichzeitig das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden.

Aber konnte ich auch der Mitteilung Glauben schenken, die mir auf so geheimnisvolle weise überbracht worden war? Kam sie wirklich von dem Weibe, dem ich die zehn Pfund bezahlt hatte, oder war es ein Schachzug von Seiten meines Feindes, um mich von neuem matt zu setzen? Besaß der Erbgraf wirklich den Mut, ein so gewagtes Experiment anzustellen, das eine lange See- und Landreise in sich schloß, der doch sicherlich die alte Gräfin einen entschlossenen widerstand entgegengesetzt haben würde? Offen gestanden, kam mir dieser Gedanke unglaublich vor. Außerdem stand dem auch ihr Mangel an Kleidern, von dem sie in ihrem Brief gesprochen hatte, im Wege. In jeder Beziehung klang es unglaublich. Aber trotzdem war die bloße Möglichkeit, sie aus dem Palaste zu befreien, worin sie früher gewohnt hatte und wo sie nun vielleicht eingekerkert war, sehr verführerisch für mich, und so beschloß ich doch, mich so bald wie irgend möglich nach Rom zu begeben.

Dann erst ließ ich meine Gedanken befriedigt, wenn auch einigermaßen verlegen zu den Ereignissen des Abends zurückschweifen. Auf welches Ziel steuerten diese Ereignisse so stürmisch zu? Ich versuchte, mir das ganz kühl auszudenken, war ich – so fragte ich mich – ungehörig kühn, oder war die Gräfin erstaunlich entgegenkommend gewesen? Sie hatte mir gestattet, ja, mich dazu ermutigt, sie bei ihrem Vornamen zu nennen. So viel war gewiß. Daß zwischen uns beiden sympathische Gefühle bestanden, war so sicher, als daß jetzt ein Feuer in meinem Kamin brannte, und an meiner eigenen sinnlosen Leidenschaft für das Weib war nicht der leiseste Zweifel möglich. Aber es war auch die tollste Anmaßung, ja, eine beispiellose Kühnheit von mir, einem bescheidenen Vorstadtarzte, der verhältnismäßig wenig zu erwarten hatte, auch nur daran zu denken, zu solch schwindeligen Höhen des Glückes den Blick zu erheben.

Außerdem war der Gedanke, daß ein Mann eine Frau wegen ihres Geldes heiratet, von jeher empörend für mich gewesen, und da unter gewissen Umständen ein solcher Beweggrund mir in die Schuhe geschoben werden könnte, hegte ich nur den heißen, wenn auch sehr egoistischen Wunsch, die Gräfin möchte ihr gesamtes Vermögen in irgend eine Chicagoer Weizenspekulation oder eine ähnliche Unternehmung stecken und es dabei verlieren. Das würde die Verhältnisse ebnen, und das übrige würde sich dann finden.

Schließlich gab ich meine Betrachtungen auf. »Was nützt es denn?« sagte ich mir. »Ich weiß nur, daß ich dieses Weib glühend verehre, daß sie mir gegenüber nicht ganz gleichgültig ist, und daß die Dinge sich in Eile entwickeln. Sie müssen sich aber auch entwickeln, und ich muß mich auf mein gutes Glück verlassen. Die ganze Angelegenheit ruht jetzt noch in des Schicksals Schoße, wenn es mir freundlich gesinnt ist, wird sich alles zum Guten wenden. Und nun muß ich, wie ich denke, dem ehrenwerten Herrn Simpkins in Balham den versprochenen Scheck überweisen.«

Ich füllte das Formular aus, trug es zur Post, speiste zu Abend und verbrachte den Rest des Abends mit meinem Amtsnachfolger Dr. Perkins.

*

Ich beschloß – den Grund dafür weiß ich nicht –, von meiner bevorstehenden Reise nach Rom niemand Mitteilung zu machen. Daher verlief der folgende Tag recht friedlich; am übernächsten sollte das Begräbnis meiner Mutter stattfinden. Ich fuhr daher in der Frühe nach Tunbridge Wells hinaus, wo mich meine Tante, wiederum ihrem früheren Benehmen getreu, mit eisigem Schweigen empfing. Ihre Gesichtszüge verrieten Erschöpfung; sie sah alt und grau und krank aus. Keine der Schwestern besaß in der Stadt nähere Bekannte. Sie hatten beide ein seltsam abgeschlossenes und einsames Leben geführt, über das ich mich stets gewundert hatte. Daher war das Begräbnis außerordentlich einfach. Ich saß allein in dem einzigen Trauerwagen – der Regen fiel in Strömen – und nie habe ich einer ernsteren und niederdrückenderen Feier beiwohnen müssen. Der Pfarrer indes, in seinem durchnäßten Amtsgewand, erledigte die Zeremonien am Grabe in aller Eile, und bevor mir die grausame Tatsache recht zum Bewußtsein kam, war sie schon vorüber, und ich fuhr wieder zum Hause meiner Tante zurück.

Bei meiner Rückkehr erwartete mich ein Notar. Er las mir das sehr kurz abgefaßte Testament vor und eröffnete mir, daß er einen Scheck über tausend Pfund auf meinen Namen ausgestellt habe, damit ich gleich etwas bares Geld in Händen hätte. Sobald die Bilanz aufgestellt sei, werde der Rest auf die übliche weise nachfolgen. Hierauf schüttelte er mir die Hand und empfahl sich.

Meine Tante beharrte unausgesetzt bei ihrer kalten Zurückhaltung. Sie spielte nicht ein einziges Mal auf die Beziehungen meiner Mutter zur Gräfin an, und ich fühlte mich wirklich erleichtert, als ich wieder im Zuge saß, der mich nach London zurückführte.

Ich begab mich sogleich auf die Bank, deponierte dort zwei Schecks und ließ mir hundert Pfund ausbezahlen. Damit fuhr ich zum Cookschen Reisebüro und kaufte mir eine Fahrkarte erster Klasse nach Rom.

Hierauf sandte ich im Gegensatz zu meinem Entschluß der Gräfin in Queens Gate das folgende Telegramm:

»Habe Gründe für Annahme, daß unsere alte Freundin nach Palazzo in Rom verbracht, verlasse heute Charing Croß mit Pariser Nachtexpreß.«

Da ich Dick Molyneux halb und halb versprochen hatte, an diesem Abend nach Kingston hinauszufahren und bei ihm zu speisen, sandte ich ihm ein ähnliches Telegramm.

Hernach besorgte ich einige Einkäufe und begab mich eine halbe Stunde später zu Fuß wieder nach Hause. Als ich eben am Pontifex Square vorüberkam, begegnete ich meinem Freunde Mimms.

Nun, Herr Mimms, fragte ich, wie geht es Ihnen?

Nich gut, Herr Doktor; ich hab in meinen Knien ein böses Stechen. Deshalb bin ich heute nich bei der Arbeit. Ich denke, es is Rheumatismus. Freut mir, Sie zu sehen. Hab' sagen hören, Sie hätten Ihre Praxis aufgegeben. Is das richtig?

Ganz richtig, Herr Mimms. Ich habe ein wenig geerbt.

Ei was? Da gratulier ich Ihnen aber von Herzen, Herr Doktor!

Danke, und da gedenke ich mich eben im Westend niederzulassen.

Recht haben's! In dieser ärmlichen Gegend haben Sie wohl verflixt wenig verdienen können. Das kann ich mir denken.

Und doch, bemerkte ich, tut es mir recht leid, sie zu verlassen. Ich habe da einschließlich Ihre Frau und Sie selber sehr viele ehrenwerte Leute kennen gelernt.

Mimms fühlte sich offensichtlich geschmeichelt.

Dank schön, Herr Doktor, für das Kompliment, und wenn Sie mir's nich übel nehmen, würden Sie vielleicht ein Glas Wein oder so was mit mir trinken? Es is dort an der Ecke eine Salon-Bar, wo bisweilen Leute von Ihrer Art einkehren, und ich wäre mächtig stolz darauf, wenn Sie mir die Ehre antun würden.

Das kam unerwartet. Aber lachend ging ich auf seinen Vorschlag ein.

Warum sollte ich nicht ein Glas mit einem so ehrlichen Kerl wie Sie trinken, Herr Mimms, und sind denn wir nicht beide gleichermaßen an der Geschichte der armen alten Gräfin interessiert?

Da wär's, Herr Doktor, sagte er und ging voraus; ja, das sagte ich mir eben auch. Ich und der Doktor Perigord sind in gewissem Sinne mit der alten Gräfin verknüpft, sag' ich mir, und – doch, wie war's mit der Balhamer Adresse? Hat sie Ihnen 'was genützt?

Sehr viel. Ein ausgezeichneter Einfall von Ihnen. So, das wäre das Lokal? Gut, setzen wir uns! Ich will Ihnen erzählen, was mir die Adresse genützt hat.

Wir setzten uns an einen kleinen Tisch in einer Ecke der geräumigen Bar, bestellten Whisky und Sodawasser, und ich erzählte ihm zunächst in kurzen Worten das Ergebnis meines Besuches zu Balham.

Mimms war entzückt.

Potz Kuckuck, Herr Doktor! Also, das Weib hat eingestanden, daß sie versucht hat, mir die Schachteln und Sachen der Gräfin abzuschwindeln? Nein, so 'was!

Gewiß hat sie's eingestanden. Sie hat auch gesagt, sie möchte das nicht zum zweiten Wale versuchen, weil Sie ihr eine wahre Todesangst eingeflößt haben.

Mimms lachte daraufhin so laut, daß die Gäste, die am Schanktische standen, sich umwandten und zu uns herschauten.

Nicht so laut, Herr Mimms, wehrte ich ab, wir erregen ja die allgemeine Aufmerksamkeit.

Bitt' um Verzeihung, Herr Doktor, entschuldigte er sich, ich hab' mich ein wenig vergessen – aber das hat sie wirklich gesagt? Na, da müßte es ein Weib schon schlauer anfangen, als die da, wenn sie dem Wilhelm Mimms diese Sachen ausspannen will, obschon ich zugeben muß, daß sie sich nich ungeschickt bei der Geschichte benommen hat.

Jawohl, erwiderte ich. Ich habe übrigens nicht viel Zeit übrig, und so muß ich mich etwas kurz fassen.

Damit erzählte ich in wenig Worten, ohne die fünfzig Pfund zu erwähnen, die ich Simpkins bezahlt hatte, die Vorkommnisse in Putney, und wie wir um ein Haar die Gräfin angetroffen hätten. Ich fügte hinzu, daß ich nach neueren Erkundigungen zu der Ansicht gelangt sei, daß die alte Dame nach Italien weggeschleppt worden sei und daß ich die Absicht habe, am selben Abend noch zu ihrer Befreiung abzureisen. Schließlich wies ich ihn noch an, ihre Sachen nicht aus der Hand zu geben und deutete ihm an, daß ihm das nicht zum Nachteil gereichen würde. Dann trank ich mein Glas aus, um seinen allzu ausgedehnten Kommentaren ein Ende zu machen, und eilte davon.

Als ich zu Hause anlangte, fand ich ein Telegramm folgenden Inhaltes auf meinem Schreibtisch vor:

»Bitte Abreise bis zum Morgenexpreß verschieben.«


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