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Ein einziger – nebenbei bemerkt, verachtungsvoller – Blick genügte mir, um ein vollständiges Bild von dem Manne zu bekommen, der, wie mir wenigstens schien, bei meinem Anblick leicht zusammenzuckte. Im Vergleich zu mir war es ein Zwerg, ein krüppelhaftes Geschöpf, mit einem Kahlkopf, einem glattrasierten, farblosen Gesicht, dünnen Lippen und ausdruckslosen Augen von nicht näher bestimmbarer Färbung, die etwas Falsches, heimtückisches und verschmitztes an sich hatten. Ein Mensch, der niemals offen kämpfen würde, der aber eben aus diesem Grunde nicht zu verachten, sondern eher zu fürchten war. Im ersten Augenblick war ich auch von einem weiteren Umstand überzeugt: Das war nicht der Mann, der am Pontifex Square 19 so kühn verlangt hatte, die Gräfin zu sprechen.
Er blieb, augenscheinlich überrascht, auf der Schwelle stehen und sagte:
Ich fürchte, Sie zu stören, Gräfin. Ich wußte nicht, daß Sie Besuch haben.
Ihr Benehmen war eisig, als sie erwiderte:
Ich weiß nicht, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft. Aber die Anwesenheit dieses Herrn da möchte ich eher als einen glücklichen Zufall auffassen. Sie waren mit seinem Vater in Rom bekannt. Er hieß Doktor Perigord!
Und sich an mich wendend, fügte sie hinzu: wünschen Sie dem Erbgrafen Frangipani vorgestellt zu werden?
Das war sehr fein gedreht. Ich erwiderte sofort, indem ich nach meinem langte:
Nein, danke. Ich habe sehr triftige Gründe, mich für die Ehre zu bedanken, diesem Herrn vorgestellt zu werden. Daher guten Abend, Gräfin, werde ich morgen von Ihnen hören?
O ja, gewiß, erwiderte sie, übers ganze Gesicht lächelnd, und mit einem Händedruck, der mir ein angenehmes prickeln in allen Nerven verursachte, fügte sie hinzu: Gute Nacht, Doktor, ich danke Ihnen, daß Sie meinem Briefe persönlich Folge geleistet haben. Es war wirklich sehr nett von Ihnen.
Ich verbeugte mich und verließ das Zimmer, indem ich den Erbgrafen nicht weiter beachtete, als wenn er nur ein unbedeutender Einrichtungsgegenstand gewesen wäre.
In meinem Inneren jubelte es: Jetzt hatte ich doch meinen Feind getroffen, der ein elender Wicht war und vor dem ich nur Verachtung empfinden konnte. Aber jeder andere Gedanke verflüchtigte sich bald vor dem herrlichen Bewußtsein, daß ich mit der Gräfin nunmehr auf freundschaftlichem Fuße stand. Es war keine Selbsttäuschung. Jedes Wort, jeder Blick, jede Handlung von ihr verriet die Tatsache, daß es ihr ein vergnügen war, freundschaftliche Beziehungen mit mir zu unterhalten, und das war es, was mich mit so großer Freude erfüllte.
Ihr Beweggrund, den Erbgrafen empfangen zu wollen, war nur ihr bekannt, aber zweifellos hatte sie sehr klug dabei gehandelt. Eine rasche Ueberlegung belehrte mich, daß es ein kühner Schlag von ihrer Seite gewesen, der den Erbgrafen schneller und deutlicher als irgend sonst etwas davon überzeugen konnte, daß zwischen der Gräfin und mir ein Bündnis zum Zwecke der Durchkreuzung seiner Absichten bestand. Was sein Beweggrund sein mochte, bei der Gräfin vorzusprechen, das war eine ganz andere Sache, die mich nicht im geringsten in Erstaunen setzte. Ich belustigte mich indes über die schlimme Viertelstunde, die er jedenfalls bei ihr verbringen würde. Auf jeden Fall war es gut, daß die Sachlage sich jetzt geklärt hatte, denn ohne allen Zweifel würden die Ereignisse jetzt rasch aufeinander folgen.
*
Mit der ersten Post am folgenden Morgen erhielt ich einen Brief von der Gräfin. Er lautete folgendermaßen:
Lieber Doktor!
Eben ist der Erbgraf weggegangen. Unsere Unterhaltung verlief, wie Sie sich denken können, sehr hitzig, und ich bin jetzt noch etwas verwirrt davon. Der offenkundige Beweggrund seines Besuches war, mich wenn möglich zu veranlassen, 10+000 Pfund in irgend eine große Unternehmung zu stecken, die er gegenwärtig vorhat, und wovon er sich und mir große Dinge verspricht.
Ich drückte – in keineswegs ermunternden Worten – mein Erstaunen über seine Keckheit aus, zu mir zu kommen, um Geld zu erlangen; ein Wort gab das andere, und, ohne Sie oder mich zu verraten, rückte ich ihm geradenwegs wegen seiner grausamen und feigen Behandlung der alten Gräfin auf den Leib.
Aber zu meinem Erstaunen schienen ihn meine Worte in Verwunderung zu setzen. Er beschwor hoch und heilig, keine Ahnung von ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsorte zu haben. Er hatte früher wohl gedacht, daß sie gewisse Wertpapiere, die eigentlich zur gräflichen Vermögensmasse gehörten, auf die Seite geschafft habe, und nach dem Tod Enricos fühlte er sich völlig berechtigt, als Haupt der Familie einen gewissen Druck zu dem Zwecke auf sie auszuüben, um die Papiere wieder in den Besitz der Familie zurückzubringen. Eine Zeitlang hatte sie ihn auch an der Nase herumgeführt, wie er jetzt glaubte, aus bloßer Teufelei, denn eine genaue Aufnahme des Familienbesitzes ergab, daß es ganz unmöglich gewesen, daß sie irgend etwas Wertvolles sich angeeignet habe. Daher ließ er die Sache fallen. Er hatte bereits, einem falschen Alarm zuliebe, zuviel Zeit an einen Narrengang verschwendet. All das sei er bereit, auf seinen Eid zu nehmen.
Ueberdies sagte er, er sei eben erst in London eingetroffen, um mich zu sehen, und das aus einem doppelten Grunde. Erstens wolle er mir zu einer guten Anlage meines Geldes verhelfen, und zweitens Frieden mit mir schließen. Es seien höchst bedauerliche Mißverständnisse zwischen uns vorgefallen usw. Er war sehr gefällig, sehr demütig, aber ich ging nicht auf den Röder.
Was Sie anlangt, so bekannte er, er fühle sich durch Ihr Benehmen verletzt und schmerzlich berührt, da die »affaire d'honneur« zwischen Ihrem Vater und ihm, die er stets bedauert habe, ihm aufgenötigt worden sei. Ohne genügende Ursache verriet er, daß Ihr Vater ihn mißhandelt und persönlich beleidigt habe, in einer derart unwürdigen Weise, daß es keinem Edelmann möglich gewesen wäre, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Das Ergebnis davon war ein Duell.
Was halten Sie nun davon? Hat er mich angelogen oder nicht? Ist er wirklich der Feind, oder steckt irgend ein geheimnisvoller Jemand dahinter, der den Erbgrafen aussticht und die Gräfin in seinem eigenen Interesse ausbeutet?
Die Geschichte wird immer interessanter. Ich finde sie, offen gestanden, ein wenig aufregend. Die Gräfin muß auf alle Fälle gefunden werden; erinnern Sie sich daran, daß ich mit Leib und Seele dabei bin, Ihre Partnerin sozusagen, und daher darf ich Ihnen auch – ohne Sie zu verletzen – meine Börse zur Verfügung stellen.
Ich bin gespannt auf die weitere Entwickelung.
Mit herzlichem Gruß
Ihre
Maria di Frangipani.
Ich las den Brief immer wieder von neuem durch. Das Benehmen meines Vaters nötigte mir die größte Achtung ab. Ich konnte ihn mir sehr wohl vorstellen, wie er dem Knirps eine Tracht prügel erteilte, und mußte lächeln, als ich mir die köstliche Szene vorstellte.
Aber dann ging ich zum anderen Teile des Briefes über. Was ich davon hielt? Offen gestanden wußte ich nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich traute dem Erbgrafen alles zu. Ich mußte das tun. Daß er ein schlimmer Geselle sei, davon war ich so fest überzeugt wie von meiner eigenen Existenz. Aber trotz allem konnte doch etwas Wahres an seiner Aussage sein. Das war nicht schlechterdings unmöglich. Er war sicherlich nicht der Mann, der am Pontifex Square vorgesprochen hatte, trotz der Versicherung der alten Gräfin, er sei es gewesen. Sie hatte erklärt, daß die Stimme, die sie unten im Gange hörte, die des Mannes sei, der meinen Vater ermordet habe. Daß sie sich getäuscht hatte, davon war ich jetzt fest überzeugt. Zweifellos war die Sachlage jetzt noch verwickelter geworden. Vielleicht war der Graf das Opfer eines noch größeren Gauners, als er selber einer war, in welchem Falle seine Vermutung – daß die in meinem Besitz befindlichen Papiere der Gräfin wertlos seien – mit einem Schlag Lügen gestraft wurde. Darüber hatte ich meine eigenen Ansichten. Nichts konnte meine Ueberzeugung davon erschüttern, daß der Inhalt des mir anvertrauten Pakets von großem Werte sei. Daß sie am Leben und in Sicherheit sei, daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel, denn ihr Tod würde den Plänen ihrer Feinde ein Ende machen. Die große Schwierigkeit nun lag darin, ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen, wenn dies ohne Inanspruchnahme der Börse der jungen Gräfin geschehen konnte, um so besser; doch konnte ich mir den Umstand nicht verhehlen, daß es zur Erlangung der Freiheit der alten Dame vielleicht notwendig sein würde, unsere Zuflucht zur Bestechung, und zwar möglicherweise in größerem Maßstabe, zu nehmen.
Auf alle Fälle schien sich, dank der Schlauheit des Maurers Mimms, ein weg zur Erlangung von Informationen zu eröffnen. Dieser Weg führte in die Richtung nach Balham.
Punkt ein Uhr erschien zu meiner Freude Dick Molyneux in meinem Sprechzimmer.
Ich hatte eben meinen letzten Patienten behandelt und schloß die Türe ab.
Nun, fragte Dick, wie hast du die Gräfin vorgefunden?
Bezaubernder als je.
Kannst du es nicht einrichten, mich einmal mitzunehmen und bei ihr einzuführen?
Einmal – vielleicht! sagte ich lachend.
Weißt du, bis jetzt sieht sie mich immer noch als armen, windig bezahlten Assistenten in einer Lambether Klinik oder dergleichen an. Ich möchte sie gerne näher darüber aufklären, der Ordnung halber, verstehst du?
Soll geschehen, Dick, wenn alles sich weiter entwickelt wie bisher, wir sind nunmehr Partner.
Partner?
Jawohl, wenigstens sagte sie das.
Du redest etwas rätselhaft. was ist denn seit gestern vorgefallen?
Eine Menge Dinge. Unter anderem kann ich dir mitteilen, daß ich das Vergnügen gehabt habe, mich zu weigern, dem Mann vorgestellt zu werden, der den Tod meines Vaters auf dem Gewissen hat.
Was? Dem Erbgrafen?
Ja.
Wo in aller Welt bist du ihm begegnet?
Bei der Gräfin.«
Dick schüttelte den Kopf.
Laß den Unsinn! sagte er. Du sagtest mir doch, daß sie auf sehr gespanntem Fuße miteinander leben?
Gewiß, das tun sie oder taten sie. Gestern aber sprach er in den Formosa Mansions vor, soviel ist sicher, und störte ein reizendes tête-à-tête.
Und sie hat ihn empfangen?
Jawohl, und mich gefragt, ob ich dem Erbgrafen Frangipani vorgestellt zu werden wünsche.
Und du sagtest?
»Nein, danke!« – und empfahl mich.
Das ist schon toll! sagte Dick, Hast du denn keine Zeit, mir das näher zu erzählen?
Da lies! erwiderte ich und händigte ihm den Brief der Gräfin ein. Ich habe den Brief da heute morgen erhalten. Er enthält alle Aufklärung, die ich dir geben kann, und außerdem noch ein paar andere Dinge, worüber ich gerne deine Meinung hören würde.
Er zog den Brief aus seinem Umschlage.
Oho! rief er. »Lieber Doktor!« na, na! Die Geschichte macht sich.
Halte dich nicht auf! bemerkte ich, lies nur weiter! Ich wußte, daß der Brief dich interessieren würde.
Dicks Gesicht begann bald einen erstaunten Ausdruck anzunehmen. Ich wußte, daß dies geschehen würde, und als er schließlich wieder aufblickte, sagte er:
Das ist doch eine verflixt tolle Geschichte, was bedeutet all das?
Das ist's gerade, was ich dich fragen wollte, was meinst du zu dem Vorschlage, die Geschichte auf unserem weg nach Balham zu besprechen? vielleicht werden wir in jenem Viertel nähere Aufklärung erlangen.