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Frau Mimms besorgte mir rasch das verlangte, und dann begannen wir ein sorgfältiges Inventar der Gegenstände aufzunehmen, welche die verschwundene Gräfin zurückgelassen hatte.
Frau Mimms gab mir die verschiedenen Gegenstände an, und ich schrieb getreulich einen nach dem anderen auf, so daß, als die Liste fertiggestellt war, ein recht umfangreiches Schriftstück das Ergebnis unserer vereinten Anstrengungen war.
Gerade eine halbe Stunde haben wir gebraucht, Frau Mimms, und es ist später geworden, als ich dachte. Ich habe heute nachmittag noch eine ganze Reihe von Besuchen zu erledigen und kann wirklich nicht mehr länger auf Ihren Mann warten. Daher will ich rasch meinen Namen nebst Adresse unter das Verzeichnis da schreiben und bezeugen, daß es richtig zusammengestellt ist. Sollte ich irgendeine Aussage zu bekräftigen haben, die Sie oder Herr Mimms bei der Polizei machen, so bin ich um sechs Uhr in meiner Privatwohnung zu sprechen, wollen Sie so freundlich sein und das den Polizeibeamten mitteilen?
Gewiß, Herr Doktor, und ich muß Ihnen sagen, daß es sehr liebenswürdig von Ihnen is, sich so viel Mühe und Arbeit in dieser Angelegenheit zu machen. Aber Sie müssen mich wirklich entschuldigen und auch meinen Alten, daß wir heute mittag ein wenig kurz angebunden waren, aber wir waren ganz aus dem Häuschen, Herr Doktor, Sie glauben es gar nich – und –
Ich verstehe das vollständig, Frau Mimms. Es ist ja für uns alle eine so unbegreifliche und betrübende Geschichte. Aber lassen Sie sich keine grauen Haare darüber wachsen. Es wird schließlich alles noch recht werden. Adieu.
Adieu, Herr Doktor, und vielen Dank!
Nunmehr verließ ich das Haus und begab mich an meine Arbeit.
Für den Rest des Nachmittags hatte ich sehr viel zu tun, und es war bereits nach sechs Uhr, als ich nach Hause kam.
Ein Herr wartet auf Sie, Herr Doktor, sagte mein kleiner Diener bei meinem Eintritt.
Wie heißt er?
Wachtmeister Davids, lautete die Antwort.
Gut. – Ohne mich meines Ueberrocks zu entledigen, begab ich mich ins Studierzimmer, wo ich den Detektivwachtmeister Davis vorfand, dessen Frau vor kurzem bei mir in Behandlung gewesen war.
Geht alles gut zu Hause, Davis? fragte ich.
Gewiß, sagte er lachend. Meine Frau ist gesund und munter, und der Junge entwickelt sich prächtig. Fängt bereits an, mich zu kennen. Nein, es ist wirklich erstaunlich, wie das Kleinzeug wächst. Nicht zu glauben! Ich komme, um Sie in der Geschichte vom Pontifex Square zu sprechen. Tolle Geschichte, was? Wie denken Sie darüber, Herr Doktor?
Na, erwiderte ich, ich weiß nicht recht, wie ich meine Ansicht darüber formulieren soll. Ich habe die Dame gestern abend zum ersten Male gesehen und vorher nie etwas von ihr gehört. Ich wurde etwa um halb zehn Uhr zu ihr geholt, gerade als ich mein Sprechzimmer verlassen wollte. Ich denke, man hat Ihnen alles Nähere bereits mitgeteilt.
Gewiß.
Und auch von dem Fremden, der sie sprechen wollte?
Jawohl, was halten Sie davon, Herr Doktor?
Ich weiß nicht. Ich kann höchstens etwas mutmaßen.
Daß die Dame aus irgendeinem Grunde sich vor ihren Bekannten verborgen hielt.
Irrsinnig, nicht?
Nicht gerade, aber recht exzentrisch glaube ich. Sie hat mir eine Menge Unsinn vorgeschwatzt, woraus ich nicht klar wurde, aber soviel konnte ich daraus entnehmen, daß irgendein Streit in der Familie wegen Geld- oder anderen Angelegenheiten bestand, und ich bin auch der Ansicht, daß daraus die ganze Geschichte erklärt werden kann. Es kann nichts geschehen, ohne daß sie dabei anwesend ist, vielleicht ist auch ihre Unterschrift nötig, und nunmehr hat man sie geholt.
Aber die Leute sind doch auf einem verflixt verdächtigen Weg gekommen. Das muß ich schon sagen, bemerkte der Wachtmeister. Können Sie das erklären?
Nein. Ich habe mir nur eine Erklärung ausgedacht.
Und die wäre?
Daß, da sie auf gesetzlichem Wege ihrer Person nicht habhaft werden konnten, sie ihre Zuflucht zur Ueberlistung nahmen. Sie ist eine Ausländerin, wissen Sie, eine Italienerin. Das hat sie mir selber gesagt.
So? Das wußte ich nicht. Und Sie glauben deshalb –
Daß ihre Entführer ebenfalls Italiener und wahrscheinlich Verwandte von ihr waren. Es handelt sich in diesem Fall nicht um Raub oder Diebstahl, da nicht ein einziger Wertgegenstand weggekommen ist.
Gewiß. Das hat mich auch überrascht.
Mich auch, versetzte ich, und dieser Umstand hat mich völlig davon überzeugt, daß man sich nur ihrer Person selber bemächtigen wollte.
Hm. Trotz all dem ist es eine seltsame Geschichte. Glauben Sie, Herr Doktor, daß ein Verbrechen vorliegt?
Das hängt davon ab, antwortete ich, was Sie unter Verbrechen verstehen. Offenbar wurde nichts aus dem Zimmer entwendet. Die Dame hat, wie es scheint, nicht um Hilfe gerufen. Sonst hätte man es ja in diesem kleinen Häuschen gehört. Es ist möglich, daß sie, als sie sich in der Falle sah, sich ohne Widerstreben ergab und ruhig mit ihren Leuten durchs Nebenhaus davonging. Auf jeden Fall glaube ich nicht, daß ihr ein Leids geschehen ist.
Wirklich nicht?
Nein, gewiß nicht. Ich habe dies heute mittag Herrn Mimms gegenüber betont, aber ihm nichtsdestoweniger zugestimmt, als er davon sprach, der Polizei von dem Vorfall Meldung zu erstatten – in seinem eigenen Interesse, verstehen Sie – da die Dame, wie Sie wissen, eine Menge wertvoller Sachen zurückgelassen hat –
Ueber die Sie ein Verzeichnis aufgestellt haben, ergänzte der Wachtmeister meinen Satz. Ich habe es gesehen. Das war eine sehr gescheite Vorsichtsmaßregel, denn, weiß Gott, vielleicht läßt die Dame schon morgen ihre Sachen holen. Ich würde mich gar nicht darüber wundern – wenn Ihre Auffassung richtig ist. Ich sehe nicht ein, was wir dabei tun könnten. Es ist uns nur Meldung erstattet worden, aber niemand hat sich in aller Form beklagt, noch um Nachforschungen gebeten. Die Dame hat vielleicht, wenn sie wirklich ein wenig verstört ist, die ganze Geschichte aus lauter Uebermut ausgeheckt. Es wäre nicht der erste Fall dieser Art, der mir in meiner Praxis vorkäme. Daher müssen wir sehr vorsichtig zu Werke gehen. Mimms sagt, die Dame schulde ihm keinen Heller, und wie gesagt ist es gut möglich, daß sie ihre Sachen in den nächsten Tagen abholen läßt, Ich habe ihn angewiesen, alles mit Einschluß Ihres Inventars an einem sicheren Orte aufzubewahren. Mehr kann ich nicht tun. Bevor jemand eine Klage einbringt, mit Beweisen, daß ein Verbrechen tatsächlich begangen worden oder daß wenigstens starker Verdacht vorhanden ist, kann die Polizei in dieser Angelegenheit keine Schritte tun. Ich dachte, ich wolle rasch bei Ihnen vorsprechen, Herr Doktor, und Ihnen das mitteilen, denn die Geschichte hat Ihnen gewiß eine Menge Unannehmlichkeiten und Arbeit bereitet.
Ja, gewiß, erwiderte ich, mit einem dankbaren Gefühl der Erleichterung. Und Ihnen bin ich sehr verpflichtet, Herr Wachtmeister. Darf ich Ihnen nicht ein Gläschen »Buchanan« anbieten, bevor Sie gehen?
Könnte nichts schaden, Herr Doktor, einen Fingerhut voll, sagte er schmunzelnd.
Fünf Minuten später war ich wieder allein.
Beim Abendessen war mir's verhältnismäßig leichter ums Herz, als bei den vorhergehenden Mahlzeiten an diesem Tage, denn, wie ich bereits gesagt habe, eine polizeiliche Untersuchung ist eine Sache, der sich die meisten Leute, wenn irgend möglich, am liebsten entziehen. Ueberdies fühlte ich instinktiv, daß eine solche Untersuchung für den Augenblick nicht sehr angebracht war. Jenes kleine versiegelte Paket bei meinem Bankier bildete den Schlüssel zu dem Geheimnis, wenn man es noch länger als Geheimnis bezeichnen konnte. Außer allem Zweifel befand sich die Gräfin, wenn sie auch irgendwo mit Argusaugen bewacht wurde, doch in völliger Sicherheit.
Auch war es gut möglich, sagte ich mir, daß der Graf Frangipani – für den Fall, daß der Entführer wirklich so hieß – für sein Vorgehen reichlich gute Gründe hatte, wie konnte ich denn darüber entscheiden? Um mir eine Ansicht zu bilden, hatte ich als einzige Grundlage ihre ungenügende und einigermaßen sensationelle Aussage, und diese konnte sich ja im weiteren Verlauf der Dinge als absichtliche Unwahrheit oder als das Spiel einer entgleisten Einbildungskraft erweisen. In meiner kritischen Stimmung brachte mich weiteres Nachdenken zu der Ueberzeugung, daß ihre Behauptung, der Graf sei der Mörder meines Vaters, mit Vorsicht aufgenommen werden müsse. Auf alle Fälle wollte ich mit meinem endgültigen Urteil warten, bis ich meine Mutter über die Angelegenheit gesprochen hatte. Je früher das geschah, desto besser. Mit den nackten Tatsachen vertraut, würde ich imstande sein, allen weiteren Schwierigkeiten, die vielleicht noch aus meiner Verbindung mit der Angelegenheit entspringen würden, mit Ruhe entgegenzusehen.
Daher schrieb ich nach dem Abendessen meiner Mutter, ich wünsche sie dringend am nächsten Tage zu sprechen; ich würde zu diesem Behufe nach Tunbridge Wells hinausfahren in der Hoffnung, daß sie sich wohl befinde und mir eine Unterredung gewähren könne.
Hierauf begab ich mich in mein Sprechzimmer, wo ich zwei Stunden angestrengt zu tun hatte. Als der letzte meiner Patienten abgefertigt war, und ich bereits das Gas ausdrehen und mich nach Hause begeben wollte, tauchte plötzlich der Maurer Mimms auf. Sein breites, ehrliches Gesicht strahlte vor Befriedigung.
Ich dachte, es wäre gut, noch einmal vorzusprechen, Herr Doktor, sagte er, und Ihnen mitzuteilen, was vorgefallen ist, seit wir uns zum letztenmal gesehen haben.
Ich sagte mir, es sei ganz unnötig, meine Unterredung mit dem Wachtmeister Davis zu erwähnen, und so bezeigte ich sofort das größte Interesse für seine Mitteilungen.
Gewiß, Herr Mimms, sagte ich. Ich hielt es für selbstverständlich, daß Sie kommen würden. Ich habe Sie sogar schon früher erwartet. Ihnen brauche ich wohl kaum zu sagen, daß es eine sehr unangenehme Geschichte für mich ist – in beruflicher Hinsicht, verstehen Sie. Ich gebe ja zu, daß Sie ganz recht hatten, auf die Polizei zu gehen. Aber ich hoffe lebhaft, daß ich nicht in die Angelegenheit verwickelt werde.
Das werden Sie nich, Herr Doktor. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort, als ehrlicher Arbeitsmann. Nein, sicher nich. Ich hab's den Leuten auf der Station auch klipp und klar gesagt. Der Doktor Perigord, sag' ich, darf nich in die Geschichte hineingezogen werden.
Und was hat man darauf erwidert?
Was man erwidert hat? Nun, sofort haben sie gesagt: Gewiß nich.
Na, und dann?
Ja, und dann hat der Inspektor einen Mann in Zivil zu mir nach Nummer 19 gesandt, um den Platz zu beaugenscheinigen – ein fixer Kerl war's, wahrhaftig, ein Detektiv natürlich, und einen riesig gescheiten Kopf hat er! Das können Sie mir glauben! Der hat eine Menge Fragen gestellt, sehr freundlich und leutselig, und hat mit meiner Alten ein paar Witze gerissen. »Da is ein Don Juan drin gewesen,« sagte er, »und der hat sich im Gegenstand seiner Zuneigung geirrt und im Dunkel die Unrechte erwischt. Sie können von Glück reden, Frau Mimms, daß Sie so gut weggekommen sind!« Daraufhin is meine Alte vor Lachen fast geborsten, und ich, meiner Seel', auch. Der Gedanke, daß jemand versucht hat, meine Alte zu stehlen, war doch zu toll!
Na, sagte ich, und dann?
O, dann sah er sich die Sachen der Gräfin an, und ich zeigte ihm Ihr Inventar, und als er Ihren Namen darunter sah, sagt' er: »Ho! Der Name des Doktor Perigord bietet mir genügend Garantie. Er is ja überall bekannt,« sagt' er. »Tun Sie alle diese Sachen wieder in die Koffer und bewahren Sie sie an einem sicheren Orte auf, damit sie nicht noch gestohlen werden,« sagt' er. »Bewahren Sie sie auf, bis jemand sie holen will; aber nehmen Sie sich in acht, daß Sie sie nich bei der unrechten Adresse abgeben, sonst könnten Ihnen Schwierigkeiten daraus erwachsen.«
Gerade das wollte ich Ihnen eben sagen, Herr Mimms, bemerkte ich. Nur die Gräfin selber hat ein Anrecht darauf. Lassen Sie die Sachen nicht aus der Hand, ehe die Gräfin nicht selber kommt, um sie zurückzufordern.
Ganz recht, Herr Doktor. Die Koffer und Sachen stehen nun hinter meinem Bett, und es würde die Unrechten schwere Arbeit kosten, sie mir auszuspannen.
Gut! Und die Polizei will sich auf keinen Fall mit der Sache befassen?
Sie kann's nich, Herr Doktor – wenigstens hat mir das der Detektiv gesagt.
Also ist Ihnen jetzt wieder behaglich zu Mut?
Jawohl – wenn auch »behaglich« nich gerade der richtige Ausdruck dafür is. Mir ist's heute abend, als sei ich im Himmel.
Die Aufregung ist also vorüber?
Jawohl, Herr Doktor. Ich –
Ah, da fällt mir ein: ist der Hausbesitzer da gewesen?
Nein, Herr Doktor. Er is verreist. Aber der Detektiv hat mir gesagt, ich könne Schadenersatz von ihm verlangen.
So! Also würden Sie bei der Geschichte gar nicht so schlecht wegkommen, Herr Mimms.
Meiner Seel', Herr Doktor, das is nachgerade auch meine Ansicht.