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Zehntes Kapitel

So verließ ich gezwungenermaßen das Haus meiner Mutter, nicht klüger als zuvor. Statt einer Aufklärung waren mir nur Warnungen zuteil geworden, die zwar ziemlich unbestimmt und rätselhaft klangen, aber außer jedem Zweifel berechtigt waren.

Meine Mutter hatte es wenigstens in aller Bestimmtheit ausgesprochen, daß mein Vater durch Einmischung in die Familienangelegenheiten anderer sein Ende gefunden. Und daraus folgte ohne Schwierigkeit die Moral, daß ich an diesem unglückseligen Ausgang mir ein Beispiel nehmen und mich von der ganzen Angelegenheit zurückziehen sollte, in die ich gegenwärtig verwickelt war. Aber ich konnte der Tatsache nicht aus dem Wege gehen, daß ich durch Uebernahme dieses verfluchten Pakets bereits schon in ein ernstliches Dilemma geraten war. Wie die Sachen lagen, konnte ich es der Gräfin nicht zurückgeben, und ebenso klar war es, daß ich es sonst niemand anvertrauen konnte, ohne ihr persönliches Einverständnis darüber einzuholen. Daß es für jemand einschneidendste Bedeutung besaß, war nun nicht mehr zu bezweifeln. So ist auch leicht einzusehen, daß meine Betrachtungen während der Rückreise zur Stadt nicht eben besonders angenehmer Art waren.

Zu einem Entschlusse indes gelangte ich endlich, nämlich mich unverzüglich mit irgend jemand zu beraten, in den ich volles Vertrauen setzen konnte. An wen anders, dachte ich, sollte ich mich wenden, als an meinen heutigen Stellvertreter, den größten Schlaukopf, den ich je getroffen hatte.

Dick Molyneux und ich waren während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes zu Edinburgh Busenfreunde gewesen. Beinahe am gleichen Tage machten wir das Examen und promovierten. Da ihm größere Mittel zur Verfügung standen als mir, kaufte er sich eine sehr teure Praxis in South Kensington. Er war so tüchtig in seinem Berufe, daß er zweifellos ganz hervorragendes darin geleistet haben würde, wären ihm nicht eines schönen Morgens unvermutet hunderttausend Pfund in Form eines Vermächtnisses in den Schoß gefallen. Bald darauf traf er bei einem Ball eine entzückende kleine Blondine, die ein ebenso großes Vermögen in Händen hatte, und verliebte sich unverzüglich in sie. Sie heirateten sich bald darauf, und so kam seine Berufstätigkeit zu einem raschen Abschluß. Er trieb ein wenig Literatur, ritt ein oder zwei Steckenpferde (Orchideenzucht war eins davon) und machte den allerdings erfolglosen Versuch, ins Parlament zu kommen. Aber seine früheren Zuneigungen erkalteten nicht. Es war seltsam zu sehen, mit welch' freundlicher Lebhaftigkeit er meinen gelegentlichen Bitten um Vertretung entsprach und mit welchem Eifer er sich der Arbeit in meinem schäbigen, kleinen Sprechzimmer unterzog. Er hatte mir selber angeboten, mich hie und da zu vertreten, und ich zweifle nicht im geringsten daran, daß er sich dabei köstlich vergnügte.

»Jawohl,« sagte ich mir, »ich werde zu Dick hinausfahren und ihn in dieser Sache um Rat fragen.«

Er lebte Sommers wie Winters in einem schönen, alten Gebäude am Ufer der Themse, nahe bei Kingston, mit einem prächtigen und ausgedehnten Parke am Flusse, nach meinem Dafürhalten einem wahren Paradies auf Erden, wo ich stets ein gern gesehener Gast war.

Als ich auf der Charing-Croß-Station anlangte, begab ich mich über die Hungerford-Brücke zur Waterloo-Station, da ich mir dachte, er sei bereits wieder nach Hause gefahren. Aber als ich gerade über den Bahnsteig wollte, um mir ein Billett zu holen, rannte ich einen Menschen fast über den Haufen, in dem ich niemand anders erkannte als Dick Molyneux selber.

Eile mit Weile, alter Junge! rief er. Spiel nicht Fußball mit mir!

Wie? Du bist's, Dick? Verzeih! Ich wollte eben rasch nach Kingston, um dich aufzusuchen. Ich dachte, du seiest bereits nach Hause gefahren.

Eben wollte ich weg. Gut. Komm' mit! 's ist höchste Zeit; das Billett kannst du ja auf der Endstation lösen.

Damit wollte er mich am Arme mit sich ziehen.

Halt eine Minute! bemerkte ich. Hast du noch Zeit? Kannst du den nächsten Zug abwarten?

Ein halb Dutzend Züge, wenn du willst. Aber warum denn?

Weil ich meine Nachmittagsbesuche erledigen muß. Was ich dir mitteilen will, kann ich in – nun, in einer halben Stunde erledigen – und ich wäre dir sehr verbunden, wenn –

Natürlich, altes Haus. Ein oder zwei Stunden machen mir nichts aus. Um was handelt sich's denn? Etwas Wichtiges?

Sehr Wichtiges, und ich möchte dich um Rat fragen.

Gut. Vielleicht ist er Goldes wert, aber ich kann für die Marke nicht garantieren. Liebesgeschichte?

O nein, viel schlimmer als das. Durch derartige Lappalien schlag' ich mich in der Regel selber durch. Wo können wir denn die Geschichte besprechen?

Schon gespeist? fragte Dick.

Nein.

Ich auch nicht, was sagst du zu Simpson? Ein Stückchen Steinbutt und eine tüchtige Schnitte Lende; dazu eine Flasche zweiundneunziger St. Martelle. Was sagst du dazu?

Ist mir recht. – Damit gab er einem Droschkenkutscher ein Zeichen.

Ist im Sprechzimmer alles in Ordnung, Dick? fragte ich, während wir über die Waterloobrücke fuhren.

Jawohl, alles. Eine Menge Patienten, einige sehr merkwürdige Fälle – besonders einer hat mich sehr interessiert. Aber, richtig, ich hab's ja beinah' vergessen. Gerade bevor ich wegging, fiel ja etwas so Seltsames vor.

Etwas Ungewöhnliches?

Gewiß. Ein herrschaftlicher Wagen fuhr an dem Tor vor; ein prächtig aussehendes Weib kam ins Wartezimmer hereingerauscht und fragte nach Doktor Perigord. Dein Assistent erlitt schier einen Schlaganfall und stürmte herein, mir den Besuch anzumelden. Ich war eben mit dem kranken Bein eines Marktweibs beschäftigt und sagte: »Ist recht! Sobald ich damit fertig bin, können Sie sie vorlassen!« Ein paar Minuten später trat sie ein. Bei Gott, ein strammes Weib! Doktor Perigord, wie ich annehme? sagte sie. Nein, gnädige Frau, erwiderte ich höflich. Doktor Perigord ist weggerufen worden – wichtige Konsultation – die Sache mehrerer Stunden, wie ich fürchte – aber ich bin sein Stellvertreter, und wenn Sie Platz nehmen und Ihren Fall beschreiben wollen – Hier unterbrach sie mich: O nein! Ich komme in privater Angelegenheit. Glauben Sie, daß er in einer oder zwei Stunden zurückkehren wird? Sicherlich, erwiderte ich, zum wenigsten in seine Wohnung.

Hast du ihr die Adresse gegeben? fragte ich.

Natürlich, was konnte ich denn anders tun? Kennst du die Dame? Schadet es was?

Nicht im geringsten, mein Junge, war sie eine Ausländerin?

Dick sah mich erstaunt an.

Nein, wie kommst du zu dieser Frage?

Ich weiß nicht. Ich habe ja nur gefragt. Und weiter?

Nun, sagte er, vielleicht ist es eine Engländerin, aber ich halte sie eher für eine Amerikanerin, die im Ausland gelebt und ihre amerikanische Aussprache seit langem verloren hat. Sie benimmt sich auch ganz kosmopolitisch. Sehr – fein, ich möchte sie weniger chik, als distinguiert nennen, sie ist eine richtige Dame der Großen Welt.

Hast du mir sonst noch etwas von der Dame mitzuteilen? fragte ich.

Ich wüßte nicht. Du kennst sie wohl nicht?

Nein, wie gesagt. Hat sie ihren Namen angegeben?

Nein. Sie wollte es nicht. Es sei nicht notwendig, sagte sie.

Verflixt sonderbar, erwiderte ich. Ich bin neugierig, ob ihr Besuch in irgend welcher Verbindung mit dem steht, was ich dir eröffnen will und worüber ich deinen Rat hören möchte. Uebrigens, da sind wir bei Simpson.

Nach dem Steinbutt kam das Gespräch wieder an die Reihe.

Nun, begann Dick, zu welchem Zwecke hast du mich in der Stadt zurückbehalten? –

Ich gedachte, ihn zu verblüffen. –

Weil ich mich mit einer Gräfin eingelassen habe, sagte ich.

Zum Teufel! So schlimm steht's? rief er, indem er Messer und Gabel niederlegte und mich mit erstaunten Blicken maß. Muß ich dir gratulieren, alter Junge, oder was?

Sei kein Narr, Dick! erwiderte ich. Sie ist alt genug, um meine Mutter sein zu können.

Also etwas zu alt, bemerkte er. Wieso hast du dich mit ihr eingelassen?

Ich hab's ja nicht getan – sie hat sich mit mir eingelassen.

So? Sie war es? Diese Bemerkung wirft augenscheinlich etwas Klarheit über den Fall. Jedoch –

Einen Augenblick! Ich will dir's gleich ganz klarmachen. Ich will dich nämlich in mein Vertrauen ziehen.

Schieß mal los!

Es handelt sich um ein großes Geheimnis. Ich weiß, daß ich mich dir anvertrauen darf.

Allerdings. Ich hab' ein stark entwickeltes Talent, Geheimnisse zu hüten, alter Junge, Heraus damit! Wer ist deine Gräfin?

Frangipani heißt sie.

Name kommt mir bekannt vor. Italienisch?

Jawohl. Du weißt ja – ich glaube wenigstens, ich hab' dir's erzählt –, daß ich in Rom geboren bin.

Stimmt. Dein Vater war dort englischer Arzt. Erinnere mich. Und?

Und sie, die Gräfin, kannte meinen Vater, und meine Mutter – die ich heute aufgesucht habe – sagt mir, daß sie die Gräfin kennt.

So so? Aber offen gestanden, deine kleine Erzählung fängt etwas weit hinten an, wie mir scheint. Hat sie denn keinen Anfang? Laß mich doch erst mal das erste Kapitel hören. Gräfinnen wachsen in deiner lieblichen Nachbarschaft nicht auf jedem Baum.

Auch halten nicht alle Tage schöne Prinzessinnen vor meinem Sprechzimmer, mein Lieber. Kutscher und Lakai!

Und Lakai, gewiß. Der Wagen war stilvoll, tadellos. Ich habe durch ein Loch deiner Gardinen einen Blick darauf geworfen. Das Wappen am Schlag wäre auf zwanzig Meter sichtbar gewesen.

Gut, sagte ich. Ich will dir also die Geschichte von Anfang an und ohne schmückende Beiwörter berichten. – Und so begann ich mit dem Augenblick, wo Anna Mimms mich unter dem Gasleuchter angesprochen hatte, als ich vor zwei Abenden meine Amtsräume verließ.

Sehr bald vergaß Dick weiterzuessen und starrte mich in unverhohlenem Erstaunen an. Von Zeit zu Zeit brummte er sein unvermeidliches »Na, da soll doch gleich –«, aber sonst unterbrach er mich nicht in meiner Erzählung. Ich vergaß nicht die geringste Einzelheit. Alles auf dem Tische war kalt geworden. Schließlich blickte ich auf und sagte:

Und nun, Dick, was ist deine Meinung, offen und gerade heraus?

Daß wir uns zunächst einmal ein weiteres Stück von dieser Lende bestellen wollen. – Damit drückte er auf den Knopf neben dem Tische. – Es ist eine erstaunliche Geschichte, fuhr er dann fort, und ich denke, wir können noch einer Flasche St. Martelle den Hals brechen, während wir diese Nuß zu knacken versuchen.

Nach dem Essen besprachen wir bei Kaffee und Zigarren die Angelegenheit von jedem erdenklichen Standpunkt aus.

Es steckt mehr dahinter, als auf den ersten Blick ersichtlich ist, meinte schließlich Dick. Auf jeden Fall mußt du das versiegelte Dokument hüten, wie eine Löwin ihr Junges. Du bist augenscheinlich in die Geschichte verwickelt, sonst würde dir es die alte Dame niemals so prompt ausgehändigt haben. Sie wußte genau, was sie tat, und ich wette, daß du von ihr binnen kurzem hören wirst. Die Geschichte wird sich sehr bald kräftig entwickeln, und du wirst alle Hände voll zu tun haben. Tausend gegen eins zu wetten, hängt der Besuch des prächtigen Weibes von heute mittag mit der Geschichte zusammen. Jedenfalls, alter Junge, halte mich über alles, was passiert, auf dem Laufenden. Die Geschichte interessiert mich im höchsten Grad, und wenn du dadurch irgendwie in die Patsche gerätst, so weißt du ja genau, wo du eine Hilfe finden kannst.

Das weiß ich, Dick, erwiderte ich; aber ich wünschte, ich hätte die Gräfin nie getroffen.

Ich auch. Dein Beruf wird dabei, wie ich fürchte, zu kurz kommen. Nun, qui vivra, verra!

Damit verabschiedeten wir uns voneinander.

Ich machte meine übliche Besuchsrunde und kehrte Schlag sechs Uhr nach Hause zurück.

Mein kleiner Diener kam mir in der Halle entgegen.

Eine große, elegante Dame ist hier gewesen, Herr Doktor, und hat diese Karte da hinterlassen.

Ich schaute darauf und las erstaunt die Worte:

La Contessa di Frangipani.


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