Ludovico Ariosto
Rasender Roland, Band 1
Ludovico Ariosto

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Achter Gesang.

Rogers Flucht ins Reich der Logistilla und Alcina's Verfolgung (1–21). Rinald in England (22–28). Angelica in den Schlingen des Einsiedlers (29–50). Geschichte von der Insel Ebuda und der Orca, welcher Angelica zum Fraße hingestellt wird (51–68). Rolands Sorge um Angelica, sein Traum, seine und Brandimarts Abreise von Paris (69–91).

O wie viel Zauberinnen giebt's, wie viele
Sind Zaubrer unter uns, die man nicht kennt,
Die Männer oder Frau'n mit falschem Spiele
Bethören, bis ihr Herz für sie entbrennt!
Nicht Geisterhilfe führt sie zu dem Ziele,
Auch nicht die Sternenschrift am Firmament;
Sie schlingen durch Verstellung, Lug und List
Ums Herz die Fessel, die unlöslich ist.
Wer jenen Ring Angelica's, wer gar
Den Ring der Weisheit hätte, dem entdeckte
Das Antlitz andrer alles hell und klar,
Was sonst vielleicht Arglist und Schein versteckte.
Schön dünkt und gut uns mancher, der uns, bar
Der Schmink', als häßlich und als bös erschreckte.
Ein großes Glück ist Rogern jetzt beschert,
Den Ring zu haben, der die Wahrheit lehrt. 209
Er ritt, wie ich erzählte, sacht und klug
Auf Rabican zum Thor und traf am Gitter
Die Wache sorglos, sprengt' im raschen Flug
Mitten hindurch, und um sich hauend ritt er,
Verwundend oder tödtend, wen er schlug,
Ueber die Brücke, hieb die Pfort' in Splitter
Und wählte schon zum Wald den nächsten Pfad,
Als ihm ein Knecht der Fee den Weg vertrat.
Der Mann trug einen Habicht auf der Hand,
Den er an Werkeltagen wie an Festen
Zur Kurzweil fliegen ließ; denn rings das Land
War reich an Wild in Feldern und Morästen.
Ihm folgt' ein Hund als treuer Jagdtrabant;
Ein Klepper trug ihn, keiner von den besten.
Der Jäger denkt sofort, daß Roger flieht,
Als er in solcher Hast ihn kommen sieht.
Mit frecher Miene tritt er ihm entgegen
Und fragt, weshalb er so in Eile jagt.
Antworten wollt' ihm nicht der gute Degen,
Und jener denkt, es ist genug gefragt,
Und nimmt sich vor, den Weg ihm zu verlegen.
Er streckt den linken Arm nach ihm und sagt:
»Was meinst du, wenn ich dich gefangen nähme?
Wenn diesem Vogel nie ein Wild entkäme?« 210
Er warf den Vogel auf; der schwang die Flügel,
Daß Rabican ihm nicht den Sieg entriß.
Der Jäger schwang zugleich sich aus dem Bügel
Und nahm dem Klepper Zaum ab und Gebiß.
Der flog nun wie ein Pfeil, befreit vom Zügel,
Furchtbar durch seine Huf' und seinen Biß,
Und hinter ihm der Knecht mit solcher Eile,
Als flieg' er mit dem Wind, dem Donnerkeile.
Der Hund will auch nicht schlechter sein und setzt
Dem Rappen nach und folgt ihm weite Strecken,
Schnell wie der Panther, der den Hasen hetzt.
Doch schmählich dünkt die Flucht dem jungen Recken,
Und nach dem Läufer wendet er sich jetzt,
Der keine Waffen trägt, nichts als den Stecken,
Den Stock, der seinen Hund gehorchen lehrt.
Das Schwert zu ziehn hält Roger ihn nicht wert.
Der Jäger kömmt und schlägt ihn mit Gewalt;
Links kömmt der Hund ihm in den Fuß zu beißen;
Rechts macht der zügellose Klepper Halt,
Die Hinterhuf' ihm an den Leib zu schmeißen;
Der Vogel schwirrt und kreist um ihn und krallt
Die Fäng' und will ihm das Gesicht zerreißen
Und macht mit seinem Lärm dem Roß so bange,
Daß es dem Sporn nicht folgt und nicht der Stange. 211
Er muß den Degen ziehn, es hilft ihm nicht,
Und nun, damit er sie zum Weichen bringe,
Bedroht er bald die Thiere, bald den Wicht
Mit Schneid' und Spitze seiner guten Klinge.
Die läst'ge Rotte sperrt die Straße dicht,
So links wie rechts, und hält ihn in der Schlinge.
Er sieht vor Augen klar Unheil und Schande,
Wenn er die Zeit verliert mit dieser Bande.
10  Er weiß, schon in der nächsten Viertelstunde
Hat er Alcina's Völker auf dem Hals;
Schon hört er Sturmgeläut im Thalesgrunde,
Trompeten schon und Trommeln dumpfen Schalls.
Das Schwert zu brauchen gegen Knecht' und Hunde
Dünkt ihm doch gar zu arg, und jedenfalls
Kömmt er geschwinder, sicherer vom Flecke,
Wenn er den Schild hervorholt aus der Decke.
11  Das scharlachrote Tuch, darin der Stahl
So lang verhüllt gelegen, streift er nieder.
Dieselbe Wirkung, die er tausendmal
Geübt hat, übt der Glanz des Schildes wieder.
Bewußtlos liegt der Jäger, vor dem Strahl
Fällt Hund und Klepper, fällt auch das Gefieder,
Das nun den Vogel nicht mehr tragen kann.
Froh läßt sie Roger in des Schlafes Bann. 212
12  Alcina wußte mittlerweil Bescheid,
Daß Roger sich am Thore durchgehauen
Und ihre Wach' erschlagen hab' im Streit.
Als ob sie sterbe, war sie anzuschauen;
Sie schlug sich ins Gesicht, zerriß ihr Kleid
Und schalt sich selbst die thörichtste der Frauen,
Und sie befahl, daß man die Trommeln rühre
Und all ihr Volk nach ihrer Hauptstadt führe.
13  Dann bildet sie zwei Haufen, einen, der
Auf Rogers Fährte das Gebirg erklimme,
Den andern Haufen an der Hafenwehr,
Damit auf Barken er die Flut durchschwimme;
Unter den Segeln schwarz erscheint das Meer.
Mit diesen fährt Alcina; blind vor Grimme
Und von Begier nach Rogern ganz entfacht,
Läßt sie die Stadt schutzlos und unbewacht.
14  Nicht einen Wächter läßt sie im Palaste,
So daß Melissa, die am Posten stand,
Um alles zu befrein, was die verhaßte
Tyrannin dort in Elend hielt gebannt,
Die Muß' und Zeit gewann, wie es ihr paßte,
Umherzugehn, zu suchen was sich fand,
Siegel zu lösen, Bilder zu verbrennen,
Und Rauten, Knoten, Schleifen aufzutrennen. 213
15  Dann eilte sie ins Feld und gab den alten
Liebhabern, die verwandelt auf der Flur
Als Quellen, Felsen, Bäume, Thiergestalten
Sich fanden, ihre frühere Natur.
Kaum fühlten die sich frei, da war kein Halten,
Sie alle folgten nach auf Rogers Spur
Zu Logistilla, um nach Haus zu fahren,
Zu Persern, Griechen, Indern und Tartaren.
16  Melissa schickte all' an ihren Ort
Mit einer Dankesschuld fürs ganze Leben;
Vor allem aber sorgte sie sofort
Astolfen menschliche Gestalt zu geben.
Das that die Sippschaft und das gute Wort,
Das Roger für ihn eingelegt, und neben
Den guten Worten gab er ihr den Ring,
Mit dessen Hilfe alles leichter ging.
17  Auf Rogers Fürwort kam der Herzog los
Von seinem Bann und stand wie neuerschaffen.
Melissen aber schien der Dienst nicht groß,
Verhülfe sie ihm nicht zu seinen Waffen,
Zur goldnen Lanze, deren erster Stoß
Den Gegner aus dem Sattel pflegt zu raffen,
Die erst dem Argalia, dann Astolfen
Zu großem Ruhm in Frankreich hat verholfen. 214
18  Melissa fand in des Palastes Thoren
Die goldne Lanze, die Alcina hier
Verbarg, und alles was Astolf verloren
In diesem ungastfreundlichen Quartier.
Sie stieg auf's Roß des zauberkund'gen Mohren,
Astolf fand Raum zum Sitzen hinter ihr,
Und so zur weisen Logistilla flog er
Noch eine Stunde zeitiger als Roger.
19  Durch rauhe Felsen, dichte Dorngehege
Wand Roger nach demselben Ziele sich
Von Schlucht zu Schlucht, von Steg zu neuem Stege,
Und jeder einsam, wild und schauerlich.
Am End' erreicht' er auf mühsamem Wege
Am glüh'nden Mittag einen Küstenstrich,
Der frei nach Süden zwischen Berg und Meer
Dalag, verdorrt und nackt und öd' und leer.
20  Auf nahe Hügel prallte Sonnenbrand,
Und von der Glut, die sie ausströmen ließen,
Kochte die Luft und kochte rings der Sand;
Auch mindre Hitze brächte Glas zum Fließen.
Die Vögel sitzen still an schatt'ger Wand,
Und nur wo dichtbelaubt die Sträucher sprießen,
Betäubt der Grille lästiges Getön
Gebirg und Thal und Meer und Himmelshöhn. 215
21  Der Durst, die Hitz' und Unbequemlichkeit
Des Weges auf dem tiefen sand'gen Pfade
Gaben dem Jüngling lästiges Geleit
An diesem nackten, sonnigen Gestade.
Indeß mich dünkt, wenn ich die ganze Zeit
Stets von demselben spräche, wär' es Schade;
Darum verlass' ich Roger halbgesotten
Und seh' mich nach Rinald um bei den Schotten.
22  Rinald war von dem König gut empfangen
Und von der Tochter und der Nation.
Bei größrer Muße sagt' er sein Verlangen,
Das ihn dorthin geführt hat, für den Sohn
Pipins den nöt'gen Beistand zu erlangen
Vom schottischen und auch von Englands Thron,
Und zu der Bitte fügt' er bünd'ge Schlüsse
Und Gründe noch, weshalb man helfen müsse.
22  Der König gab ihm alsobald Bescheid:
Er sei, soviel in seinen Kräften liege,
Dem Kaiser und dem Reiche dienstbereit,
Zum Vortheil ihm zu helfen und zum Siege,
Und wolle Reiterei in kurzer Zeit,
Soviel er könne, stellen zu dem Kriege,
Und wär' er selbst nicht allzu hoch in Jahren,
Würd' er als Feldherr mit nach Frankreich fahren. 216
24  Selbst diese Rücksicht wäre nicht im Stande
Ihn abzuhalten mit dem Heer zu gehn,
Wenn nicht sein Sohn an Kraft und an Verstande
Höchst tüchtig wär' dem Ganzen vorzustehn.
Zwar augenblicklich weil' er nicht im Lande,
Doch hoff' er ihn in Kürze hier zu sehn,
Bis man derweil die Rüstungen beende,
So daß er gleich das Heer beisammen fände.
25  Und also schickt' er durch sein ganzes Land
Schatzmeister aus, die warben Volk und Rosse;
Fahrzeuge rüstet' er und Proviant
Und reichlich Geld und Waffen und Geschosse.
Rinald ging während deß nach Engelland,
Und höflich gab der König ihm vom Schlosse
Bis Berwick das Geleit mit all den seinen,
Und als er ihn entließ, sah man ihn weinen.
26  Hier ging Rinald an Bord bei günst'gem Wind,
Und alle nahmen Abschied von dem Ritter.
Das Tau ward losgemacht, und nun geschwind
Ging es dahin, wo salzig schon und bitter
Die schöne Thems' in salze See zerrinnt.
Von dort sodann, vor starkem Flutstrom glitt er
Rudernd und segelnd auf geschützter Bahn,
Bis sie am Ufer London liegen sahn. 217
27  Rinald hatt' aus des Königs Otto Hand,
Der vorzog in Paris bei Karl zu bleiben,
Aufträg' erhalten, und geschrieben stand
In seiner Vollmacht und des Königs Schreiben:
Der Prinz von Wales soll' alles, was im Land
An Mannschaft und an Pferden aufzutreiben,
Einschiffen nach Calais mit Wehr und Waffen,
Um Karl und Frankreich Hilfe zu verschaffen.
28  Seitdem der König nach Paris gegangen,
Saß dieser Prinz statt seiner auf dem Thron.
Den König selber hätt' er nicht empfangen
Mit solchen Ehren wie des Haimon Sohn.
Sodann erfüllt' er schleunig sein Verlangen;
Die ganze kriegerische Nation
Britanniens und der Inseln in der Runde
Entbot er an die See auf Tag und Stunde.
29  Ich mach' es so, mein Gönner und Patron,
Wie gute Musiker auf ihren Geigen,
Die oft die Saite wechseln und den Ton
Und bald hinab, bald in die Höhe steigen.
Kaum red' ich von Rinald, so fühl' ich schon,
Ich kann auch von Angelica nicht schweigen,
Die ich verließ, als sie vor ihm verschwand
Und auf der Flucht den Eremiten fand. 218
30  Da setz' ich die Geschicht' ein Weilchen fort.
Ich hab' erzählt, wie sie den Weg erfragte,
Die nächste Straße nach dem Meeresbord;
Denn übers Meer entfliehn will die verzagte;
Europa bietet keinen sichern Ort,
Seit ihr Rinald Angst in die Glieder jagte.
Der Klausner wußt' indeß sie hinzuhalten;
Denn ihre Gegenwart gefiel dem Alten.
31  Die hohe Schönheit hat sein Herz entfacht,
Und Feuer scheint durchs kalte Mark zu gleiten;
Doch als er sieht, sie giebt auf ihn nicht Acht
Und will ihn nicht in sein Asyl begleiten,
Spornt er den Esel an mit aller Macht.
Der aber ist gewohnt langsam zu schreiten
Und geht zur Not nur Schritt, geschweige Trab,
Und sich zu strecken lehnt er vollends ab.
32  Und weil sie weit voraus war mit dem Pferde
Und er wahrscheinlich bald die Spur verlor,
So sucht er Beistand unterhalb der Erde
Und rief von Teufeln einen ganzen Chor.
Und einen wählt er aus der schwarzen Herde,
Dem schrieb er, was zu thun sei, deutlich vor
Und hieß ihn in das Pferd sich einzuschwärzen,
Das fortlief mit der Dam' und seinem Herzen. 219
33  Und wie die klugen Hunde, die verstehn
Fuchs oder Hasen im Gebirg zu jagen,
Wenn sie das Wild zur Rechten laufen sehn,
Dann links sich halten, nach der Spur nicht fragen;
Hernach am Passe sieht man sie schon stehn,
Das Wild im Maul, die Zähn' ins Fell geschlagen:
So wird der Klausner von ganz andrer Seite
Die Dam' erwischen, wie sie immer reite.
34  Was er im Schilde führte, seh' ich klar,
Und später denk' ich auch es mitzutheilen.
Angelica, die deß unkundig war,
Ritt Tag für Tag, bald viel, bald wenig Meilen.
Im Pferde stak der Teufel unsichtbar,
Wie Feuer auch unsichtbar bleibt bisweilen
Und dann hernach so mächt'ge Glut gewinnt,
Daß man's nicht dämpfen kann und kaum entrinnt.
35  Weil sie den Weg am Meere vorgezogen,
Dem großen Meer, das die Gascogner netzt,
Hält sie den Zelter nah am Rand der Wogen,
Wo er auf festen Sand die Füße setzt.
Der wird vom bösen Geist hinabgezogen
Ins Wasser, und im Wasser schwimmt er jetzt.
Das arme Mädchen bebt am ganzen Leibe
Und sieht nur zu, daß es im Sattel bleibe. 220
36  Sie reißt am Zaum, doch läßt er sich nicht halten,
Weiter und weiter stürmt er fort ins Meer.
Sie zog die Füß' empor und hielt die Falten
Des Rockes hoch; sonst würd' er naß und schwer.
Die Haar' im Nacken lösten sich und wallten,
Und buhlend fiel die Luft darüber her;
Still aber hielten sich die größren Winde,
Zuschauend wohl dem schönen Menschenkinde.
37  Die schönen Augen – ach vergebens – flogen
Von Thränen quellend rückwärts nach dem Strand;
Sie sah das Ufer, wie es in den Wogen
Tiefer und tiefer sank und fast verschwand.
Da plötzlich schwamm der Zelter rechts im Bogen
Zurück und trug sie an ein trocknes Land
Zu finstren Klippen, schauerlichen Schlünden,
Und schon begann die Nacht sich anzukünden.
38  Allein an diesem öden Küstenstrich,
Deß bloßer Anblick sie erschrecken müßte,
Als Phöbus eben in das Meer entwich,
Und dunkel wurden Luft und See und Küste,
Stand sie so regungslos, daß sicherlich,
Wer jetzt sie sähe, nicht zu sagen wüßte,
Ob sie lebendig sei und Fleisch und Bein,
Ob eine Statue von bemaltem Stein. 221
39  Fest angewurzelt, wo der Sand zerrann,
Die Locken wirr ums Haupt und im Genicke,
Die Arme schlaff, die Lipp' in starrem Bann,
Hob sie gen Himmel die erloschnen Blicke,
Als klage sie den großen Lenker an,
Der ihr zum Unheil wende die Geschicke.
Ein Weilchen stand sie reglos, dann erschlossen
Die Lippen sich dem Schmerz, die Augen flossen.
40  Sie sprach: »Was kann ich, Schicksal, dir noch geben,
Um dich zu sättigen in deiner Gier?
Was hab' ich noch als dies armsel'ge Leben?
Das Leben aber willst du nicht von mir.
Denn als sein Ende nah schien, war's dein Streben
Mich aus dem Meer zu ziehn, und ich bin hier,
Damit du noch zuvor dich weiden könnest
An meiner Qual, eh du den Tod mir gönnest.
41  »Doch weiß ich nicht, was könnte mir noch drohn,
Was ärgres noch als mir bereits geschehen?
Schon hast du mich verjagt vom Königsthron,
Und schwerlich werd' ich je ihn wiedersehen;
Ja, meine Ehre selbst verlor ich schon,
Denn ob auch rein von wirklichem Vergehen,
Geb' ich doch Stoff, daß jeder sagt, wer flüchtig
Und unstät sei wie ich, der sei nicht züchtig. 222
42  »Was hat ein Mädchen noch auf Erden hier,
Wenn ihr der Ruf der Keuschheit kömmt abhanden?
Ach, daß ich jung bin, wird zum Schaden mir,
Und daß die Leute leider schön mich fanden.
Ich danke nicht dem Himmel für die Zier,
Denn all mein Unheil ist aus ihr entstanden;
Mein Bruder Argalia starb um sie
Trotz Zauberwehr und Künsten der Magie.
43  »Um sie kam Agrican mit den Tartaren
Und stürzte meinen Vater Galafron,
Dem Indien und Katai botmäßig waren.
Ich selbst bin mit genauer Not entflohn
Und muß von Land zu Lande ruhlos fahren.
Gut, Ehre, Freunde raubtest du mir schon,
Thatest mir jedes Leid, soviel du Macht hast, –
Was ärgres giebt's, das du mir zugedacht hast?
44  »Wenn es zu wenig war für deine Gier,
Daß ich erstickt in jenem Meer verschwände,
Wohlan so schicke mir ein wildes Thier,
Das mich verschling' und rasch mein Leben ende.
Für jede Marter, wahrlich, würd' ich dir
Dank wissen, wenn ich so den Tod nur fände.«
So spricht die arme Dulderin und weint,
Als neben ihr der Eremit erscheint. 223
45  Von einer Felsenspitze, wo er stand,
Hatt' er Angelica auf's Korn genommen,
Die unten mittlerweil am Uferrand
Wehklagte, ganz verstört, von Schmerz beklommen.
Ein Dämon hatt' ihn abgesetzt am Strand,
Und vor sechs Tagen war er schon gekommen.
Und Andacht heuchelnd zu dem Mädchen trat er,
Wie ein Apostel oder Kirchenvater.
46  Als sie ihn kommen sah, gewann die arme,
Die ihn noch wenig kannte, neuen Mut.
Noch war ihr Antlitz bleich von all dem Harme,
Doch wich die Angst und ruhig ward ihr Blut.
Sobald er näher kam, sprach sie: »Erbarme
Dich, Vater, mein; die Fahrt verlief nicht gut.«
Und schluchzend, daß sie oft einhalten mußte,
Erzählte sie ihm das, was er schon wußte.
47  Der Eremit beginnt ihr Trost zu spenden
Mit schönen Sprüchen, wie ein Pred'ger pflegt,
Und naht zugleich ihr mit den dreisten Händen,
Die er an ihre Brust und Wange legt.
Dann kühner will er mit Umarmung enden;
Doch sie, mit reizender Entrüstung, schlägt
Ihn vor die Brust und stößt zurück sein Werben,
Und sittsam Rot beginnt sie ganz zu färben. 224
48  Er hatt' am Gürtel eine Tasch', und schnelle
Holt er ein Fläschchen Saft heraus und spritzt
In jene mächt'gen Augen, deren Helle
Die hellste Fackel Amors überblitzt,
Ein Tröpfchen der Essenz, die auf der Stelle
In Schlaf sie zu versenken Macht besitzt.
Schon liegt sie auf dem Sand, wie ohne Leben,
Dem räuberischen Alten preisgegeben.
49  Und nun umarmt er sie, wie's ihm gefällt,
Und hindern kann sie nichts, vom Schlaf befangen,
Und niemand sieht's auf diesem öden Feld,
Wie er den Mund ihr küßt und Brust und Wangen.
Doch bei dem Treffen lahmt sein Gaul und fällt;
Das schwache Fleisch gehorcht nicht dem Verlangen;
Es ist zu alt und taugt nicht für das Spiel;
Je mehr er's hetzt, je weiter bleibt's vom Ziel.
50  Auf alle Art versucht er es, allein
Der faule Klepper will trotzdem nicht springen;
Kein Spornen hilft und keine Müh und Pein;
Kopf hoch zu halten kann er ihn nicht zwingen.
Am Ende schläft er bei dem Mädchen ein,
Das schon bedroht ist von noch schlimmren Dingen.
Das Schicksal fängt nicht um geringes an,
Wenn es zum Spielball wählt Weib oder Mann. 225
51  Ebuda ist der Name einer von den römischen Schriftstellern erwähnten Insel im Norden von Schottland, in der man eine der Hebriden erkennen will.  Ich geb' euch die Geschichte gleich zum besten,
Doch ohne ein'gen Umweg geht's nicht gut.
Im Ocean des Nordens liegt, im Westen
Von Irland, eine Insel in der Flut,
Namens Ebuda, deren Volk zu Resten
Zusammenschmolz, seit wilde Meeresbrut,
Die böse Orca namentlich, es plagte,
Die Proteus' Zorn an diese Insel jagte.
52  Wahr oder falsch, in Büchern steht es so,
Daß einst ein König jenes Land regierte,
Der eine Tochter hatte, jung und froh,
Ein Mädchen, das Anmut und Schönheit zierte.
Und Proteus brannt' im Wasser lichterloh
So oft sie auf dem salz'gen Strand spazierte,
Und als er einst allein sie traf, bezwang er
Die Jungfrau, und sie ward vom Proteus schwanger.
53  Dem Vater deucht' unleidlich diese Schmach,
Der streng war, völlig fremd den sanftren Trieben.
Kein Mitleid rührt' ihn, nichts, was für sie sprach,
Bewog zur Gnad' ihn; Zorn war Herr geblieben;
Und ob er schon sie schwanger sah, er brach
Den Stab und ließ das Urtheil nicht verschieben.
Das Enkelkind, das Unrecht nie begangen,
Starb, eh es noch zu leben angefangen. 226
54  Proteus, der wilde Herden ohne Zahl
Für Gott Neptun den Meerbeherscher hütet,
Hat drauf in Zorn und bittrer Herzensqual
Wider Gesetz und Ordnung blind gewütet.
Er schickt ans Land den Robben und den Wal,
Was nur die See an Ungeheuern brütet,
Und die verschlingen nicht bloß Schaf' und Rinder,
Auch Höf' und Dörfer und die Menschenkinder,
55  Und kommen oft genug bis vor die Mauern
Der Städt' und halten rings das Land besetzt.
Die Wachen stehen Tag und Nacht und lauern
In Wehr und Waffen, bang und abgehetzt,
Und längst vom Feld' entflohn sind alle Bauern.
An das Orakel schickte man zuletzt,
Um Rat zu holen wider solches Leiden,
Und das Orakel ließ sie so bescheiden:
56  Man müsse sehn, daß man ein Mädchen finde,
So schön wie jene andre war vorher;
Die bringe man als Sühn' und Angebinde
Für den Verlust dem zorn'gen Gott ans Meer.
Find' er Gefallen an dem schönen Kinde,
So nehm' er's mit und plage sie nicht mehr;
Wo nicht, so schaffe man noch eins herbei
Und wieder eins, bis er zufrieden sei. 227
57  Und so begann der Mädchen Angst und Not,
Die hold von Antlitz waren und Geberde;
Denn täglich trug man eine fort und bot
Sie Proteus dar, ob sie ihm munden werde.
Die erste fand und jede fand den Tod;
Denn nach dem Abzug der gefräß'gen Herde
Blieb eine Orca dort zurück im Sund
Und schlang sie all' hinab in ihren Schlund.
58  Ob dies von Proteus wahr ist oder Sage,
(Was nicht mehr festzustellen,) kurz und gut,
Auf jener Insel galt, den Frau'n zur Plage,
Von Alters her ein greuliches Statut,
Daß man die Orca, die mit jedem Tage
Sich einfand, nährt mit ihrem Fleisch und Blut.
Ein Weib zu sein ist überall und immer
Ein Nachtheil, aber dort ein doppelt schlimmer.
59  Wehe den Mädchen, die des Schicksals Groll
Verschlägt nach diesem schrecklichen Reviere!
Am Meere steht das Volk, und schaudervoll
Macht es das fremde Weib zum Opferthiere;
Denn zahlen sie mit fremdem Gut den Zoll,
Erschöpft mit mindrer Schnelle sich das ihre.
Indeß nicht jeder Wind weht Beut' ans Land,
Drum kreuzen sie auf Raub von Strand zu Strand. 228
60  Das ganze Meer durchkreuzen sie in Waffen,
In Kutter, Jacht und manchem Ruderboot,
Und in der Näh' und in der Ferne raffen
Sie Zufuhr auf für ihre große Not.
Bald muß das Schwert die Weiber ihnen schaffen,
Bald Schmeichelei, bald klingendes Gebot,
Und immer haben sie die Thürm' und Vesten
Voll von Gefangenen ans Ost und Westen.
61  Von ihren Kreuzern nun fuhr einer nah
Vorbei an dem verlassnen Küstenrande,
Wo die unglückliche Angelica
Zwischen den Sträuchern schlief auf grünem Strande.
Ein Paar Matrosen landeten allda,
Wasser und Holz zu holen für die Bande
Und fanden dort die Blum' und Perle süßer
Holdseligkeit, umarmt vom frommen Büßer.
62  O allzureicher Raub, zu edler Fund
Für so barbarische, so rohe Diebe!
O unbarmherzig Glück, hier ward es kund,
Wie stark du bist in diesem Weltgetriebe!
Daß du die hohe Schönheit in den Schlund
Des Unthiers jagst, der Agrican zu Liebe
Vom Thor des Caucasus bis Indien ritt
Und mit halb Scythia den Tod erlitt! 229
63  Die hohe Schönheit, welcher Sacripant
Die Ehre wie den Thron zum Opfer brachte,
Die hohe Schönheit, die den Heldenstand
Und großen Geist des Roland trübe machte,
Die hohe Schönheit, die ganz Morgenland
Bald zähmte, bald zu heller Wut entfachte,
Jetzt hat sie keinen (denn sie blieb allein)
Der nur mit Worten hülf' in ihrer Pein.
64  Bevor sie nur erwacht, war sie gefangen;
So führten sie die schlafbetäubte fort.
Und auch den Bruder Hexenmeister zwangen
Die finstren Leut' und schleppten ihn an Bord.
Nun schwoll das Segel wieder an den Stangen
Und brachte schnell sie an den Schreckensort.
Dort wird sie eingesperrt und wohl verriegelt
Bis zu dem Tage, der ihr Loos besiegelt.
65  Jedoch die Schönheit hatt' in den Barbaren
Mitleid erweckt, und aller Wunsch gebot
Das Leben dieses Opfers aufzusparen
Bis zu dem Augenblick der größten Not.
Solange Fremde noch zu haben waren,
Blieb diese Engelsschönheit unbedroht.
Am Ende führte man auch sie zum Strande,
Und weinend folgt' ihr alles Volk im Lande. 230
66  Die lauten Klagen, die zum Himmel drangen,
Wer schildert sie und das Geschluchz und Schrei'n?
Mich wundert, daß die Felsen nicht zersprangen,
Als man sie festband auf dem kalten Stein,
Von Hilfe fern, mit Ketten schwer behangen,
Um grauenhaftem Tode sie zu weihn.
Ich kann's nicht sagen; Schmerz und Rührung zwingen
Mich, meine Reim' in andres Gleis zu bringen.
67  Und minder graus'ge Verse muß ich machen,
Bis mein gebeugter Geist sich ausgeruht.
Gejammert hätt' es ja den schupp'gen Drachen,
Hätt' es die Tigerin in ihrer Wut,
Gejammert hätt' es in Aegyptens Lachen,
In Wüsten Afrika's die gift'ge Brut,
Wenn sie's gesehen, nur gedacht sich hätten,
Angelica am nackten Fels in Ketten!
68  O daß ihr Roland ihre Not nicht weiß,
Der in Paris sie sucht an allen Enden,
Und jene beiden, die der schlaue Greis
Durch seinen Höllenspuk verstand zu blenden!
Sie gäben gern sich tausend Toden preis,
Wenn sie die Spur, die engelschöne, fänden.
Doch wüßten sie auch drum, was hülf' es noch?
Ach, allzu weit war die Entfernung doch. 231
69  Paris inzwischen ward, wie wir gesehen,
Vom stolzen Sohn König Trojans berannt,
Und eines Tags schien es um sie geschehen,
Fast fiel die Stadt in ihres Feindes Hand,
Und hätte nicht, versöhnt durch frommes Flehen,
Der Himmel dunkle Regenflut gesandt,
Ging an dem Tage vor dem Speer des Mohren
Das heil'ge Reich und Frankreichs Ruhm verloren.
70  Der ew'ge Schöpfer sah mit mildem Blicke
Des greisen Karl gerechte Trauer an
Und sandte Regen, der den Brand ersticke,
Als Menschenwitz umsonst auf Hilfe sann.
Wohl ihm, der Gott anruft im Misgeschicke,
Der besser uns als andre helfen kann!
Wohl sah der fromme König und erkannte,
Daß Gott es war, der ihm die Hilfe sandte.
71  Die Nacht auf diesen Tag schlief Roland nicht;
Dem Pfühl vertraut' er stürmische Gedanken,
Die bald zerstreut, bald auf ein Ziel erpicht
Hinflatterten und nie in Schlummer sanken,
Wie klarer Wellen zitterhaftes Licht,
Wann Mondschein oder Sonn' im Wasser schwanken,
Mit weiten Sprüngen längs der Häuser schlüpft
Und rechts und links und auf und nieder hüpft. 232
72  Ihr Bild erschien ihm wieder, (oder treuer
Es auszudrücken) nie verließ es ihn,
Und schürt' in seinem Herzen jenes Feuer,
Das über Tag in Schlaf gefallen schien.
Sie kam mit ihm durch tausend Abenteuer
Fern von Katai, um nun im West zu fliehn,
Und nimmer ward er ihres Anblicks froh,
Seit Karl geschlagen wurde bei Bordeaux.
73  Dies schmerzte Roland sehr, und jetzt, allein,
Bereut' er seinen Unverstand und klagte:
»Mein Herz,« so sprach er, »schmählich hab' ich dein
Mich angenommen, daß ich es nicht wagte,
Bei Tag und Nacht dir immer nah zu sein,
Da deine Güte mir es nicht versagte,
Daß ich zu Naims dich gehn ließ und nicht wußte
Dies Unrecht abzuwehren, wie ich's mußte.
74  »Dich zu behalten, war's zu viel begehrt?
Karl hätt' am Ende mit sich reden lassen.
Und wenn auch nicht, wer hätt' es mir gewehrt?
Wer wagte mir zum Trotz dich anzufassen?
Konnt' ich's nicht lieber hindern mit dem Schwert?
Mir lieber nicht das Herz ausreißen lassen?
Doch Karl und seine ganze Ritterschaft
Hatte, dich mir zu rauben, nicht die Kraft. 233
75  »Und hätt' er nur sie nach Paris gebracht,
An einen sichren Ort mit Wall und Gräben!
Da er dem Naims sie gab, war's ausgemacht,
Ich sollt' auf immer sie verloren geben.
Welch andrer hätte besser sie bewacht
Als ich? Ich mußt' es, mußt' auf Tod und Leben
Sie hüten, besser als mein Augenlicht;
Ich mußt' und konnt' es thun, und that es nicht.
76  »Weh mir, wo bist du, Wonne meines Lebens,
Wo bist du, ohne mich, so jung und schön?
Wie das verirrte Lamm voll Angst und Bebens
In dunkler Nacht auf wald'gen Bergeshöhn
Hierhin und dorthin läuft und hofft vergebens,
Der Hirte werde hören sein Gestöhn,
Bis dann der Wolf es hört, der ferne lauert,
Und ach umsonst der Hirt sein Lamm betrauert.
77  »Wohin, mein Hoffnungsstern, bist du entschwunden?
Irrst du vielleicht noch einsam durch das Land?
Hat dich vielleicht der böse Wolf gefunden,
Fern von dem Schutze dieser treuen Hand?
Und an der Blume, die mir Götterstunden
Gewähren konnte, – doch ich widerstand,
Um nicht die keusche Seele dir zu trüben, –
Wird nun der Räuber schnöden Frevel üben. 234
78  »O Pein! o Qual! was will ich noch als sterben,
Wenn fremder Raub mir diese Blume bricht?
Allmächt'ger, foltre mich mit allem Herben,
Mit jedem Schmerz, nur mit dem einen nicht!
Wenn's wahr ist, stürz' ich selbst mich ins Verderben,
Die Seele fahr' verzweifelnd ins Gericht!«
So mächtig jammernd, mit so tiefem Grame
Wehklagte Roland um die schöne Dame.
79  Schon ruhen Mensch und Thier; die müden Glieder
Und die bedrängten Seelen schlafen ein,
Die auf dem Rasen, die in Lind' und Flieder,
Die auf den Daunen, die auf hartem Stein;
Du senktest, Roland, kaum die Augenlider,
Gestachelt von der scharfen Herzenspein,
Und selbst den kurzen, flücht'gen Schlummer ließen
Die Sorgen dich in Frieden nicht genießen.
80  Ihm war's, als ob er nah auf grünem Rain,
Den rings ein Flor duftreicher Blumen stickte,
Den schönen Purpur und das Elfenbein,
Das Amors eigne Hand gemalt, erblickte,
Und jene lichten Sterne, deren Schein
Im Netz der Liebe seine Seel' erquickte,
Das Antlitz mein' ich und des Auges Strahlen,
Die ihm das Herz aus seinem Busen stahlen. 235
81  Er fühlte höchste Wonn' und Seligkeit,
Wie ein Verliebter, den die Lieb' erhörte.
Da plötzlich kam ein Sturm, der weit und breit
Die Blumen wegriß und den Hain zerstörte.
Ein Wetter war's, als ob zu gleicher Zeit
Westwind und Nord und Südwind sich empörte.
Ihm war's als ob in einer Wüstenei
Er Obdach such' und nirgend Obdach sei.
82  Verschwunden ist mit einem Mal die Dame,
Nur Finsterniß, wohin sein Auge trifft.
Er ruft sie hier und dort, ihr schöner Name
Hallt wider von Gehölz und Flur und Trift;
»Unsel'ger!« spricht er, übermannt vom Grame,
»Wer wandelt deine Süßigkeit in Gift?«
Da hört er plötzlich die Geliebte flehen,
Die weinend ihn beschwört ihr beizustehen.
83  Dem Schall des Hilferufs folgt er im Nu,
Und o in welcher Pein, furchtbarer, grimmer,
Durchsucht er alles ohne Rast und Ruh
Und findet nicht der lieben Augen Schimmer!
Horch, eine andre Stimme ruft ihm zu:
»Je ihrer zu genießen hoffe nimmer!«
Bei diesem fürchterlichen Schrei, entsetzt,
Fährt er empor, von Thränen ganz benetzt. 236
84  Uneingedenk, wie trüglich Bilder necken,
Die Sehnsucht oder Furcht im Traume sieht,
Malt er sich aus, in welche Nöt' und Schrecken
Das Mädchen wohl auf ihrer Flucht geriet,
Und wie ein Blitzstrahl fährt er aus den Decken.
In Stahl und Eisen hüllt er sich und zieht
Aus seinem Stalle Güldenzaum, den Rappen,
Und fordert keinen Dienst von seinen Knappen.
85  Amostant soll ein saracenischer Titel sein.  Um frei auf jedem Pfad umherzustreichen,
Den ihm die Würde sonst vielleicht verbot,
Verschmäht' er jenen Schild, den ehrenreichen,
Mit den bekannten Feldern weiß und rot;
Nichts wollt' er tragen als ein schwarzes Zeichen,
Vielleicht als Sinnbild seiner Herzensnot;
Das hatt' ein Amostand vordem getragen,
Den Roland selbst vor Jahren hatt' erschlagen.
86  Brandimart ist der Sohn des Königs Monodant, welcher im indischen Ocean ein Inselreich beherrscht. Bojardo erzählt, wie Roland den Brandimart und seine schöne Flordelis in Asien trifft, sie zum Christentum bekehrt und tauft, und wie Brandimart seit dem Augenblicke dem Roland unverbrüchliche Freundschaft hält.  Um Mitternacht schwang er sich still aufs Roß,
Ohne den Ohm zu grüßen und zu fragen,
Selbst ohne Brandimarten, der Genoß
Und liebster Freund ihm war, Ade zu sagen.
Doch als Apoll vor Tithons reichem Schloß
Goldlockig stieg auf seinen Sonnenwagen
Und vor sich her die feuchten Schatten trieb,
Hört Karl, daß Roland nicht am Platze blieb. 237
87  Misfällig hörte Karl, sobald es tagte,
Daß ihm sein Neffe fortgeritten sei
Und seine Hilf' ihm in der Not versagte.
Nicht zwang er seinen Zorn, daß er nicht frei
Sich über ihn beschwert' und bitter klagte,
Und manches Wort des Tadels fiel dabei,
Und wenn der Graf nicht wiederkommen wolle,
So drohte Karl, daß er es büßen solle.
88  Und Brandimart, der Roland innig liebt,
Bleibt auch nicht dort bei so bewandten Dingen,
Sei's weil man Roland böse Namen giebt,
Sei's weil er hofft ihn nach Paris zu bringen.
Kaum daß er's bis zur Dunkelheit verschiebt
Sich aufzumachen und aufs Pferd zu schwingen.
Der Flordelis verschweigt er's mit Bedacht,
Damit sie ihm nicht Schwierigkeiten macht.
89  Er liebte Flordelis wie auf der Erde
Kein andres Weib, und er verließ sie nie,
Der hohe Schönheit, Anmut der Geberde
Und Geist und Klugheit die Natur verlieh.
Und stieg er ohne Abschied doch zu Pferde,
So that er's in dem Wahn, er werde sie
Noch heute wiedersehn. Das Schicksal machte
Die Trennung aber länger als er dachte. 238
90  Ein Mond verstrich in Harren und in Bangen,
Er kam nicht wieder, gab auch nicht Bescheid,
So daß sie endlich, brennend vor Verlangen,
Aufbrach und ohne Führer und Geleit
Im Land' umherzog, um ihn einzufangen,
Wie ich erzählen werde seiner Zeit.
Jetzt sag' ich weiter nichts von ihren Leiden,
Denn Roland ist mir wicht'ger als die beiden.
91  Der kömmt inzwischen (ohn' Almonte's welt-
Bekanntes Wappen) an die Gitterpforte.
Dem Hauptmann, der am Thor die Wache hält
Sagt' flüsternd er ins Ohr drei kurze Worte,
»Ich bin der Graf,« und wie die Brücke fällt,
Wählt er den nächsten Weg zum nächsten Orte,
Wo Feinde sind. Was er daselbst getrieben,
Das steht im folgenden Gesang geschrieben. 239

 
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