Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Dritter Band
Berthold Auerbach

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Viertes Kapitel.

Mitternacht war nahe, als die Reisenden auf Schloß Wildenort ankamen.

Der Diener sagte, der Graf schliefe, der Arzt aus dem Thale sei bei ihm.

Als die Ankömmlinge in das Vorzimmer traten, kam der Landarzt aus dem Krankenzimmer ihnen entgegen; er wollte Gunther den Fall mitteilen. Gunther bat, erst dann, wenn er selbst den Kranken gesehen, ihm Bericht zu erstatten. Leise ging er mit Irma und Bruno in das Krankenzimmer.

Eberhard lag, den Kopf von hochaufgeschichteten Kissen gehalten, im Bett, seine Augen standen offen; er starrte die Ankommenden an, regungslos, als wären es Traumgestalten.

»Eberhard! Von Herzen grüße ich dich,« sagte Gunther. In den Mienen des Kranken zuckte es; er bewegte rasch die Augenlider auf und ab und streckte tastend dem alten Freund die Hand entgegen, aber die Hand sank auf die Bettdecke; Gunther ergriff sie und hielt sie fest.

Irma stand regungslos, sie konnte kein Wort hervorbringen, kein Glied bewegen.

»Wie geht's Ihnen, Papa?« fragte Bruno.

Als wäre ein Schuß an seinem Ohr vorbeigesaust, so rasch wendete sich Eberhard und winkte, daß Bruno das Zimmer verlasse.

Irma kniete am Bett nieder, Eberhard tastete ihr mit zitternder Hand über das Gesicht, seine Hand wurde naß von ihren Thränen, aber plötzlich zog Eberhard die Hand zurück, als hätte er ein giftiges Tier berührt, er wendete das Gesicht ab und preßte die Stirn an die Wand. So lag er lange.

Weder Gunther noch Irma sprachen ein Wort; die Stimme versagte ihnen vor dem, dem das Wort versagt war. Jetzt wendete sich Eberhard wieder um und winkte der Tochter mit sanfter Bewegung, daß auch sie das Zimmer verlasse. Sie ging.

Gunther blieb allein bei Eberhard. Seit dreißig Jahren hielten die Freunde zum erstenmal wieder einander. Eberhard führte die Hand Gunthers über seine Augen und schüttelte dann den Kopf.

Günther sagte: »Ich verstehe, du möchtest weinen und kannst nicht. Verstehst du alles, was ich spreche?«

Der Kranke nickte bejahend.

»So laß dich dünken,« fuhr Gunther fort, und seine Stimme hatte einen tief erquickenden Ton, »so laß uns dünken, die Jahre, die wir getrennt gelebt, seien eine Stunde. Unser Zeitmaß ist ein andres. Erinnerst du dich noch, wie du oft in gehobenen Momenten ausriefst: Nun haben wir wieder Jahrtausende gelebt?« – Ein Zucken ging durch das Antlitz des Kranken, ein unterbrochenes, wie wenn ein Weinender plötzlich, von einem freundlichen Gedanken angemutet, lächeln sollte und doch nicht kann.

Eberhard versuchte, auf der Bettdecke Schriftzeichen zu machen, Gunther verstand sie nur schwer zu entziffern.

Der Kranke winkte nach einem Tische, auf welchem Bücher und Schriften lagen. Günther brachte mehrere herbei. Der Kranke winkte von neuem, keines war das rechte; endlich brachte Gunther ein kleines geschriebenes Heft. Auf dem Deckel stand das Wort »Selbsterlösung«. Der Kranke nickte froh, als grüßte er ein glückliches Begegnis.

»Das hast du selbst geschrieben. Soll ich dir daraus vorlesen?«

Der Kranke nickte rasch. Gunther setzte sich an das Bett und las:

»Für den Tag und die Stunde, da sich mein Denken verdunkeln will, sei mir dies zur Erleuchtung.

Ich habe immer in mich hineingedacht. Ich wollte mein eigen Selbst erfassen, wie es nicht ist in der Zeit, nicht bestimmt von einem Standorte, nicht von einer That. Ich sehe es, aber ich kann es doch nicht festhalten. Ein Tropfen Tau, eingeschlossen ins Herz eines Felsens.

Es gibt Stunden, wo ich das Ideal, noch mehr Stunden aber, wo ich die Karikatur meiner selbst bin. Wie fasse ich die wirkliche Wesenheit? Was bin ich?

Ich erkenne mich als etwas, das dem All und der Ewigkeit angehört.

Wenn ich das fasse, – es sind selige Minuten, die auch zu Stunden werden, – dann gibt es nur Leben, keinen Tod, weder für mich noch überhaupt in der Welt.

In meiner Sterbestunde mochte ich so klar und hell wie jetzt mir bewußt sein, daß ich in Gott bin und Gott in mir.

Mag die Religion die Wärme des Gefühls, den Glanz der Phantasie für sich in Anspruch nehmen – dafür stehen wir in der Klarheit, die Gefühl und Phantasie in sich schließt.

Oft in ruhelosen Tagen, da ich das Unendliche zwingen wollte, mir stand zu halten, war mir's, als löse ich mich auf und verschwimme und verschwinde. Ich wollte wissen: wie ist Gott?

Jetzt habe ich die Antwort unsres Meisters: wir haben keine bildliche Sinnesvorstellung von Gott, aber wir haben einen klaren Gedanken oder Begriff von ihm.

Das alte Wort: Du sollst dir kein Bild machen von Gott – heißt für uns: Du kannst dir kein Bild von Gott machen. Jedes Bild ist ein begrenztes, der Gottesgedanke der Begriff der Unbegrenztheit.

Wir müssen uns als einen Teil Gottes denken – lehrt Spinoza.

Indem mein Geist das Ganze zu erfassen strebte, habe ich erkannt, was es heißt: Der Menschengeist ist ein Teil des Gottesgeistes.

Aus dem ewig bewegten Meer taucht ein Tropfen auf, ist eine Sekunde – man nennt sie siebzig Jahre – sonnenhaft leuchtend und durchleuchtet, dann taucht der Tropfen wieder unter.

Der einzelne Mensch als solcher, wie er geboren und gebildet wird, ist gleichsam ein Gedanke, der auf die Schwelle des Bewußtseins Gottes tritt; stirbt er, so taucht er wieder unter die Schwelle des Bewußtseins. Er geht aber nicht zu Grunde, er bleibt in Ewigkeit, wie jeder Gedanke in seiner Nachwirkung bleibt.

Fasse ich nun eine Verkettung, eine Vielfältigkeit solcher Gottesgedanken und nenne ich sie Volk, so tritt der ganze Volksgenius auf die Schwelle des Bewußtseins, sobald das Volk auf die Höhe der Geschichte tritt.

Faßt man aber wieder die Völker in Eins zusammen, so ist dies eben die Menschheit, oder die Gesamtheit der Gedanken, das Bewußtsein Gottes und der Welt.

Oft wollte mich Schwindel fassen, wenn ich mich da hinan dachte, jetzt stehe ich fest auf der schroffen Spitze.

Wenn du kommst, du Stunde, die man die letzte nennt, dann ist mein letzter Wunsch, daß diese Gedanken mich noch einmal ganz durchglühen, auflösen und erlösen. Da gibt es getrennt kein endliches und kein unendliches Leben, sie fließen ineinander und sind eins.

Das klare Erkennen und das Bewußtsein, daß wir eins sind mit Gott und dem Ganzen, ist höchste Seligkeit. Wer dies Bewußtsein hat, der stirbt nicht, er lebt das ewige Leben.

Komm noch einmal zu mir, du Geist der Klarheit, in der Stunde, da ich untertauche ...

Es hängt Staub an meinen Flügeln, wie an den Flügeln der Lerche, die ich dort sich aufschwingen sehe aus der Ackerfurche in den Aether. Die Ackerfurche ist so rein wie der Aether, der Wurm wie die Lerche – im Verlorenen und scheinbar Versunkenen ist doch noch Gott. Und bricht mein Auge – ich habe das Ewige gesehen – mein Blick ist ewig. Frei über alle Verzerrung und Selbstverwüstung hinüber rauscht der ewige Geist.« – –

Gunther hatte gelesen, Eberhard legte ihm jetzt die Hand auf den Mund, dann schaute er ihm tief in die Augen.

»Du hast ehrlich mit dir und den höchsten Ideen gerungen,« sagte Gunther, aber in seiner Stimme zitterte noch ein andrer Schmerz als der über den Tod.

Eberhard schloß die Augen. Als Gunther sah, daß der Kranke fest schlief, erhob er sich.

Jetzt sah er, daß Irma hinter dem Bettschirm gesessen. Er winkte ihr, sie verließ mit ihm das Gemach.

»Sie haben alles gehört?« fragte Gunther.

»Ich kam erst vor wenigen Minuten.«

Irma verlangte volle Wahrheit über den Zustand ihres Vaters. Gunther gestand, daß keine Hoffnung auf Wiedergenesung vorhanden, nur die Stunde des Todes lasse sich nicht bestimmen. Irma bedeckte mit beiden Händen das Gesicht, dann kehrte sie wieder ins Krankenzimmer zurück. Dort saß sie hinter dem Bettschirm.

Im großen Saale saß Bruno, dem Landarzt gegenüber. Bei Gunthers Eintritt stand Bruno rasch auf, kam ihm entgegen und sagte hastig: »Unser Freund hier hat mir bereits Beruhigung gegeben; die Sache hat, gottlob« – die Zunge stolperte ihm bei dem Worte gottlob – »keine nahe Gefahr: beruhigen Sie nur auch meine Schwester.«

Gunther antwortete nichts. Er erkannte, wie Bruno sich den Anschein geben wollte, daß er von keiner nahen Gefahr wisse, und Gunther war Hofmann genug, um dem die Wahrheit nicht aufzudrängen, der sie nicht hören wollte. Er kehrte zu Irma zurück, Bruno folgte ihm und redete der Schwester Mut zu. Sie schüttelte den Kopf, er achtete nicht darauf und sagte, er wolle für die schwere Zeit, die bevorstehe, sich Kraft und Ausdauer holen; in der That aber wollte er ausreiten, um das Entsetzliche zu versäumen. Wozu sich Erschütterungen aussetzen, bei denen man nichts helfen kann?

Der Morgen begann zu dämmern. Der Kranke lag noch immer still.

»Er atmet leichter,« sagte Irma, die Worte kaum hinhauchend.

Der Arzt nickte beruhigend.


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