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Der König jagte im Hochgebirge; er war in Wahrheit ein Jäger; er ließ sich das Wild nicht vor den Lauf treiben, er stieg der Gemse nach auf den steilsten Berggrat, sein abgehärteter elastischer Körper überstand mit Leichtigkeit jede Strapaze und sein ganzes Wesen gewann sehnige Spannkraft und frischen Mut im Weidwerk.
Die Hofkavaliere hatten eine Witterung davon, daß im Geiste des Königs etwas vorging; die beständige und fast ausschließliche nächste Begleitung Bronnens war rätselhaft.
Es war bekannt, daß Bronnen es verweigert hatte, als Kriegsminister in das Ministerium Schnabelsdorf einzutreten; jetzt, hieß es, hat Schnabelsdorf den Nachteil davon, daß er nur am grünen Tisch Minister ist und nicht mit zur Jagd gehen kann. – Bronnen hat auf mehrere Tage das Ohr des Königs.
Die Büchsen knallten auf den Höhen und manches Tier erlag; die Büchsen knallten im Thal und ein Bruderpaar sank in den Tod, und in der Hauptstadt war ein Gerede, das wie Meeresbrausen tönte. – Die Königin vernahm von alledem keine Kunde; in ihren Gemächern war es still, nicht einen Fußtritt, nur manchmal leises Flüstern hörte man.
Die Königin hatte die Worte über den Tod Eberhards in der Zeitung mit Bitterkeit gelesen, und doch hatte die Zeitung dem, was die öffentliche Stimme sprach, noch mit Zurückhaltung Ausdruck gegeben.
Man erzählte sich Grausenhaftes vom Hofe. Die Königin sei bei der Nachricht vom Tode der Gräfin Wildenort in Wahnsinn verfallen.
Die Menschen ahnten nicht, was in diesem Gerücht lag. So schauervoll war nicht der Weg Irmas in jener Nacht über Berg und Thal, als der Gedankengang der Königin.
Sie dachte an Irma, sie haßte und verabscheute sie und doch beneidete sie ihr den Selbstmord – eine Königin darf sich nicht selbst morden; es ist unerhört in der Geschichte. Eine Königin muß warten, bis man sie langsam, etikettengemäß tötet, lebendig einbalsamiert, bis sie endlich tot ist, und dann noch wird sie nicht begraben, nein – beigesetzt in der Gruft ... Nur immer erhaben, nur immer droben. Nur um alles in der Welt keine Königin, die sich selbst mordet ...
Man wollte der Königin ihr Kind bringen; sie wollte es nicht sehen – Irma hat es geküßt. Sie rieb sich oft und oft die Hand und die Wangen; sie waren unrein, sie brannten – Irma hat sie geküßt.
Alles war ihr vernichtet: Liebe, Freundschaft, Glaube, Treue, die weite Natur, wie sie dem Auge sichtbar und dem Ohr hörbar, die Kunst des Bildes, des Klanges, des Wortes – alles war ihr verwüstet, denn alles hatte Irma besessen, erhöht, besprochen, und es war nun Lüge, Fratze geworden.
Schaudernd sprang die Königin einmal auf! Die strenge Folge der Gedanken muß den König zum Selbstmord zwingen. Er kann es nicht ertragen, daß die, die er zu Grunde gerichtet, noch so viel Mut und Geradheit hatte, nicht weiterleben zu wollen ... Er kann nicht weiterleben. Wie will er die Flinte auf ein unschuldiges Tier richten und nicht auf sich selbst?
Wer von Tausenden genannt und Tausenden verpflichtet ist, darf nicht selbst Hand an sich legen ... Wie durfte er aber sich ein Thun gestatten, das seine Erhabenheit tötet! Wo konnte er noch irgend Wahrheit verlangen, wenn er selbst ...
Die Königin fuhr wie wahnsinnig auf bei diesen Gedanken.
Die Menschen fabelten, die Königin sei wahnsinnig – ein dunkles Gefühl sagte ihnen, an welchem Abgrund sie wandelte.
Sie gab Befehl, daß niemand zu ihr eingelassen werde; sie schaute dabei lächelnd auf – sie kann noch befehlen, es gehorcht ihr noch etwas ...
Nach geraumer Zeit erhob sie sich und befahl, daß man den Leibarzt rufe; er erschien sogleich, er hatte im Vorgemach verweilt.
Die Königin berichtete ihm die ganze Wirrnis ihres Denkens, es erleichterte ihr das Herz; nur das eine konnte sie nicht sagen: daß sie doch fühle, wie der König sie liebte – so weit sein unsteter rastloser Sinn das aufkommen ließ, was Liebe zu nennen ist. Sie gestand dem Leibarzt alles, nur das eine nicht – sie schämte sich, daß sie noch jetzt einen Gedanken der Liebe mit dem König verband.
»Ach Freund,« – klagte sie zuletzt – »gibt es denn nicht auch ein Chloroform für die Seele, für eine Provinz in der Seele, einen Tropfen Lethe? Lehren Sie mich vergessen, stumpf sein. Ich vergehe im Denken.«
Der Leibarzt wollte nach seiner Weise und wie es seine Wissenschaft erheischte, nicht von Fall zu Fall heilen und flicken, er wollte den Organismus umstimmen. Hat die Königin gelernt, anders zu denken, so ist auch der nächste gegebene Fall in die entsprechende Perspektive gesetzt. Er tröstete daher nicht, er leitete ihre Gedanken nur weiter; deckte ihr die Gründe auf im Thun und Lassen der Menschen. Er behandelte sie nach dem großen Grundsatz jenes einsamen Philosophen, daß in allem Treiben der Menschen die Naturgesetze walten; hat man diese begreifen und verstehen gelernt, dann ist keine Rede mehr von Verzeihen, wenn gleich das Verzeihen mit eingeschlossen liegt in dem Erkennen der Naturnotwendigkeit.
In dieser Betrachtungsweise suchte Gunther wie nach einem Brande Schutt und rauchende Trümmer wegzuräumen; noch schlug da und dort bei der Hebung eine Flamme auf, aber sie war doch nur vereinzelt.
Die Königin klagte, wie sie nichts als das Chaos vor sich sehe; sie ging so weit, es einen Wahnwitz zu nennen, gut sein zu wollen. Gunther gab ihr keinen andern Trost als den, daß auch er den ganzen Jammer der Verzweiflung kenne; er gab sich nicht wie ein draußen in Geborgenheit stehender, der dem in Todesangst Ringenden zuruft: Komm zu mir, hier ist gut wohnen. – Er war ein Genosse des Elends. Er erzählte von den Zeiten, da er nicht nur an seiner Kunst verzweifelte, an keine Heilung und keine Gesundheit mehr glaubte, sondern ihm auch aller Glaube an eine vernünftige Weltordnung geschwunden war. Er verfuhr nach dem Grundsatz, daß man dem Verzweifelten nur zeigen kann: Siehe, es haben andre gelitten wie du, und sie haben gelernt, weiterzuleben.
Ist dieses Bewußtsein in dem Bedrängten aufgegangen, so atmet er zum erstenmale wieder im Licht und betritt die erste Stufe der Erlösung.
»Ich will Ihnen das schwerste Bekenntnis meines Lebens machen,« sagte der Leibarzt.
»Sie?«
»Es gab eine Zeit, wo ich die Leichtfertigen, ja die Lasterhaften beneidete; ich neidete ihnen ihren Leichtmut. Ich wollte auch so sein. Wozu sich die Seele belasten mit sittlichen Erwägungen, wenn sich's so gut leben läßt im Zusammenraffen alles dessen, was reizt und lockt?«
Der Leibarzt hielt inne, die Königin sah ihn groß an. Er fuhr mit Ruhe fort:
»Ich habe mich gerettet und in meiner reichen Erfahrung habe ich gefunden: Jeder Mensch, auch der zum Besten strebende, hat – wenn man so sagen kann – eine Gespensterkammer in seiner Seele; es gab eine Zeit, einen Moment, wo er in Unreinheit verfiel oder doch nahe daran streifte, eine Unthat zu begehen.«
Aus langem, stillem Brüten fragte die Königin:
»Sagen Sie, gibt es glückliche Menschen auf der Welt?«
»Wie meinen Sie das, Majestät?«
»Ich meine: Gibt es Menschen, in deren Leben Neigung und Bestimmung vollkommen harmonieren, und die sich dieser Harmonie bewußt sind?«
»Ich danke. Ich sehe, Sie befleißigen sich geschlossener Fassung im Ausdruck. Sie wissen, Majestät, ich beurteile einen Menschen wesentlich nach seiner Satzbildung. Es kommt nicht darauf an, sogenanntes Geistreiches vorzubringen, sondern das, was man sagt, klar und bündig.«
Die Königin merkte wohl, daß der Freund sie zur Kraft allgemeiner Betrachtung und fester Geschlossenheit führen wollte; schmerzlich lächelnd sagte sie:
»Und wissen Sie eine Antwort auf meine Frage?«
»Ich glaube. Majestät kennen die Geschichte vom Hemd des Glücklichen?«
»Nicht mehr ganz.«
»Also kurz gefaßt: Ein König war krank, er konnte nur gesund werden, wenn ihm das Hemd eines Glücklichen verschafft wurde. Man sucht und sucht, und findet endlich einen unsäglich armen und dabei unsäglich glücklichen Menschen und – er hat kein Hemd auf dem Leibe. – Ich, nach meiner Ueberzeugung, drehe die Geschichte um. Wäre ich ein Dichter, ich würde in einer großen Reihe von Bildern von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land das Leben der Menschen aufrollen und zeigen: Seht her, da klagt dieser und jener, diese und jene, und sie sind glücklich, oder vielmehr sie sind eben das, was sie sein können. Jedem Menschen ist das Maß seines Glückes in seiner Eigentümlichkeit zugeteilt, er empfindet Glück oder Unglück gleich hoch oder tief, dumpf oder klar. Die Dichter sind die Glücklichsten oder Unglücklichsten, weil sie Glück und Unglück am höchsten empfinden. Jedem ist das Glück gegeben, das seiner Naturnotwendigkeit entspricht, und Unglück ist notwendig, um das Glück zu fühlen, wie wir nur aus dem Schatten das Licht erkennen.«
»Sie glauben also, alle Menschen seien glücklich?«
»In Wahrheit sind sie es, aber in der Wirklichkeit nicht, weil sie sich nicht mit ihrer Naturnotwendigkeit einigen und immer und überall ihr Glück in dem suchen, was sie nicht haben, oder besser, nicht sind.«
»Ich fasse das noch nicht ganz, aber ich werde es zu fassen suchen,« erwiderte die Königin. »Aber sagen Sie mir: kann auch der Schuldbewußte noch glücklich sein?«
»Ja, wenn er frei wirkt und schafft und das Bewußtsein seiner Schuld ihn nur verzeihender und thätiger macht. Majestät! Der Irrtum, die Unebenheit, oder das, was man Fehler eines Menschen nennt, ist entweder ein Ueberstrotzendes oder ein Mangel, was sich gewissermaßen als Hautrelief oder Basrelief seiner Natur darstellt. Die Fehler des Ueberquellenden lassen sich durch Erziehung und Erkenntnis ausgleichen, die des Mangels nicht. Die meisten Menschen verlangen aber von ihren Zugehörigen und allen, die sie schön und groß wünschen, daß sie die Mängel ihrer Natur ausfüllen. Das geht nun und nimmer.«
Die Königin war lange still. Sie nahm offenbar die Gedanken des Freundes in die Seele.
»Auch ich habe einen solchen Basrelieffehler,« sagte sie endlich, »ich weiß es. Ich sehe es als eine Strafe Gottes oder der Natur an, daß mir mit Untreue und Abfall gelohnt werden mußte, weil ich den Glauben meiner Väter hatte aufgeben und einen fremden annehmen wollen. Ich war dem König dadurch schwach und haltlos erschienen, er mußte mich verlassen. Ich wollte abtrünnig werden und werde mit Abtrünnigkeit gestraft.«
So rief die Königin und weinte; sie weinte über sich selbst.
Gunther blieb still und ruhig.
Die Königin betrat die zweite Stufe der Erkenntnis.
»Jener Abfall in Gedanken« – begann Gunther nach geraumer Pause, »Majestät wissen, ich habe ihn nie gebilligt – jene Lockerung des Gewohnten war doch auch ein Symptom, daß Majestät sich Ueberzeugungen neu aufbauen müssen, die nicht nur mit Ihrer Natur stimmen, sondern auch aus Ihrer Natur heraustönen. Majestät! Jede klare Erkenntnis, jede Ueberwindung des Schmerzes ist eine Wandlung und Neubildung des Daseins, eine Läuterung, wie man es sonst nennt.«
»Ich verstehe,« erwiderte die Königin. »Ja, ich möchte die Weltordnung kennen, ich möchte die Vernunft im menschlichen Geschick verstehen. Warum muß ich das erleben? Macht es mich besser? Bringt es mich zu edlerem Thun? Wäre ich nicht viel besser, wenn mein Leben ungetrübt geblieben? Ich habe die Menschen alle so sehr geliebt. Ach, es war so schön, niemanden auf der Welt zu wissen, der mir feind, und noch schöner, niemand zu wissen, den ich hassen, verabscheuen muß. Und nun? Was soll ich noch thun? Mir ist, als wenn ich zu jedem Schritt über eine Schwelle müßte, darauf eine Leiche liegt. Ich habe keinen freien Schritt mehr in der Welt. Sie sind ein weiser Mann. Helfen Sie mir! Führen Sie mich hinweg über diese entsetzlichen Gedanken!«
»Ich bin nicht weise, und wäre ich's, ich könnte es Ihnen nicht geben. Die Alten haben die Sage, daß man die Hesperidenäpfel nur zeigen, aber nicht für andre pflücken kann.«
»Wohl! Wohl! Es sei. So antworten Sie mir: Wäre es nicht besser, in Tugend, im Glauben an die Menschen größer, schöner, stärker zu werden?«
»Die Kindschaft der Seele ist ein Glück, die klare Erkenntnis ein Verdienst und, wie ich glaube, ein notwendiges und haltvolles Glück –«
»Sie lenken mich ab. Sie haben den Schlüssel auch nicht.«
»Ich habe ihn nicht. Unser Leben ist nichts als harte Notwendigkeit. Duck unter! heißt es – laß es auf dich hereinhageln und stehe fest! Die Sonne kommt wieder. Wir stehen im Bannkreis unsres eigenen kleinen und des allumfassenden Naturgesetzes. Es kreist kein Stern am Firmament für sich und vollzieht selbständig seine Bahn ohne Abirrung, die Gestirne rings um ihn her ziehen an, stoßen ab; aber es gilt, in sich zu verharren. So auch die Menschen.«
»Sie geben eine Medizin und hoffen doch allein auf die Heilkraft der Natur.«
»Allerdings, Majestät. Das in unsrer Natur gegründete Gesetz allein hilft.«
Nach einer Weile fügte er hinzu:
»Man kann zu dem momentan Gebeugten nicht von erfrischenden Wanderungen auf den Höhen sprechen, ihn nicht dazu aufrufen. Wenn du können wirst, wirst du wollen; denn der Wille ist das nach außen gewendete Können. Jetzt in der Betroffenheit des ersten Schlages sind Sie, Majestät, noch eingehüllt in die allgemeine Naturmacht, die Sie trägt. Die allgemeine Naturmacht setzt das Dasein fort, bis es wieder zum Leben, zur freien That wird. Meine gute Mutter faßte das in ihrer religiösen Weise in die Worte: ›Wenn Gott nur so lange hilft, bis man sich selber helfen kann‹.«
»Ich danke,« sagte die Königin. »Ich danke,« wiederholte sie und schloß die Augen.