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»Wo befindet sich die Wohnung des Directors der westindischen Handelscompagnie?« fragte Eugene Powel den Policeman, der an der Ecke lehnte und sich ein wenig ausruhte von der eben gehabten Anstrengung; es war nämlich seine Aufgabe, die Damen über die verkehrreiche Straße zu geleiten, damit sie von allen den Fuhrwerken, die sich hier kreuzten, nicht überfahren wurden, eine Aufgabe, die ihn namentlich außerordentlich zu der Zeit eines abgehenden oder ankommenden Zuges in Anspruch nahm.
Er schaute den Sprecher von oben bis unten an.
»Sie sind ein Fremder, Sir?«
»Ja.«
»Seemann?«
Auch diese Frage wurde bejaht.
»Ich dachte mir's wohl, daß Sie fremd hier sind, sonst würden Sie wissen, daß um diese Zeit die Büreaux geschlossen sind.«
»Ich wünsche den Director auch nur privatim zu sprechen.«
»Wird ebenfalls nicht angehen, denn Sie werden ihn beim Diner finden.«
»Ich will wenigstens den Versuch machen, ihn zu sprechen.«
»Wohl, versuchen Sie's. – Er wohnt dort in dem großen Hause gerade dem Gebäude der Navigationsschule gegenüber.«
Eugene erhielt von dem Bedienten in der That die prophezeihte abweisende Antwort. Allein er riß schnell aus seinem Taschenbuch ein Blatt Papier und schrieb einige Zeilen darauf, gab dies dem Bedienten mit dem Ersuchen, es Mr. Slowson, dem Director der westindischen Handelscompagnie sofort zu überbringen; – er werde seine Rückkunft erwarten.
Mr. Slowson war keineswegs in der Stimmung, einem Fremden eine Audienz zu ertheilen, denn er gehörte zu den Personen, welche den ruhigen Genuß einer wohlassortirten Tafel für das höchste Lebensglück und eine Beeinträchtigung dieses Genusses für das Schrecklichste halten, das einem Sterblichen widerfahren kann. Er würde sich daher schwerlich durch irgend etwas haben stören lassen, er würde nicht ausgestanden sein, und wenn der Fremde draußen ihm seine Ernennung zum Handelsminister überbracht oder ihm den Tod seines nächsten Verwandten angezeigt hätte.
Das Zauberwort aber, welches das Undenkbare bewirkte, das alle Anwesenden, die ihn kannten, fast mit Schrecken erfüllte, daß er sich nämlich erhob und bleichen Gesichts dem Diener befahl, den Fremden in sein Empfangszimmer zu führen – dies Zauberwort war das Wort. Alabama!· –
»Mein Name ist Eugene Powel, gewesener erster Lieutenant auf der Brigg Contest,« stellte sich der junge Mann vor.
»Ich weiß. Ihr Name ist mit bekannt. Ihr Schiff wurde gekapert,« antwortete er eine ungeduldige Bewegung mit der Serviette machend, die er noch in der Hand hielt »Sie haben mir, wie Sie sagen« – hier machte er eine Bewegung mit der andern Hand, in welcher er den Zettel hielt – »wichtige Mittheilungen über die Alabama zu machen? – Was wissen Sie von dem Raubschiff – sprechen Sie.«
»Dasselbe liegt vor dem Hafen von Boston!««
Der dicke alte Herr taumelte einen Schritt zurück, als wäre vor ihm unerwartet eine Kanone abgefeuert.
»Was sagen Sie?« fragte er kreidebleich.
»Ich sage, daß die Alabama an der Küste von Lynnes Eiland ankert. – Lesen Sie diesen Brief, Mr. Slowson.«
Er überreiche das mit der Aufschrift K. G. C. versehene Schreiben dem Director, der die Serviette bei Seite schlenderte und mit zitternden Händen und Lippen las. Als er geendet, sprang er zur Kingel, die einen seiner Diener rufen sollte. Eugene aber trat ihm in den Weg.
»Was wollen Sie thun, Sir?«
»Meinen Sekretär sofort zur Polizei schicken, um die Schurken in der »Blauen Flagge« verhaften zu lassen, den Lootsen sowohl wie Denjenigen, der geschickt ist, um ihn abzuholen. – Am 11. Abends, das ist jetzt. Es ist also keine Zeit zu verlieren.«
Noch einmal griff er nach der Klingel, und noch einmal fiel ihm der junge Mann in den Arm.
»Thun Sie es nicht, Sir, sondern hören Sie erst meinen Plan an, der ein ganz anderer ist.«
»Nun?«
»Was gewinnen Sie dadurch, daß Sie den Lootsen und die Leute, die ihn abholen, verhaften? – Gar nichts weiter, als daß die Alabama zwei oder drei Leute weniger an Bord hat. Das Schiff wird, da es ohne Lootsen nicht vorwärts kann, denselben Cours zurückgehen den es gekommen ist, und wird nach wie vor seine Räubereien treiben. – Nein, Sir, das ist kein Vortheil. Es liegt aber hier ganz in unserer Hand, die Union ein für alle Mal von diesem gefährlichen Feinde zu befreien!«
»Ich verstehe Sie nicht, wie meinen Sie das, Mr. Powel.«
»Das Schiff braucht einen Lootsen, um hinauszukommen. Wir kennen das Losungswort, an welchem sie den rechten Mann erkennen wollen, den Mann, von dem sie sicher sind, daß er sie nicht in's Verderben führt.
»Ganz recht, was weiter?«
»Man müßte einen Lootsen finden, der Patriotismus genug besitzt, um sein Leben zu riskiren. Ich meine, man müßte ihnen einen andern Lootsen schicken, einen Mann, welcher bereit ist, mit dem Schiffe unterzugehen, oder von den Seeräubern über Bord geworfen oder an die Raa gehängt zu werden.«
»Ich bin immer noch nicht ganz klar, Mr. Powel ...«
»Sir, ein Lootse kann sowohl ein Schiff aus einem gefährlichen Fahrwasser retten, als in's Verderben bringen. Einen Lootsen von der letzten Art müssen wir den Seeräubern unterschieben, so sind wir, ehe 24 Stunden vergehen, den Freibeuter aus immer los.«
»Ah!« machte Mr. Slowson. »Da haben Sie recht. Aber die Sache ist die, wie sollen wir einen Lootsen finden, der das Wagestück unternimmt, oder vielmehr sich für das Wohl des Landes zu opfern bereit wäre; denn, wie Sie sagen, ist ihm sein Tod gewiß, entweder er wird von den Seeräubern an die erste beste Raa geknüpft, oder er versinkt mit dem Schiffe, oder, falls er versuchen sollte, mit den Uebrigen ein Rettungsboot zu besteigen, so wird er ohne Barmherzigkeit über Bord geworfen.«
»Ganz meine Meinung, Sir.«
»So werden Sie auch einsehen, Mr. Powel, daß es schwer ist, für dies Unternehmen einen Mann zu finden. Die Lootsen sind im Allgemeinen wohl kühn und furchtlos und geben hundert Mal ihr Leben preis – aber hier steht die Sache doch anders. – Und gesetzt auch, es gelänge uns, einen solchen Mann zu finden, so würde das doch so geschwinde nicht geschehen können, da er schon diesen Abend erwartet wird.«
»Auch das sehe ich ein,« erwiderte Mr. Powel ruhig. »Wollten wir erst noch einen solchen Mann suchen, so würde unsere Mühe vergeblich sein. Aber wir brauchen nicht nach demselben zu suchen. Ich kenne die Gewässer von Massachusetts, Sir.«
»Das glaube ich; denn so viel ich weiß, dienten Sie zuerst aus einem Küstenfahrzeug in dieser Gegend. Aber was weiter?«
»Ich will es unternehmen, die Union von diesem Räuberschiff zu befreien; dadurch, daß ich es Angesichts dieser Küste an den Klippen zerschellen lasse.«
»Sie selbst wollen ...?«
»Ja, Sir.«
Mr. Slowson sah ihn einen Augenblick in starrer Bewunderung an, dann stürzte er auf ihn zu und ergriff seine Hand.
»Junger Mann, bedenken Sie, was Sie thun – Sie kommen nicht mit dem Leben davon.«
»Das weiß ich, aber es ist mein Entschluß.«
Der alte Mann war außer Stande seine Gefühle auszusprechen. Mit dem Ausdruck der Angst in seinem Gesicht schüttelte er wieder und wieder die Hand des jungen Mannes, seine Lippen bewegten sich, ohne einen Laut hervorzubringen und in seinen Augen glänzte eine Thräne. – Endlich, als ob ihm ein tröstlicher Gedanke gekommen sei, athmete er erleichtert auf und sagte, indem er die Hand des Andern fahren ließ:
»Es geht nicht, Mr. Powel, es geht nicht.«
»Und warum nicht?«
»Sie sind ja Monate lang als Gefangener an Bord der Alabama gewesen; man wird Sie sofort wieder erkennen.«
»Das fürchte ich nicht, Mr. Slowson. Denn erstlich haben wir Gefangenen, in Ketten geschlossen, im ziemlich dunklen Zwischendeck gelegen, und Wenig von den Mannschaften und fast Nichts von den Offizieren gesehen, dann aber trug ich damals keinen Bart, während ich jetzt durch denselben ein sehr verändertes Aussehen erhalten habe ... Nein, lassen Sie mich, Mr. Slowson, und beobachten Sie nur die gehörigen Vorsichtsmaßregeln, die nöthig sind, um jeden Verdacht zu vermeiden und das Gelingen zu sichern.«
»Welches wären diese Vorsichtsmaßregeln?«
»Daß Sie Niemandem eher ein Wort weder von dem Brief noch von der Gegenwart der Alabama sagen, bevor dieselbe die Anker gelichtet. Es darf auch kein auslaufendes Schiff gewarnt werden« Denn wenn ein Fahrzeug, von dem sie wissen, daß es hat auslaufen wollen, im Hafen bliebe, so würde Semmes sofort Verdacht schöpfen, daß ein Verrath im Spiele sei. Sprechen Sie zu Niemandem ein Wort, damit die Sache auch nicht einmal gerüchtweise bekannt wird. Erst wenn das Schiff unter Segel ist, dürfen Sie von dem Briefe Gebrauch machen und unser Unternehmen veröffentlichen.«
»Hochherziger junger Mann, so soll Ihnen denn kein anderer Lohn zu Theil werden, als der, daß das Vaterland Sie unter seinen ersten Helden zählt?« rief Mr. Slowson mit Rührung. – »Wahrlich, dieser unglückliche Krieg hat manchen Helden erzeugt, aber keinen, dessen That mehr gepriesen zu werden verdiente.«
»Der Lohn, von dem Sie sprachen, Mr. Slowson, ist groß genug, um einen Patrioten zu begeistern, indessen möchte ich Sie, falls Sie glauben, mir im Namen des Vaterlandes zu Danke verpflichtet zu sein, um einen Beweis desselben bitten.«
»Bitten Sie, um was Sie wollen, junger Mann. Was ich thun kann, oder durch meinen Einfluß bewirken kann, soll geschehen. Womit kann ich Ihnen meine Dankbarkeit und Verehrung beweisen? Sprechen Sie.«
»Ich habe einen Bruder, Mr. Slowson. Sie kennen ihn: Charly Powel & Co.«
Der Director nickte mit dem Kopfe.
»Derselbe ist arm und – sitzt gegenwärtig, eines gemeinen Verbrechens eingeklagt im Kerker. Aber er ist unschuldig und seine Familie schmachtet im Elend. – Thun Sie, was Sie können, Sir, ihn zu befreien und den Seinen zu helfen. – Ich kam her, um das selbst zu thun, allein ich habe diese Pflicht der Bruderliebe der Pflicht gegen das Vaterland geopfert. Vertreten Sie meine Stelle, Sir, ich flehe Sie an – damit ich getröstet dem Tode entgegengehe.«
Er ergriff die Hand des alten Mannes mit beiden Händen und drückte sie an seine Brust, während Thränen seine Stimme erstickten.
»Wohl,« erwiderte gerührt Mr. Slowson, »was Geld und Fürsprache vermögen, das soll geschehen.«
»Geld ist's nicht. Ich habe die Summe von 10,000 Dollars auf der New-Yorker Bank – hier ist die Anweisung, – nehmen Sie diese Summe, helfen Sie ihm damit auf, schaffen Sie ihm die besten Anwälte und geben Sie ihn seiner Familie zurück – und sagen Sie ihm meinen letzten Gruß.«
Einen Augenblick schwieg der junge Mann, dann fügte er, seine Thränen trocknend, hinzu:
»Das ist mein Vermächtniß, Sir. Achten Sie es wie den letzten Willen eines Sterbenden. Ich lege es in Ihre Hand. Noch eins. Sie kennen den Kaufmann und Schiffseigner Mr. Crofton; sehen Sie ihn, so bestellen Sie ihm Gruß und Lebewohl an seine Tochter Lavinia. Das Schicksal hat nicht gewollt, daß ich sie wiedersehe und heimführe. Das ist Alles, was ich noch zu bestellen habe, und da ich nun dies letzte Geschäft erledigt, so lassen Sie mich gehen.«
Unter Thränen schloß ihn der alte Mann in seine Arme ...
Als er zur Tafel zurückkehrte, hatte das Entsetzen der Anwesenden noch nicht aufgehört darüber, daß er sich beim Mahle hatte stören lassen. – Dies Entsetzen wuchs aber noch um ein Bedeutendes, als er erklärte, keinen Appetit mehr zu haben.
*
Der Oberbootsmann, den wir mit Mr. Crofton im Gespräch in der »Blauen Flagge« verließen, und zwar in dem Moment, als die laienhaften Bemerkungen der beiden Fremden in Bezug auf das geheimnißvolle Schiff seinen Unwillen dermaßen erregt hatten, daß er es ferner verschmähte, mit ihnen ein Wort zu wechseln, richtete seine weiteren Expositionen an Mr. Crofton, den Eigenthümer der Bark »Macdonald«.
Die beiden Fremden indessen flüsterten heimlich mit einander in lebhaftem Gespräch. Der Einäugige schien seinem Freunde angelegentlichst etwas zu expliciren und dieser folgte mit Interesse dem Vortrage.
Als der Gegenstand, über den sie bisher gesprochen hatten, erledigt war, schauten sie eine Weile auf die See hinaus, bald in die Gegend, wo der kleine Schooner mit den unverhältnißmäßig hohen Masten noch immer kreuzte, bald nach der bei Lynnes Eiland liegenden Fregatte; inzwischen aber warf der Einäugige unruhevolle Blicke auf den Eingang zu dem Garten. Er schien mit Ungeduld Jemand zu erwarten.
Der schwärmerische junge Mann an seiner Seite theilte zwar diese Ungeduld, indessen beschäftigten sich seine Gedanken offenbar mit etwas Anderem, denn zuweilen schweiften seine Blicke mit einem eigenthümlichen Ausdruck der Sehnsucht über die unter ihm liegende Stadt, und mehr als einmal ertappte ihn sein Freund über einem leisen Seufzer.
»Also Sie haben den Gegenstand Ihrer Anbetung nicht zu Gesicht bekommen, Mr. Armstrong?« redete ihn nach einer Weile beiderseitigen Schweigens der Einäugige an, offenbar auf die sehnsuchtsvollen Blicke und die Seufzer Bezug nehmend.
»Nicht einmal gesehen habe ich sie,« erwiderte er, melancholisch die Lider senkend. »Da wir ohne Zweifel morgen in aller Frühe auslaufen werden, so darf ich auch nicht daran denken, sie für diesmal zu sehen, vielleicht nie mehr.«
»Wenigstens werden Sie den Plan, sie zu entführen, aufgeben müssen – Nun, sie werden sich trösten, denn vielleicht bald erobert eine hübsche Gefangene Ihr Herz, und Sie vergessen den Gegenstand, der Sie jetzt melancholisch macht, vollständig.«
»Ich werde im Donner unserer Geschütze nicht an diesen Gegenstand denken, aber jeden Moment, den mir der Dienst freiläßt, wird mir das Bild Miß Lavinia Crofton's vorschweben. Es war vor zwei Jahren, als ich sie das letzte Mal sah, und die lange Zeit hat ihr Gedächtniß in meinem Herzen nicht auszulöschen vermocht.«
»Ein Glück nur, Mr. Armstrong, daß Ihre Sentimentalität sich bloß auf dem Lande Luft macht, aus der See entdeckt man keine Spur davon. Aber« – unterbrach er sich plötzlich und seine Stirn umdüsterte sich – »ich begreife nicht, daß sich Niemand hier blicken läßt. Schon zwei Stunden warten wir, und dies ist doch die bestimmte Zeit.«
Der Andere sah nach der Uhr.
»Freilich,« bestätigte er. »Es ist 7 Uhr – Sehen Sie, die »Sea-bright« setzt ein Boot aus. Dem Lieutenant Sinclaire scheint auch die Zeit lang zu werden.«
In der That konnte man sehen, wie von vier Ruderern getrieben ein Boot von dem Schooner abstieß und der südlichen Spitze des Hafens zufuhr. Beide verfolgten mit den Augen das Boot und gewahrten nicht, daß in diesem Augenblicke ein Fremder auf den Gartenplatz trat. Es war ein junger Mann mit kummervollen, ernsten Zügen in einem langen blauen, bis oben hin zugeknöpften Rocke. Er blieb einen Augenblick am Eingange überrascht stehen, denn sein Auge hatte sofort Mr. Crofton erkannt.
Der Oberbootsmann erblickte ihn zuerst.
»Sehen Sie,« redete er Mr. Crofton an, »dieser junge Mann, der da soeben kommt, dem sieht man es an, daß er ein Seemann ist vom Kopfe bis zu den Zehen; ist doch ein anderer Kerl als dieser Advokat. Liegt doch gleich seemännischer Anstand drin.«
Mr. Crofton sprang empor.
»Eugene Powel!« wollte er rufen und den jungen Mann in seine Arme schließen. Dieser aber winkte ihm bedeutsam mit der Hand, sitzen zu bleiben und legte, mit einem Seitenblick auf die beiden Fremden, den Finger auf den Mund.
»Was hat denn das zu bedeuten?« murmelte Crofton, dies Zeichen wohl verstehend, »er will der beiden Andern wegen nicht von mir erkannt sein? das begreife ich nicht.«
»Mir scheint, er segelt hier unter falscher Flagge,« murmelte der Oberbootsmann.
»Wenn Sie damit meinen, daß er hier einen Andern vorstellen will als er ist, so bin ich ganz Ihrer Ansicht,« entgegnete Mr. Crofton.
Jetzt erst wurden die beiden Fremden des Ankömmlings ansichtig.
»Das ist unser Mann,« flüsterte der Jüngere. »Sehen Sie, wie er uns beobachtet und unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen sucht? Reden Sie ihn an.«
Der Einäugige erhob sich, hinkte an den Tisch, an welchem der Ankömmling Platz genommen, betrachtete ihn eine Weile mit seinen grauen durchdringenden Augen und sagte dann, auf den Schooner deutend, mit fast feierlichem Ernst und mit lauter Stimme:
»Bemerken Sie, Sir, wie dort das Schiff mit dem Backbord die Wogen seines Kielwassers durchschneidet?«
»Dieser Mensch mit seinen seemännischen Albernheiten bringt mich noch zur Verzweiflung,« brummte der Oberbootsmann. – Mit dem Backbord das Kielwasser durchschneiden! – Wie kann ein Mensch nur solchen Blödsinn schwatzen. Geben Sie Acht, Mr. Crofton, Ihr junger Freund wird ihm gehörig dienen.«
Eugene verzog keine Miene bei der sonderbaren Frage, sondern mit großer Ernsthaftigkeit antwortete er:
»Die Wogen des Kielwassers sind gefährlich für Denjenigen, der sich unvorsichtig hinaufwagt.«
»Das ist dem naseweisen·Advokaten schon recht,« triumphirte der alte Seemann. »Er wird den Stich gefühlt haben und sich hüten, sich künftig unvorsichtig auf Kielwasser und andere die Seefahrt angehende Dinge zu wagen!«
Wenn aber der Alte der Ansicht war, daß der »naseweise Advokat,« wie er ihn nannte, nun völlig abgefertigt und der »unter falscher Flagge segelnde« junge Seemann ihm verächtlich den Rücken wenden würde, so hatte er sich sehr getäuscht, denn, nachdem sich der erstere flüsternd zu diesem herabgebeugt, erhob er sich und alle Drei verließen das Wirthshaus zur, »Blauen Flagge«. Der Einäugige hinkte voran, und Armstrong und Eugene Powel folgten ihm nach.
Schon als sie um die nächste Ecke bogen und den Augen der Nachblickenden entschwunden waren, verließ den Voranschreitenden das Gebrechen des Hinkens so vollständig, daß auch keine Spur davon zu entdecken war. Fest und sicher war sein Schritt, fest und sicher, wie stets sein Auftreten und Handeln.«
Das Boot, welches vom Schooner Sea-bright abgestoßen und an den Vorsprung der südlichen Halbinsel, welche den Hafen begrenzt, gelandet war, lag in einer Bucht versteckt. Die Ruderer hatten ihre Ruder in der Hand behalten und warteten schweigend bis der Befehl zur Abfahrt gegeben werden würde. Die Sonne war längst untergegangen, und die Schiffe in der Ferne nur in undeutlichen Umrissen sichtbar, als jene drei Männer den Abhang hinabstiegen, an dessen Fuße sich die Bucht befand. Der am Steuer sitzende Bootsmann erhob sich ehrerbietig, als er des Einäugigen ansichtig wurde und zog seinen Hut, die Matrosen thaten desgleichen. Im Nu war ein Brett über die Ruderbänke gelegt und auf demselben schritt er dem gepolsterten Sitze im vordern Theile des Bootes zu. Armstrong und Powel nahmen auf einer Bank Platz.
Das Boot setzte sich in Bewegung.
»Jetzt weg mit der Maske!« sagte der Mann, der auf dem gepolsterten Sitz saß, »sie ist mir lästig genug geworden.«
Mit diesen Worten nahm er das große schwarze Pflaster vom Auge und blickte den Lootsen mit zwei so klaren und scharfen Augen an, daß dieser alle seine Kaltblütigkeit zusammennehmen mußte, um den Blick ertragen zu können und keine Verlegenheit zu verrathen.
»Die Maske hat Ihnen aber vorzügliche Dienste geleistet,« sagte Mr. Armstrong. »Bei Gott, und wenn Ihre Photographie an allen Straßenecken ausgestellt wäre, so hätte in dem Manne, mit all den Gebrechen wahrhaftig doch Keiner den Capitain Semmes erkannt.«
Semmes lächelte, und das Lächeln auf diesem Antlitz von ruhigem Ernst und kalter Entschlossenheit nahm sich aus wie der Reflex der Sonne auf einem Eisberge.
*
Crofton und der Oberbootsmann schickten sich zum Aufbruch an, als der Letztere das kleine Boot bemerkte, welches an ihnen vorbei dem Schooner zusteuerte. Er schüttelte den Kopf.
»Sonderbar,« murmelte er. »Vorhin waren nur fünf Personen in dem Boot, jetzt sind es acht – richtig: vier Ruderer, Einer am Steuer und drei Andere. – Wenn ich nicht zugeben müßte, daß die Dunkelheit mein Auge täuschen könnte, so möchte ich darauf schwören, daß Einer von den Dreien Ihr Freund ist, Mr. Crofton, der unter falscher Flagge segelt.«
Mr. Crofton zerbrach sich vergeblich den Kopf über dies Phänomen. Beide standen da und verließen mit keinem Blick das Boot. Dasselbe legte in der That bei dem Schooner an, der die Insassen des Bootes aufnahm und die Richtung nach der Fregatte einschlug, ohne Zweifel, um die drei Fremden an Bord derselben zu bringen.
Inzwischen trat ein vollbärtiger Mann mit rundem Hut und braunem Gesicht ein, der sich nach allen Seiten umsah und Jemand zu suchen schien. Crofton sowohl wie der Bootsmann hatten ihn bemerkt, aber sich durch seine Anwesenheit nicht unterbrechen lassen in ihrer Beobachtung des Schooners.
»Sollten die noch nicht da sein, die mich hier erwarten müssen?« murmelte er. »Ich glaubte schon Mr. Levy hätte mich zu lange mit seinen Instructionen aufgehalten und die Herren warteten derweile vergebens, und jetzt scheinen sie noch gar nicht hier zu sein. – Oder sollten es gar die Beiden dort sein?«
Er räusperte sich nochmals laut, um die Aufmerksamkeit Crofton's und seines Gefährten zu erregen, allein seine Mühe war vergebens, sie achteten gar nicht auf ihn.
»Meine Instruktion lautet, daß wenn mich Niemand anredet, ich denjenigen anreden soll, der mir der rechte zu sein scheint,« fuhr er fort, indem er sein Notizbuch hervorzog und darin las: »Hier das ist die Loosung, nun wir wollen einmal versuchen, welche Wirkung dieser effectvolle Ausdruck: das Kielwasser mit dem Backbord durschneiden, auf jenen alten Seemann macht. – Es ist ohne Zweifel der rechte, denn die athletische Gestalt, das finstere mürrische Gesicht, das Alles paßt für den Oberbootsmann eines Kaperschiffes vorzüglich.«
Er klappte sein Notizbuch zusammen, steckte es ein, näherte sich den Beiden und berührte des Seemanns Schulter.
Dieser wandte sich mürrisch um und blickte in das Gesicht des Fremden.
»Nun, was giebt's?« fragte er verdrießlich.
Der Fremde deutete aus den Schooner.
»Sehen Sie, Sir, wie anmuthig das Fahrzeug mit dem Backbord die Wogen des Kielwassers durchschneidet?«
»Hölle und Teufel,« schrie der Oberbootsmann. – »Sind die Menschen hier vom bösen Geist besessen? – Da ist schon wieder Einer, der das Kielwasser mit dem Backbord durschneidet. – Herr, scheren Sie sich zum Teufel mit Ihrem Backbord; – gehen Sie zu dem naseweisen Advokaten, der glücklicherweise uns den Gefallen gethan hat, sich zu entfernen, und tauschen Sie mit dem Ihre albernen Redensarten aus, aber verschonen Sie mich damit.« –
Die Röthe des Zornes bedeckte das Gesicht des alten Mannes, und noch lange, nachdem sich der bestürzte Lootse entfernt hatte, machte er seinem Herzen durch die schlimmsten Verwünschungen Luft, und ließ sich erst besänftigen als Mr. Crofton auf ein Boot deutete, das am Bollwerk lag.
»Kommen Sie,« sagte er, »dort ist schon das Boot, das uns an Bord des Macdonald bringen soll. Morgen früh vor Tagesanbruch lichten wir die Anker.«