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Ein Tag in Pisa

Dieses liebliche Pisa hat nur weniges zu zeigen, aber das ist auserlesen und es zeigt es mit einer reizenden Gefälligkeit, auf seiner kleinen Wiese, wo die staubigen Füße zu vieler Reisenden nicht verhindern – ich wundere mich jedesmal darüber –, daß die toskanische Liebenswürdigkeit und dieses zauberhafte vierblättrige Kleeblatt emporblühn: der Dom, das Baptisterium, der Campanile und der Campo Santo – diesen Vormittag ganz himmlisch vergoldet von den ersten Sonnenstrahlen des Jahres.

Übrigens und im Gegensatz zur allgemeinen Annahme: es sind nicht die gewöhnlichen Leute, die den Kunstwerken Schaden bringen, die sie besuchen. Die gehen wie eine unschuldige Herde daran vorüber. Aber die Delikaten und die Künstler verderben mit der Zeit die Atmosphäre berühmter Stätten dadurch, daß sie etwas von ihrer Persönlichkeit da zurücklassen.

Diese florentinische Kunst, die ohne Schwächlichkeit und Geziertheit der Natur folgt, peinlich und einfach, hat sich nach und nach vor unserer Phantasie verändert, beim Kontakt mit so vielen Backfischen und Berufsdichtern – den Besten wie den Schlechtesten – die sie in erlesenen und köstlichen Worten verherrlicht haben. Diese Typen der toskanischen Kunst, niemals vulgär, aber aus dem Volksleben,, haben Malice, oft eine schwächliche Gesundheit, sind durch Entbehrungen oder durch das Handwerk verunstaltet, und da wollte man sie als eine raffinierte Elite ansehen; als die Aristokratie, der alle Beziehungen zum Wirklichen abgeschnitten seien. Arme kleine Leute, die ich euch eben bei der Verrichtung eurer häuslichen Arbeiten auf den Fresken Benozzo Gozzolis im Campo Santo bewunderte, da man euch vornehm machen will, nimmt man euch Stück um Stück alle eure Verdienste. Ihr seid Wesen, die leben, leiden, weinen, zittern, untergehen; ihr seid ein Teil der Kultur, aber ihr erschöpft sie weder, noch beherrscht ihr sie. Aufrichtig gesagt: eure Schönheit ist nicht groß genug, daß man euch ungestraft zu Halbgöttern emporheben kann; überlaßt das den Kindern des Michelagnolo. Ihr seid ein munteres Völkchen, wie es zu allen künstlerischen Epochen jedes Handwerk in jedem Lande hervorbrachte. Aber will man euch deklassieren, euch aus der Kategorie realistischer Gestalten herausgehen und in die höchsten Erscheinungen des menschlichen Genies eintreten lassen, weil die Dichter im Verein mit den englischen Misses ich weiß nicht was für eine elegante Einfachheit in die Mode gebracht haben, deren Schalheit nur zu bald alle ehrlich Denkenden anekeln wird – so würdet ihr armen, an dieser Geschmacksverstopfung gänzlich unschuldigen Künstler, ihr alle zusammen, und besonders Botticelli, nur zu bald für geraume Zeit in die beklagenswerteste Unbeliebtheit verfallen.

Um die wahre Atmosphäre der toskanischen Kunst wiederzufinden – Pisa ist zu bekannt, als daß man es nochmals beschriebe – ging ich aufs Land und durchwanderte einen schönen Pinienwald bis an die Ufer des Mittelmeers hinunter. Am Horizont leuchteten feine, bestimmte, schneegekrönte Berge, in der Ebene da und dort dekorative Zypressen. Ich besuchte das eineinhalb Stunden von der Stadt am Strande gelegene Gombo. Hier spülten einst die Fluten den Leichnam Shelleys ans Ufer, den Byron verbrennen ließ. Shelleys Asche konnte die Hand Byrons wohl halten, aber sein Herz besaß er nicht mehr. Der in den Tod gehende Shelley war auf dem Punkte gewesen, mit seinem hochfahrenden Freunde zu brechen. Die Gründe dieses Zerwürfnisses sind ein herrlicher Beleg für die Ausnahmscharaktere. In diesem Kapitel vom Genie wird man auch die Geschichte Allegras finden, der natürlichen Tochter Byrons, die romantisch und mysteriös ist wie die des Euphorion im zweiten Faust. Allegra starb mit fünfzehn Jahren; sie war die Nichte Shelleys, der dem Byron niemals die Herzlosigkeit verzeihen konnte, der man in der Tat einen großen Teil der Schuld am Tode der armen Kleinen zuschreiben muß ... Ist es zu glauben, daß die Schwägerin Shelleys, die Byrons Mätresse und Mutter Allegras war, erst im Jahre 1879 gestorben ist? Die Jüngsten unter uns hätten noch eine Geliebte Byrons und eine Geliebte Napoleons kennen lernen können, denn jene kleine Unbedeutendheit, Madame Foures, die in Männerkleidern in der ägyptischen Armee figurierte, starb erst im Jahre 1869. Wäre es nicht besser, die alten Frauen zu fragen, als hier an dieser so traurigen Küste auf die Woge zu hören?

Am Strande bezeichnet kein Merkmal die Stelle, die alle Bewunderer in Gedanken suchen. Aber daran erkennt man sie, daß sie den Punkt bildet, von dem aus sich diese großartige Einsamkeit ganz entfaltet, ein Meer ohne Segel, von tiefster Bläue, Pinien ganz vom Wind verkrüppelt und darüber nichts als die Pisanerberge, die einen dritten blauen Ton zwischen das Blau des Himmels und des Meeres legen, und das so ein Ganzes von so zarter und doch mächtiger Wirkung bildet, daß man sich dabei überrascht, die Natur zu preisen, die hier mühelos, ohne Verschwendung und Anstrengung die Schönheit erreicht. Man vergleiche diese Nüchternheit mit der Schweiz, die beinah lächerlich wirkt mit ihren protzigen Bergen, Abgründen, Tannen, Wolken, Lawinen, und uns mit dem Aufwand von Material doch kalt läßt.

Dieser Spaziergang gab mir besser als jede gelehrte Abhandlung das Gefühl für den Genuß der realistischen toskanischen Kunst und aller dieser Primitiven. Als ein zweiter Glücksfall begegnete mir eine Kamelherde, die mit rührender Gelassenheit zur Feldarbeit dahinzog. Ein dritter Gewinn: daß keinerlei sichtbares Gedenkzeichen den Platz von Shelleys Begräbnisstelle kenntlich macht – ich habe wieder einmal gefühlt, daß die nackten Grabstätten die schönsten sind.

Es wäre ein großes Unglück, sollte die Mode sich verbreiten, Photographien in den Friedhöfen aufzustellen. Die Summe von Poesie im Weltall würde sich dadurch bedeutend vermindern, und der Tod verlöre seine Melancholie. Auf dem Friedhofe von Genua hatte ich diesen Eindruck sehr stark. Dort stellt man die Verstorbenen in Marmor gemeißelt oder in Bronze auf die Gräber, beim letzten Abschied von ihren Angehörigen, oder in der alltäglich gewohnten Kleidung. Wenn man sieht, wie sie waren, so schwindet jedes Mitgefühl, jede Sympathie, und man segnet den Tod. Wohltätiger Tod, der uns von solchen Schrecken befreite! Beim Betrachten dieses alten Weibes, dieses Dummkopfs, dieses Gecken und jenes behäbigen Kerls sagte ich mir: »Gott sei Dank, wir haben ihn begraben, und es ist ein Monstrum weniger in der Welt!« Nicht ein einziges Mal überkam mich auf diesem Friedhof die Empfindung, die ich dort suchte, diese vage Wehmut, die ein halb verwitterter Stein hervorruft, auf dem wir einen Namen entziffern, der bald ganz erloschen und so vergessen sein wird, als habe der Mensch darunter niemals gelebt.


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