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Drei psychotherapeutische Kurorte

 

I. Ein Besuch bei Leonardo da Vinci

Den Analytikern des Ich.

Mailand bewegt uns unter allen Städten, weil es der erwählte Aufenthalt des Leonardo da Vinci war und weil Stendhal in seiner Verehrung für diese Stadt so weit ging, daß er statt jeder Grabschrift die Worte wünschte: »Bürger von Mailand«. Aber bei Stendhal müßte man erst von dem öden Hafen von Civita Vecchia sprechen, wo sich der alte, schöne Apoplektiker dreißig Jahre langweilte und keine andere Zerstreuung hatte, als jeden Abend zwischen 8 und 9 Uhr bei dem einzigen Buchhändler des Ortes ein Plauderstündchen zu halten. Ich aber will von einem Besuche bei Leonardo da Vinci berichten.

Nicht als ob das Werk des Leonardo, das nie sehr umfangreich war, in Mailand besonders vertreten wäre. Manuskripte, Skizzen und die wundervolle Freske des »Abendmahles« – das selbst der liebe Gott schön zu finden scheint; denn wie hätte anders das Kunstwerk den Mißhandlungen der Soldaten, die die Farbe abkratzten, und der Maler, die es übermalten, standhalten können? – Alles andere Bilder, die Schüler unter seiner Leitung ausführten: das ist alles, was Mailand dem Studium dieses großen Künstlers bietet. Aber sein Ruhm, eines der aufregendsten Dinge, über das Kunstkenner und Ästhetiker nachdenken können, da genügen dem Vinci ein paar Bleistiftstriche, um ihn darzutun.

Trotzdem wir sein Schaffen und das was er wollte nur mutmaßen können, so müssen wir ihm dennoch als einem Fürsten unter den Künstlern huldigen. Man erfaßt diesen ungewöhnlichen Maler noch besser durch das Denken als durch das Sehen. Und gerade in Mailand hat er so vieles gedacht, daß hier der beste Ort ist, um sich über ihn Gedanken zu machen.

Die Ratschläge, die er in seinen »Büchern über die Kunst des Zeichnens« gibt und das, was unter der Übermalung des Abendmahles noch zu erkennen ist, geben uns einen Begriff von der Schönheit, die er suchte. Wenn diese auch heute durch Schatten verdeckt wird, so ist sie doch ebenso unverkennbar wie seine geniale künstlerische Leitung in der geringeren Begabung seiner Schüler.

 

Mit seiner einzigen allumfassenden und scharfen Intelligenz erschien Leonardo zu gleicher Zeit als größer Denker und großer Bezauberer. Seine tiefen und universellen Studien beschäftigten ihn keineswegs ausschließlich; er war auch ein glänzender Kavalier; mit einer feinen, klarsehenden Psychologie bewegte er sich mühelos in dem prunkvollen Leben seiner pittoresken Zeit. Daß sich so entgegengesetzte und bis zu solcher Vollendung gebrachte Gaben in einer Persönlichkeit fanden, das bringt die Kategorien außer Fassung, in die wir die Temperamente einzureihen gewohnt sind. Und diese Dualität seines Wesens erklärt das Lächeln aller dieser Gesichter, die er uns hinterlassen hat; das Lächeln, das die Zeit und jeder Tag mit einem neuen, undurchdringlichen Schleier verhüllt, und das unerklärlich schien, damals, da es aufblühte. Er malte da seine eigene Vielfältigkeit, seine Seele, nicht nur gewandt in der Wissenschaft, sondern auch in der Kunst der Bezauberung.

Ich finde keine Worte, die diesen Konflikt, der das geheimnisvolle Genie des Vinci ausmacht, richtig bezeichnen könnten, und über das ihn so viele Künstler, so viele Denker und so viele Verliebte befragt haben, in der Ambrosiana und in der Brera, und das sie aus den feinen Linien seiner Frauenköpfe raten wollten. Ich ziehe es vor, das herzuschreiben, was mir mit unglaublicher Intensität eine dieser Seelen – junges Mädchen oder junger Mann – sagte, eine sinnliche Seele mit aufgelöstem Haar, mit Lippen, mit großen Augen und einer geradezu göttlichen Freude, die in diesem Antlitze strahlte, – und was mir eine andere Skizze wiederholte, eine anbetungswürdige Frau mit gesenkten Lidern und einem beinah ironischen Ernst, – kurz, was mir alle zu hören gaben:

Nachdem wir die Gesetze des Lebens und den Gang der Leidenschaften kennen, so kann uns keine eurer Sorgen in Staunen setzen, keine eurer Beleidigungen verletzen, keine eurer Reden von Ewigkeit uns verwirren ... Und diese Erkenntnis macht uns nicht traurig, denn es ist die vollkommenste aller Freuden, mit Methode beständig neugierig zu sein ... Aber wir müssen lächeln, wenn wir sehen, welche Anstrengungen du machst, um zu ergründen, was mich interessiert ...

Das will das Lächeln des Leonardo sagen, und ich habe es deutlich vernommen. Goethe wird es später wiederholen. Das ist bei allen zahllosen Unterschieden der Zeit und der Rasse einer der Eindrücke aus den beiden Faust.

Es gibt nichts, das reiner dem Gebiete der Intelligenz angehörte. Wie kann Taine nur von epikurischen, lizenziösen Gedanken sprechen! »Manchmal«, sagt er, »findet man bei Vinci einen schönen doppelsinnigen Adoleszenten, mit dem schlanken und wollüstig kokett gedrehten Körper eines Weibes, ähnlich den Androgynen der Kaiserzeit ... Indem er durch ein eigentümliches Verfahren die Schönheit der beiden Geschlechter vermengt und vermehrt, verliert er sich in Brüten und Sinnen über Zeiten der Dekadenz und Immoral ...« Als Taine diesen Ausspruch tat, wandte er sicherlich seinen Blick vom Werke Leonardos ab, um dem Ablauf seines eigenen Gedankens zu folgen. Dieser große Historiker intellektueller Leidenschaften hat, fortgerissen von seiner philosophischen Imagination und von dieser Logik, die seine Stärke ist, die Neugierde des Leonardo bis in ihre letzten möglichen Konsequenzen getrieben, hat die Methode, nicht das Werk kritisiert. Gewiß: »dieses Suchen nach auserlesenen und tiefen Sensationen«, das Vinci lehrt, wird die meisten Menschen auf allerlei doppelsinnige Gedanken bringen. Man betrachte sich nur im Museum von Mailand den Marco d'Oggione, denCesare de Sesto; sie behaupten nur mit Mühe ihr Lächeln; ich fühle die Zote, die diesen schönen Gesichtern auf den Lippen schwebt. Und dieses Porträt eines jungen, eines kleinen Mädchens von einem Schüler Vincis! Dieses Kind ist zu fein, zu rein; es wirkt aufregend. Dieses aber, weil es nicht aus der großen Rasse von des Meisters Frauengestalten ist; hinter seiner engen, köstlich von Perlen beleuchteten Stirn sind nur unbedeutende Gedanken. Von seinem schwachen Gehirn nur schlecht verteidigt gegen den Ansturm der Lüste, muß sie seltsame Verwirrungen erfahren haben, als ihr Leonardo mit solcher Eleganz die Neugier nach dem Unbekannten und die Verachtung des gemeinen Lebens lehrte. In der Brera hängt von dem reinen Luini das Bild eines jungen Mädchens mit geröteten Augenlidern und einem Ausdrucke der Erschlaffung und Begierde, die uns beim Weibe erschrecken. Aber – und Taine sieht es nicht – bei Leonardo sowie bei Goethe bleiben alle diese gefährlichen Vorschläge intellektuell.

Die Forderungen eines Leonardo da Vinci befriedigen sich in der Domäne des Gedankens, ohne daß sie sich zu wollüstigen Verwirklichungen wenden. Seine Intelligenz konnte in Erregung geraten, seine Nerven niemals. Die Zeitgenossen dieses tiefen Denkers verstanden ihn. Lomazzo nennt ihn einen Hermes, einen Prometheus: er erschien ihnen als der Mensch, der das Geheimnis der Dinge kennt. Er kannte die Gesetze des Lebens.

 

Das offenbart sich in seinem Meisterwerke. Welches Studium er auf den Christus, den Mittelpunkt des Abendmahles verwandt haben muß! Darum ist er auch einigen der Mittelpunkt des menschlichen Bewußtseins. Ich will damit sagen, daß diese Gestalt, die wir da ganz in sich gekehrt, ganz nur mit seinem innersten Leben beschäftigt sehen, der vollkommene Typus des Analytikers des Ich ist: ein Geist, der ausschließlich in seiner inneren Welt lebt, gleichgültig gegen das Leben um ihn.

Dieses ist das Wunderbare, daß ein Mann des. fünfzehnten Jahrhunderts, inmitten eines dieser italienischen genußsüchtigen und ausschweifenden Höfe, imstande war, eine solche seelische Schönheit zu schaffen! Sie gelang ihm aber auch nicht beim ersten Wurfe.

Man muß in der Brera die Rötelstudie zum Christuskopfe sehen. Da ist noch keine Doppelung der Persönlichkeit. Hier ist traurige Güte, Vergebung, Unterwerfung, Resignation, anscheinend ohne inneren Stolz. Dieser Jesus der Skizze könnte beinahe ein Bruder des Apostels Johannes aus dem Abendmahle sein, der nichts als eine Jungfrau ist, ein reiner Tor. Aber im Fresko selber ist Christus verstärkt: dieser Hochintellektuelle ist umgeben von Dummköpfen, ehrbaren Leuten und Gesindel, deren heftig bewegte Stellungen mit dem Wesen des Durchschnittsmenschen in wunderbarem Einklange stehen, und er sagt zu ihnen:

»Ihr meine Freunde, ihr werdet mich verraten! Das aber erstaunt mich nicht, denn ich verstehe die Versuchungen, denen der Schuldige unterliegt und deshalb entschuldige ich ihn. Alles dieses war übrigens notwendig, daß ich eine Gelegenheit zum Heroismus habe, denn die moralische Größe besteht aus der niedrigen Behandlung, die sie überwindet.«

Und doch scheinen die Hände des Helden eine gewisse Ermattung zuzugeben. Den Hintergrund für das Haupt dieses hohen Opfers (Opfers seiner selbst, Märtyrers durch eigenen Willen) bildet eine schmale, in bläulichen Tönen gehaltene, wollüstige Landschaft, die uns daran erinnert, daß das Leben dennoch frei, sinnlich und mühelos sein kann. Diese Menschen, dieser Weise mit seiner übermenschlichen Größe, den das Gleichgewicht beunruhigt, stimmen uns gleichermaßen traurig. Wer nur vermag es, uns das Dasein als leichten heiteren Traum erkennen zu lassen!

Leonardos Pinsel verfügt über leuchtende Farben, traumhaft entzückend sind alle Geschöpfe, die er darstellt. Weshalb aber bemächtigt sich meiner nach dem Anblicke seines Werkes diese Traurigkeit? Nichts bedrückt uns mehr als der Verfolg der heimlichen Arbeit eines Analytikers; man sieht, sein Leben ist eine beschwerliche Not und ein ewiges Zittern. Die großen venezianischen Maler waren glücklich, da sie aus Überfluß malten, ohne mit sich selber zu disputieren. Aber welche Angst und Qual erleidet der Künstler, dessen zwiespältige Seele mit dem einen Teile schöpferisch tätig ist, während der andere Teil sich prüfend über das entstehende Werk beugt!

Ich habe oft an die Emotion gedacht, unter der Beatrice bebte, als sie Dante im Fegefeuer wiederbegegnete. Wie der illustre Dichter die Geliebte suchte, weiß man! Endlich fand er sie wieder; nicht nur die höchste Ehrfurcht, sondern auch die Scheu erfüllten ihn. War doch aus dem schwachen Weibe eine Selige geworden und die Gefährtin göttlicher Wesen. Ich aber möchte es beschwören, daß die Bangigkeit, die Beatricens jungfräuliche Brust schwellte, noch weit unerträglicher war, denn sie dachte: »wenn er mich nun weniger schön findet!«

Mit Hilfe dieses Bildes kann ich mir leichter eine Vorstellung von dem verzehrenden Leben eines Analytikers machen, dessen Seele, wie wir sagten, zwiespältig ist. In ihrem Innern erleben sie unaufhörlich das Drama der Begegnung Dantes mit Beatrice. Ihr Lächeln ist wie das Lächeln Leonardos, abgespannt, müde und ein bißchen verächtlich: abgespannt und müde von diesen heftigen inneren Erregungen; nachsichtig verachtend, weil ihnen das äußere Leben etwas Kleines dünkt neben den Tiefen ihres Wesens, das sie unablässig betrachten.


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