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Am 10. September 1893 hat die kleine Stadt Senones, frühere Hauptstadt des Fürstentums Salm-Salm, ihre 100jährige Vereinigung mit Frankreich gefeiert.
(Die Zeitungen.)
Ich habe eine Vorliebe für die kleinen anämischen Höfe Deutschlands. Daß der Moment ihrer zivilisatorischen Bedeutung ein überlebter ist, darüber muß man sich trösten, aber ich kann ihre verjährten Verdienste nicht gering schätzen. Man entwickelte da keine große Tatkraft, keine herbe Tugend; aber gewisse Feinheiten und eine allgemeine Artigkeit lebten nur da. In der Kunst verhimmeln diese kleinen Höfe das Bibelot, vermischen den Komfort mit dem Dekor; in der Politik temperiert ein Zug familiärer Gutmütigkeit die Ausübung der absoluten Herrschergewalt. Ein paar überflüssige aber reizende Eigenschaften, gewisse Raffinements traten nur in diesen kleinen Ländchen in Erscheinung, wo die Schwierigkeit frei zu atmen allmählich ganz ungewöhnliche Menschenpflanzen entwickelte. Ende des vorigen Jahrhunderts bis zum Jahre 1820 sah man in diesen Fürstentümern vornehme Damen, die mehr Kultur als Esprit besaßen, mehr durch den Geist des Familienlebens verfeinert waren als durch die Traditionen ihrer Rasse, die aber jenen romantischen deutschen Geist schufen, dessen erster Seufzer so zart und ergreifend klang, bevor man ihn vulgarisierte.
Ich machte die Reise, die ganz kleine Reise, durch dieses Fürstentum. In einem köstlichen, engen, entzückend romantischen Tale stieß ich auf Senones, einstens die Kapitale der Fürsten, in deren Schloß die Stadt nun eine Spinnerei installiert hat.
Die Prinzessinnen von Salm-Salm! Welch ein hübscher Name, ironisch und einschmeichelnd wie ein Gedicht von Heinrich Heine. Ihren Briefen nach zu schließen kann ich mir sie vorstellen, wie sie abenteuerlustig und verführerisch an die befreundeten Höfe von Wien und Prag kamen, wenn sie ab und zu ihrem Bibelotreiche entliefen. »Meine Mutter hat mir oft von den Prinzessinnen Salm-Salm erzählt,« sagte mir eine alte dort einheimische Dame. Aber welche Vorstellungen die einstigen Untertanen über ihre vormaligen suzeränen Fürstinnen hatten, das hat die Nacht an sich genommen. Sie werden sich nicht einmal in Feen verwandeln, wie es das Recht einer jeden vergessenen Prinzessin ist. Die jungen Burschen von Senones verstehen sich recht schlecht auf das Vergnügen, denn nicht einmal die Zwanzigjährigen träumen davon, auf abgelegenen Pfaden unter berauschend duftenden Tannen den abgeschiedenen Damen von Salm-Salm zu begegnen.
Alles von ihnen ist gestorben. Im Garten der Prinzessinnen fand ich nicht eine einzige Blume, die einst eine ihrer Lieblingsblumen hätte sein können. In ihren ehemaligen Beeten hat man Teiche angelegt, und da diese nur als Reservoire der Fabriken dienen, bringen sie nicht einmal etwas Melancholie auf. Das ist Senones, die uralte Hauptstadt der Salm-Salm vor dem Besucher.
Aber würde das Aufwirbeln des Staubes der alten Archive unser Bedürfnis nach Romantik mehr befriedigen? Nichts findet sich in diesen alten Papieren, kein historischer Roman, kein leidenschaftliches Abenteuer, dem ein Dichter neues Leben zu verleihen wüßte.
Und doch war es ein markiges Geschlecht! Man hatte ja nie weniger als zwölf Kinder. Die männlichen Nachkommen bekannten sich abwechselnd zum lutherischen Glauben oder zur römischen Kirche, je nachdem der Nutzen größer schien, sich der einen oder der anderen Partei zu verdingen. Die Felder ihrer Kämpfe sind unberühmte Dorfnamen geblieben; und trotzdem sie acht historische Jahrhunderte lang ihre Tatkraft betätigten wie irgendeiner, hatten sie doch das Mißgeschick, daß ihre Taten keinerlei bedeutende Folgen nach sich zogen. Die langwierigen Händel der Fürsten Salm-Salm mit dem Kloster Senones sind ebenso langweilig wie die zähen und hinterlistigen Grenz- und Enklavestreitigkeiten zweier Grundbesitzer. Und was die Prinzessinnen anlangt, so ist in ihren unorthographisch und im Küchenstile geschriebenen Briefen von nichts die Rede als von Schweinefettvorräten und Kleidersorgen ihrer Söhne. Ich könnte nichts über diese rauhen Leute berichten, was weniger kalt und nüchtern wäre als ihre Grabschriften auf den wappengeschmückten Steinplatten. Drei Tage hatte ich unter ihnen verlebt, und nach dieser Zeit waren die Salm-Salm in meiner Vorstellung nicht mehr einzelne Individuen, sondern nur eine Familie, und wie man es im Jahre 1822 machte, so hat die Geschichte ebenfalls alle ihre irdischen Überreste in einem Beinhaus vereinigt. Im Schlosse riß man das Geländer der Ehrentreppe herunter und benutzt es nun als Gitter zur Grabkapelle. Das war eher eine philosophische Handlung als Vandalismus. Das Geländer führt nirgends mehr hin, es ist nur der Abschluß einer Gruft. Gestern hieß es noch: »Quo non ascendam!« heute aber »Requiescant in pace.« Und von Senones wie von Hamlets Helsingör schreiben die Reisebücher: »Helsingör, Senones, kleine handeltreibende Städte.«
Warum aber drängt sich meiner Phantasie ein Zusammenhang auf zwischen diesen sich so fern liegenden Marktflecken? Weil mir die Atmosphäre dieses mediatisierten Fürstentums eine Art von Hamletischem Stimmungsgenuß bereitet. Hier, weit mehr als in Helsingör, das alles der Gefälligkeit eines Dichters verdankt, rühre ich an einen Fall jener melancholischen Ohnmacht, die von Hamlet unsterblich gemacht wurde: das unwürdige Ende eines Geschlechtes, das unfähig war, zu vollbringen, was ihm sein Erbe befahl.
Der einzige Moment der acht Jahrhunderte langen Geschichte, der mich interessiert, mich bewegt, ist das fatale Jahr 1791, wo sie, auch sie, sagten: »Es ist etwas faul im Staate Dänemark,« ihr Schloß im Stiche lassen, ihre Rechte, ihre Pflichten, und wortbrüchig werden gegen das Gebot ihrer Vorfahren. Wieviel erhabener ist, verglichen mit dem Erlebnisse eines jungen Mannes, der nicht imstande ist, seine Braut zu heiraten, noch seinen Vater zu rächen, diese wahre Geschichte der Salm-Salm, die aus ihrem Fürstentume in das Schloß Anhalt verjagt werden, wo sie sich noch vor Wind und Wetter schützen! Anhalt ist ein weitläufiges Schloß neben einem düsteren Weiher in Westfalen!
... Während des ganzen Endes des 18. Jahrhunderts litten die Salm-Salm schon unter peinlicher Geldnot. Ihre ganze unveröffentlichte Korrespondenz dreht sich ausschließlich um diesen wunden Punkt. Sie versuchen auf alle Weise vom Kaiser in Wien Subsidien zu erlangen, und ihr Amtsverwalter in Senones macht sich durch seine Härte verhaßt. Im Jahre 1791 redigierten die Reichsstände des Fürstentums ihre »cahiers«. Der Fürst war ganz paff. Wir besitzen die von seiner eigenen Hand geschriebene Antwort darauf; in einem Stile, wie sich seiner heute noch die »reaktionären« Schriftsteller bedienen. Die neuen Ideen werden darin als »tückische Ratschläge« hingestellt, die »nichts anderes bezwecken, als alle geheiligten Bande des Gehorsams, des rechtmäßigen, ersprießlichen Einvernehmens zu lockern und an dessen Stelle Empörung und Anarchie, die grausamsten Zuchtruten aller ehrbaren Leute, zu setzen.« Der Fürst beklagt sich über die allgemeine Insubordination, die Verachtung, die man seiner Autorität zeigt, indem man seine Leibgarde allerorts und jederzeit insultiert. Man fühlt, er hat ausgespielt. In allen Punkten gibt er nach, »selbst auf Kosten seiner Einkünfte«. Nur der exzellente Ton seines Schriftstückes zeigt noch einige Würde. Aber die vollendet liebenswürdige Schwäche dieses unfähigen Mannes steht dem Nachkommen der »wilden Gebieter am Rheine« nicht gut. Übrigens verließ der Fürst fünf Monate später sein Schloß mit seiner Familie und der seines Amtsverwalters, verhöhnt, vielleicht sogar in Lebensgefahr.
Achtzehn Monate dauerten diese Wirrnisse. Im Jahre 1793 ergab sich das Fürstentum an Frankreich, bedroht von Hungersnot und um dem Dekret des Konvents zu entgehen, das die Getreideausfuhr selbst für die Enklaven der Republik verbot. Der Konvent delegierte den famosen Couthon nach Senones. Die Bürgerwehr des Fürsten wurde die Gendarmerie, und die Bürger des Städtchens legten den Betrag der alten Grundsteuern in die Hände eines neuen Mannes.
Während Couthon einen sehr schönen Bericht voll von jugendlicher Tatkraft und Glauben nach Paris sandte, was begann unterdessen der arme Fürst Konstantin, der »vormalige Tyrann?« Was für ohnmächtige Gedanken plagten ihn? Wartete dieser Salm-Salm, bis er die Stimmen seiner Vorfahren vernehmen würde, wie einst Hamlet auf den Wällen von Helsingör? Ich vermute, er sah in dem ganzen Umstände nichts anderes als den Verlust einer Rente von ungefähr 50 000 Francs.
Später gab ihm der Reichstag zu Regensburg das Almosen einiger Stückchen Landes am rechten Rheinufer. Napoleon ernannte ihn zum Mitgliede der deutschen Konföderation. Im Jahre 1815 erschien er selbstverständlich in Paris. Was erhoffte er nicht alles? Gegen 1820 schickte er 1000 Franken an die Gemeinde Senones, die ihm sehr höflich darauf antwortete. Im Jahre 1826 wurde er aus Frankreich ausgewiesen. Darüber war der greise Mann sehr erstaunt; er hielt sicherlich den Wunsch nach seiner Wiedereinsetzung für einen Beweis seiner Treue gegen die Bourbonen.
Seine Enkel dienen als Offiziere in der deutschen Armee, haben sich aber so wenig um ihr Erbe gekümmert, daß sie, wie ich weiß, nicht einmal mehr im Besitze ihrer Adelsbriefe sind.
Am 10. September im Jahre 1893 habe ich es in Senones erlebt, daß man zu gleicher Zeit die Güte der Fürsten Salm-Salm, lokale Erinnerungen, Couthon und Frankreich feierte. Welch wunderbare Fähigkeit des Vergessens, Versöhnens Und der Indifferenz besitzen doch die Enkel!
Aber die lebenslustige. Bevölkerung von Senones liebte es von jeher, Feste zu feiern. Als im Jahre 1791 die regierende Fürstin von einem Knaben entbunden wurde, ordnete die Stadtverwaltung die Abhaltung einer feierlichen Messe an, Musik, Glockengeläute und am Abend Böllerschüsse und Illumination. Das Programm vom 10. September 1893 war ganz dasselbe.
Ohne Zweifel sind die Mörser genau die gleichen, die man einst zu Ehren des Prinzen und Couthons abschoß.
Es ist nur bedauerlich, daß der jetzige Chef der Salm-Salm nicht die Reise von Anhalt nach Senones machen konnte. Sehr wahrscheinlich würde er zu Rechten des Herrn Charles Ferry, Bruder des Herrn Jules Ferry und Deputierter des dortigen Kreises, der Held des Festes gewesen sein. Er hätte in einem kleinen, für diese Gelegenheit zusammengestellten Museum alle die Familienschätze vereinigt gefunden, wie er sie wiederzusehen nicht mehr in die Lage kommen wird. Nicht, daß sie verloren gingen, denn die Galerie von Epinal ist gerade die Bildersammlung der Fürsten von Salm-Salm; ihre Familienkorrespondenz, in drei dicke Bände gebunden, ist das Eigentum der Bibliothek von Nancy; ihre Porträts sind bei den jüdischen Zwischenhändlern der Gegend verstreut, und wie ihre Schlösser von den Industriellen Senones' nützlich verwertet sind, so werden die Kunstkenner des Landes sich an einem guten Teil ihrer Bibelots erfreuen. In einem Glaskasten der Ausstellung sah man eine hübsche Flinte, Im Kataloge bezeichnet als »Flinte einer Prinzessin Salm«. Im ganzen rechtfertigt das alles den Ausspruch lokaler Chronisten: die Salm-Salm haben in der Gegend manches gute Andenken zurückgelassen.
Ich weiß nicht, ob der Leser würdigt, welche Fülle von Ironie, Konfusion und hoher Ergötzlichkeit in der Philosophie liegt, mit der die Beteiligten allmählich die Ereignisse auslegen und nach und nach die Nuancen verwischen; aber in diesem Mikrokosmos kann man sich des allerschönsten Zeugnisses dafür erfreuen, was die »immanente Gerechtigkeit« der Geschichte und der »Scharfblick der öffentlichen Meinung« wert sind, und vor allem wird man bestätigt finden, daß der Erfolg immer die Gerechtigkeit und das Recht ist, selbst in den Augen der Besiegten. Ich für meinen Teil genieße in höchstem Maße jedes kleinste dieser Details.