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Mit der erwachenden Morgensonne sahen die Reisenden Pylos vor sich, eine kleine Stadt auf der westlichen Küste des Peloponnes oder der heutigen Halbinsel Morea, da wo jetzt Alt-Navarin liegt. Hier lebte der alte neunzigjährige Nestor inmitten seiner Unterthanen, wie ein Vater bei seinen Kindern. Und wirklich war seine eigene Nachkommenschaft so zahlreich, daß er in den Volksversammlungen fast unter lauter Verwandten saß. Seine Erfahrung und Weisheit hatte ihm längst einen ruhmvollen Namen erworben und seine Achtung fest gegründet. Man begehrte seinen Rat, man freuete sich seiner Güte und Milde, und die Erzählungen von den großen Schicksalen seines Lebens verkürzten der aufhorchenden Jugend manche Stunde.
Eben an dem Morgen, als Telemachos mit seinen Genossen sich Pylos näherte, hatte Nestor früh die Pylier am Gestade des Meeres versammelt, um dem Poseidon ein großes Opfer zu bringen. Es war ein wunderbarer Anblick, Tausende froher Menschen hier beisammen zu sehen, zu neun Reihen geordnet, in deren jeder fünfhundert Männer saßen. Jede Reihe hatte neun Stiere gegeben, die nun geschlachtet wurden. Die fetten Hüftenstücke dufteten auf dem flammenumloderten Altare dem Gotte zu Ehren, das andere Fleisch aber teilten die Opfernden unter sich und schmausten es behaglich, nachdem sich ein jeder seinen Anteil an Ort und Stelle im Feuer gebraten hatte.
Athene in Mentors Gestalt und der junge Telemachos waren nun ausgestiegen, hatten das Schiff den Ruderern zur Bewachung überlassen und machten sich zu Fuß auf den Weg zu den Schmausenden. Der göttliche Führer stärkte des schüchternen Jünglings Herz durch ermunternde Worte, hieß ihn Mut fassen und den Greis ohne Zagen anreden, und lehrte ihn, was er sagen und wie er sich benehmen solle. Und kaum waren sie von den pylischen Männern aus der Ferne erblickt worden, als schon eine Schar von Jünglingen ihnen entgegen kam und nach der schönen gastfreundschaftlichen Sitte des Altertums ihnen die Hände zum Gruße bot. Vor allen zeichnete sich Nestors jüngster Sohn Peisistratos, der mit Telemachos in gleichem Alter stand, durch seine Herzlichkeit aus; er nahm die beiden Fremden bei der Hand, führte sie zu weichen Sitzen neben seinem Vater und Thrasymedes, dem Bruder, hin und holte Braten und Wein herbei, um die Ermüdeten zu erquicken. Darauf füllte er einen goldenen Becher und, trank ihn der Athene zu, indem er sagte:
»Hier, lieber Gast, nimm teil an unserm frohen Opfer; wir bringen es dem meerbeherrschenden Poseidon. Sprenge auch du dem mächtigen Gotte von diesem Weine und bete zu ihm für unser Wohl. Kein Mensch kann ja der Götter entbehren. Aber wenn du geopfert und selbst getrunken hast, dann gieb deinem Freunde den Becher, daß er auch für uns bete. Du bist der Ältere, darum reiche ich dir zuerst den Becher.«
Athene freute sich des bescheidenen und verständigen Jünglings, nahm den Becher aus seiner Hand, goß zum Opfer die ersten Tropfen auf die Erde und betete: »Höre mich, Poseidon, und erachte uns würdig, jedes von uns begonnene gute Werk zu fördern. Schmücke Nestor, den Greis, und seine Söhne mit Ehren, und auch den andern Pyliern vergilt mit Gnade das festliche Opfer, das sie dir heute bringen. Dann aber gieb auch mir und meinem Freunde Glück zu dem Vorhaben, um deswillen wir die Fahrt unternommen haben, und laß es uns wohl vollenden.« – Also betete sie, und während sie noch sprach, erfüllte sie schon heimlich durch ihre göttliche Macht das Erbetene. Dann empfing Telemachos aus ihrer Hand den Becher und trank, gleichfalls opfernd und betend, auf das Wohl der schmausenden Männer.
Erst als die Gäste gesättigt waren, am Ende des Festmahles, hielt es der ehrwürdige Nestor für geziemend nach Namen und Geschäft der Fremdlinge zu fragen. Telemachos erzählte ihm alles der Wahrheit getreu und beschwor den Greis, auch ihm alles zu erzählen, was er von seinem Vater wisse, selbst das Schrecklichste nicht zu verschweigen, wenn es nur dazu dienen könne ihm über das Schicksal des edlen Vaters Gewißheit zu geben. Nestor fing darauf mit der Geschwätzigkeit, die oft dem Alter eigen ist, einen langen Bericht von seiner eigenen Rückfahrt an, erzählte umständlich, wie sich die Fürsten der Griechen entzweit und wie sie sich über den Weg nicht hatten verständigen können; wie dem einen das Schiff vom Sturm zerschellt, der andere weithin an fremde Küsten getrieben worden, und noch andere glücklich in die Heimat gelangt seien. Aber aus allen diesen Erzählungen konnte Telemachos nichts Tröstliches für sich schöpfen, denn gerade in der Hauptsache war der alte Nestor so unwissend als er selbst. Doch riet dieser ihm nach Sparta zu Menelaos zu reisen, der unter allen Helden am längsten unterwegs gewesen und erst jüngst aus der Fremde zurückgekehrt sei und deshalb gewiß am besten eine sichere Auskunft über Odysseus' Schicksale und Aufenthalt werde geben können. Mentor gab dem Vorschlage Beifall, und so ward die Reise nach Sparta beschlossen. Da aber über den langen Gesprächen – denn auch Telemachos hatte die traurige Geschichte von den Freiern ausführlich erzählen müssen – der Abend herangekommen war, so erinnerte die Göttin ihren jungen Freund, es sei Zeit aufzubrechen. Die Söhne Nestors füllten darauf noch einmal die Becher, reichten sie ringsherum und spendeten das gebräuchliche Trankopfer dem Poseidon und allen unsterblichen Göttern. Dann machten Mentor und Telemachos sich auf, um zu ihrem Schiffe hinabzugehen.
»Behüte!« rief der greise Nestor fast ungestüm, als er dies sah; »das wären mir Gaste, die mich den Tag über besucht hätten und abends weggingen, um im feuchten Kahne zu schlafen; als wäre ich so ein armer Mann, der weder Mantel noch weiche Decken im Hause hätte! Nein, nein, meine Freunde, so geht's bei mir nicht zu; ich habe der prächtigen Polster und Gewänder genug, und meines alten Freundes lieber Sohn soll mir so nicht fortgehen, so lange ich lebe. Und auch wenn ich nicht mehr da bin, werden noch immer Nestors Söhne einen Fremden, der dies Haus besucht, nach Würden zu ehren wissen.«
»Wohlgesprochen, lieber Greis!« sagte Mentor. »Dem Telemachos geziemt es die Einladung anzunehmen, und so mag er denn mit dir nach deinem Palaste gehen und dort schlafen. Ich aber will zu den Gefährten ans Ufer eilen und daselbst die Nacht zubringen, denn ich bin der einzige Alte unter den jungen Gesellen, und mir gehorchen sie gern. Morgen mit dem frühesten will ich mich aufmachen zu dem mutigen Volke der Kaukonen, die mir seit langer Zeit einen Schadenersatz schuldig sind. Du sende unterdessen den Telemachos mit deinen Söhnen nach Sparta und gieb ihm dazu einen Wagen und schnelle Pferde.«
Mit diesen Worten wendete sich Mentor und schwang sich plötzlich gleich einem Adler in die Luft. Alle erstaunten darüber, Nestor aber erkannte sogleich die Göttin; denn er wußte, wie oft sie sonst schon dem klugen Odysseus beigestanden hatte. »Nun fasse Mut«, sprach er zu dem Telemachos, »du erkennst ja jetzt, wie sichtbar die Götter mit dir sind. Kein anderer von den Unsterblichen war es als Athene. Du aber, Herrscherin Athene, sei uns allen gnädig und verleihe uns Ruhm! Sieh, ich gelobe dir ein jähriges Rind mit breiter Stirn und ohne Fehl, das noch nicht unter das Joch gebändigt worden ist.«
Jetzt zerstreuten sich die Versammelten, und Nestor ging mit seinen Söhnen und dem Gaste nach seiner Wohnung. Als sie hier angekommen waren, ward noch einmal alter Wein geopfert und getrunken, und darauf wies Peisistratos dem Telemachos ein Lager in der gewölbten Halle neben dem seinigen an; die andern aber, welche bereits vermählt waren, hatten ihre Schlafgemächer im Innern des Hauses.
Früh, als der Morgen angebrochen war, erhoben sich die Söhne mit dem bejahrten Vater, begaben sich auf den großen Platz vor dem Thore des Hauses und ließen sich auf Sitzen von behauenen Steinen nieder, um dort zu beraten über die beabsichtigte Reise. Nestor beauftragte alsbald einige von den Söhnen mit den Vorbereitungen zu dem gestern gelobten Opfer. Einer mußte zu dem Schiffe des Telemachos gehen, um die Ruderer bis auf zwei herbeizuholen; ein anderer sollte den Goldarbeiter bestellen, um die Hörner des Rindes zu vergolden; ein dritter dem Hirten befehlen, daß er ein solches mit den verheißenen Eigenschaften aussuche und hertreibe; und noch ein anderer den Mägden ansagen ein festliches Mahl zu rüsten. Und nicht lange nachher erschien der Meister mit seinem Schmiedegerät, es erschienen die Ruderer von Telemachos' Schiffe, und der Hirt trieb das geforderte Tier herbei. Hier trug ein Jüngling ein Becken mit Wasser, dort kam ein anderer mit einem Körbchen voll Gerste, denn beides waren heilige Zuthaten zu dem Opfer. Und als nun der Goldschmied der Kuh die Hörner vergoldet hatte, führten zwei der Söhne sie in den Kreis. Nestor trat hinzu, nicht ohne sich zuvor nochmals gewaschen und so gleichsam von jedem Flecken gereinigt zu haben. Hierauf schnitt er ihr die Stirnhaare ab und warf sie betend in das Feuer, bestreuete dann mit der heiligen Gerste den Altar und das Opfertier, und nun schritt der kräftige Thrasymedes heran und hieb dasselbe mit der Schärfe des Beils in den Nacken, daß es zum Tode getroffen hintaumelte. Perseus fing das quellende Blut in der untergehaltenen Schale auf, und nachdem Peisistratos das Rind vollends getötet, begannen die andern es zu zerlegen. Sie lösten nach gewohntem Brauch die Schenkel ab, umwickelten sie zwiefach mit Fettstreifen und legten sie zum lieblichen Duft für die Göttin in die Flamme des Altars, sprengten Wein darauf und wendeten die Opferstücke oft mit langer Gabel. Andere Jünglinge zerschnitten das übrige Fleisch, steckten es an Spieße und rösteten es langsam am Feuer, für sich selber zum Mahle.
Jetzt erst trat Telemachos zur Versammlung, schön wie ein Gott: ihn hatte vorher Polykaste, die jüngste Tochter des Nestor, gebadet, mit glänzendem Öle gesalbt und mit einem prächtigen Mantel geschmückt. Alle freuten sich, ringsum sitzend, des herrlichen Schmauses. Erst als sie sich gesättigt hatten, erinnerte Nestor seine Söhne an die Abreise. Hurtig schirrten sie zwei Pferde vor einen Wagen, eine Dienerin legte Brot, Wein und Fleisch hinein, Telemachos nahm Platz auf dem Sitze, und Peisistratos neben ihm lenkte die Rosse und trieb sie mit der Peitsche an. Sie fuhren rasch über die Felder hin den ganzen Tag und erreichten am Abend Pherä, den Wohnsitz des wackern Diokles, der sie gastfreundlich beherbergte. Am zweiten Tage kamen sie um Sonnenuntergang in der Burg des Menelaos zu Sparta an, dessen Gebiet sie schon längst an den breiten Weizenfeldern erkannt hatten. Peisistratos hielt die muntern Rosse vor dem Thore an, und die beiden Fremdlinge sprangen rasch aus dem Wagen.
Schon draußen vernahmen sie ein jubelndes Getöse schmausender Männer, dazwischen die Stimme eines Sängers, begleitet von den Tönen des Saitenspiels, und durch die offene Pforte sahen sie das Gedränge der Gäste und in der Mitte derselben zwei Tänzer, welche im Takt der Musik sich bewegten. Denn es war heut in Menelaos' Palaste ein festlicher Tag; der alte Held stattete zwei seiner Kinder aus, eine Tochter Hermione, die er mit dem tapfern Sohne des Achilleus, dem Neoptolemos, vermählte, und einen Sohn, dem er eine Braut aus Sparta, des Alektor Tochter, ausgesucht hatte. Vor dem lärmenden Gewühle hörte man kaum im Hause das Rasseln des heranrollenden Wagens, bis ein Diener des Hauses, der zufällig die Fremden bemerkt hatte, es dem Herrn ansagte, »Da sind fremde Männer draußen, zwei Jünglinge, herrlich an Gestalt, Soll ich ihnen die Pferde abschirren?« fragte er, »oder sollen sie weiter fahren, damit ein anderes Haus zur Bewirtung sie aufnehme?«
»Ei«, sprach Menelaos voll Unwillen, »sonst bist du ein kluger Mann, und jetzt bist du so kindisch und thöricht. Haben wir nicht so viele Gastgeschenke erhalten und freundliche Aufnahme gefunden bei fremden Menschen? Geh, spanne flink die Rosse ab und führe die Männer herein zu dem Mahle.«
Jener that, wie Menelaos ihm befohlen hatte, und Telemachos und Peisistratos traten ein. Sie erstaunten über die Pracht des Palastes, denn Menelaos war mit großen Gütern heimgekehrt. Sklavinnen führten sie sogleich zum Bade, und als sie sich gesäubert und gesalbt hatten, warfen sie das Gewand und den Mantel wieder um und nahmen Platz auf hohen Sesseln neben dem fürstlichen Wirte. Sogleich erschienen Diener und Dienerinnen mit kleinen Tischen und Speisen. Eine goß ihnen aus der goldenen Kanne Wasser zum Waschen über die Hände und hielt ein silbernes Becken unter, eine andere trug Wein und Fleisch und Brot auf. »Langet nun zu und esset und trinket«, rief Menelaos, »und freuet euch! Nachher sollt ihr mir auch sagen, wer ihr seid; denn wahrlich, man sieht's euch an, ihr müsset von edler Herkunft sein.« Mit diesen Worten legte er ihnen ein breites, fettes Rückenstück vom Rinderbraten, sein eigenes Ehrenteil, mit beiden Händen auf den Tisch, und die Jünglinge ließen sich's wohlschmecken.
Menelaos beobachtete sie unverwandt. Er sah mit Wohlbehagen, wie sie die Pracht seines Saales und der Geräte anstaunten, und wie heimlich einer den andern immer auf neue Gegenstände aufmerksam machte. Das bewog ihn von seinen Reisen zu erzählen, von den Gefahren, die er acht Jahre lang nach der Beendigung des trojanischen Krieges bestanden, von den Menschen, die er kennen gelernt und die ihn zum Teil so reichlich mit den Kostbarkeiten beschenkt hatten, die er jetzt besaß. Oft kam er in seiner Erzählung auf die Drangsale des Trojanerkriegs zurück, und die Erwähnung des schmählichen Todes seines Bruders Agamemnon preßte ihm bittere Thränen aus, »Aber«, fuhr er mit bewegter Seele fort, »alles wollte ich noch verschmerzen, hätte das Geschick mir nur den Freund erhalten, der mir unter allen der liebste war, und mit dem ich alles Gute und Böse geteilt habe, den edlen Odysseus! oder wüßte ich ihn nur gerettet und könnte ihn zu mir ziehen! Eine ganze Stadt von den meinigen wollt' ich ihm schenken und wir wollten nebeneinander wohnen und uns täglich besuchen, bis der Tod unsere Freundschaft zerrisse. Aber nur ein Gott weiß es, ob er noch lebt oder schon tot ist. Vielleicht betrauern ihn schon jetzt zu Hause sein alter Vater Laërtes und die züchtige Penelope und sein Sohn Telemachos, den er als Säugling im Hause zurückgelassen hat!«
Wie mußte er auch gerade das erwähnen! Telemachos verbarg seine Thränen im vorgehaltenen Mantel und schluchzte. Menelaos bemerkte es und wußte nicht, sollte er den jungen Fremdling befragen oder ihn seinem Schmerze überlassen. Da trat seine Gemahlin, die einst so schöne Helena, in den Saal, von ihren Dienerinnen begleitet. Eine stellte ihr den Sessel hin, eine andere trug den weichen, wollenen Teppich, eine dritte das silberne Arbeitskörbchen mit Spindel und Wolle. Sie setzte sich zu den Fremden, betrachtete sie aufmerksam und sagte dann zu ihrem Gemahle:
»Hast du schon die Gäste gefragt, wer sie sind? Ich möchte sagen, nie haben sich zwei Menschen mehr geglichen, als dieser Jüngling und der edle Odysseus.«
»Ja wahrlich«, antwortete der Held, »ich denke dasselbe, was du jetzt vermutest. Es sind die Hände, die Füße, die Augen, es ist das Haar und der Scheitel des Odysseus. Und eben als ich von unserm alten Freunde sprach, stürzten dem Jünglinge hier die Thränen aus den Augen, und er verhüllte rasch sein Antlitz in den purpurnen Mantel.«
»Du hast ganz recht gesprochen, Menelaos, göttlicher Herrscher«, fiel Peisistratos ein. »Dieser ist wirklich des Odysseus Sohn; aber er ist bescheiden und hat dich nicht gleich mit prahlendem Geschwätze belästigen wollen, da du uns so freundlich und liebreich anredetest. Siehe, mich sendet Nestor, mein Vater, mit ihm hierher, daß du ihm Auskunft und Rat erteilen möchtest; denn er leidet zu Hause gar viel und kann sich der Gewaltthätigkeiten nicht erwehren. Auch steht kein anderer im ganzen Volke für ihn auf, um das Unheil von ihm abzuwenden.«
Gern hätte Menelaos sich der Freude hingegeben! aber die wehmütige Empfindung bei der Erinnerung an den verlorenen Freund überwältigte ihn. Er weinte, Helena weinte, Telemachos schluchzte noch immer, und auch der junge Peisistratos blieb nicht ungerührt. Noch eine Weile überließen sie sich den traurigen Gesprächen, bis endlich der letztere riet die Sache lieber morgen weiter zu besprechen, jetzt aber fröhlich zu sein und fortzuschmausen. Die verständige Rede fand allgemeinen Beifall. Sogleich besprengte ein Diener den Sitzenden noch einmal die Hände, und sie griffen aufs neue nach den fetten Bratenstücken und den Pokalen. Und Helena, klug und gewandt in allerlei Künsten, warf heimlich in den Wein ein Zaubermittel, das ihr einst eine ägyptische Fürstin geschenkt hatte: eine köstliche Würze, welche die Kraft hatte, jeglichen Zorn und Unmut zu tilgen und das Gemüt zu erheitern, selbst wenn dem Trinkenden Vater und Mutter, Bruder und Schwester, ja der eigene Sohn vor den Augen getötet würde. Und sie tranken alle davon und wurden fröhlich. Helena selbst erzählte aus eigener Erfahrung ein Geschichtchen von der erfindsamen List des Odysseus. Denn als sie noch in Ilios verweilte, war einst Odysseus, um Nachrichten von den Plänen der Trojaner zu erkunden, in die Stadt gekommen, in schlechter Kleidung, wie ein Knecht oder ein Bettler. Keiner hatte ihn in dieser Entstellung erkannt, nur der Helena hatte er sich entdeckt und die Absicht der Griechen mitgeteilt. Aber auch Menelaos berichtete gesprächig von manchem Zug und Trug des kühnen und verschlagenen Mannes. Odysseus war allein Gegenstand ihrer Unterhaltung. Als sie nun so den Abend verplaudert hatten, ließ Helena für die Gäste in der Halle ein Lager von Polstern, Teppichen und wolligen Mänteln bereiten, und ein Herold leuchtete ihnen mit der Fackel dahin, Menelaos aber und seine Gemahlin schliefen im Innern des Palastes.
Am Morgen erst, als sich alle wieder auf den steinernen Sitzen vor dem Hause zusammengefunden hatten, fragte jener seine Gäste nach dem Zweck ihrer Reise. Telemachos sagte ihm dasselbe, was er bereits dem Nestor gesagt hatte, erzählte von den übermütigen Freiern und bat ihn um Nachricht von seinem Vater. »Ha, wahrlich!« rief der Held aus, da er alles vernommen hatte, »wie wenn die Hirschkuh ihre neugebornen Jungen ins Lager des starken Löwen gelegt und dann sich entfernt hat, um in dem Thale und auf den Bergen umher zu weiden, jener aber zurückkehrt und die fremde Brut findet und zerreißt, so wird Odysseus in sein Haus kommen und jenen Frevlern ein schreckliches Ende bereiten! Ja, sollten sie ihn sehen in der Götterkraft, mit der er einst den Phiomeleides in Lesbos ringend zu Boden schlug – wahrhaftig, das Freien würde ihnen vergehen! Aber mein Lieber, da du mich fragst, so will ich dir treulich erzählen, was mir einst in Ägypten der greise Seher Proteus von ihm verkündigt hat.
Als ich auf meiner Heimfahrt dorthin verschlagen war, hielten mich die erzürnten Götter zwanzig Tage auf einer Insel an der Mündung des Nilstroms auf, weil ich Unbesonnener vergessen hatte ihnen die schuldigen Sühnopfer zu bringen. Kein günstiger Wind wollte sich vom Lande her erheben, und ich harrte seufzend von einem Tage zum andern – aber vergebens. Fast ging die Nahrung uns zu Ende, der Mut sank meinen Gefährten, und ich wäre vielleicht mit ihnen umgekommen, hätte sich nicht eine Göttin meiner erbarmt, Idothea, des Proteus blühende Tochter, sah uns mit Mitleid an, und als einmal meine Gefährten sich, von Hunger getrieben, auf den Fischfang begeben hatten und ich einsam umherschlich, trat sie zu mir und redete mich an. Da klagte ich ihr mein Leid und beschwor sie mir ein Mittel zu sagen, wie ich den Rat der Himmlischen erforschen möchte und erführe, wer von den Göttern meine Reise verhindere, und wie ich durch die weiten Fluten des Meeres nach Hause gelangen könnte.
»Gern, Fremdling«, sprach sie, »will ich dir ein untrügliches Mittel verkünden. Siehe, mein Vater, der greise Meergott Proteus, weiß alle Dinge, und verständest du ihn mit List zu fangen, so offenbarte er dir leicht alles, was du zu wissen begehrst.« – Gut, sprach ich, aber sage mir die Lift, durch die ich seiner mächtig werde. – »So höre«, erwiderte die Göttin.
»Täglich, wenn die Sonne im Mittage steht, steigt der Greis aus dem Meere und kommt ans Land und legt sich in kühlen Grotten nieder zum Schlummer. Mit ihm erheben sich die Geschlechter der Robben umher, um sich gleichfalls am Ufer zu lagern. Willst du nun unerkannt ihm nahen, so mußt du dich in eines Seehunds Haut verbergen und unter die übrigen Tiere mischen. Dazu will ich dir behilflich sein. Morgen früh stelle dich hier mit drei auserlesenen Gefährten ein, dann werde ich euch mit glänzenden Fellen versorgen. Kommt nun mein Vater herauf, so zählt er zuerst seine Robben, wie der Hirt seine Schafe, und dann legt er sich mitten unter sie. Aber sobald ihr seht, daß er eingeschlummert, dann ist es Zeit Gewalt anzuwenden. Ihr packt ihn an, haltet ihn von allen Seiten fest und lasset nicht los, wie sehr er auch sich frei zu machen bemühe. Alle Künste der Verwandlung wird er dann erproben, jetzt als Feuer, jetzt als Wasser, jetzt als reißender Panther die Flucht versuchen. Aber ihr lasset nicht nach mit Drängen, bis er ermattet die frühere Gestalt wieder angenommen hat. Dann machet ihn frei von den Fesseln und lasset euch von ihm weissagen, was ihr zu wissen begehrt.«
Kaum hatte Idothea dies gesprochen, so tauchte sie wieder in die Tiefe des Meeres hinab. Ich aber ging zu meinen Schiffen zurück, durchmachte sorgenvoll die Nacht, und am Morgen erlas ich mir aus meinen Gefährten drei Männer von bewährter Stärke und Kühnheit, die mit mir das wunderbare Abenteuer bestehen sollten. Wir gingen nach der angewiesenen Stelle hin, und siehe – die Nymphe hielt Wort. Mit vier frischen Robbenfellen stieg sie aus der Tiefe des Meeres herauf, hüllte jeden von uns in eines derselben und wies uns unsere Plätze an dem sandigen Meeresufer an. Freunde, ihr glaubt nicht, wie uns zu Mute ward. Sicher hätte uns der thranige Dunst der Felle getötet, wenn nicht Idothea selbst uns lieblich duftendes Gewürz unter die Nase gerieben hätte, das die gräßlichen Gerüche tilgte. So in tierischer Vermummung saßen wir den ganzen Morgen, bis endlich in der Mittagshitze die Schar der Seehunde und nach ihnen der graue Meergott selbst aus dem Wasser hervorstieg. Er sah sich um, musterte und zählte seine Herde und uns mit, und legte sich dann mitten unter ihnen nieder. Alsbald sprangen wir auf, umklammerten ihn mit lautem Geschrei und drückten ihn gewaltig zusammen. Alles erfolgte, wie seine Tochter uns gesagt hatte; er verwandelte sich plötzlich in einen Löwen, um uns zu schrecken. Aber wir erschraken nicht, sondern drückten nur stärker. Da ward er zum Panther, und wieder zum Drachen, und endlich zum borstigen Eber. Noch glaubten wir die Borsten fest zu halten, da wollte er uns schon wieder als Wasser entrinnen, und kaum glaubten wir das Wasser umdämmt zu haben, so schoß er als schlanker Baum in die Höhe. Endlich ward der alte Zauberer der Verwandlungen müde, ging zurück in seine wahre Gestalt und sprach:
»Sohn des Atreus, welcher der Unsterblichen verriet dir die Kunst mich zu fangen? Und was verlangst du von mir?«
Ich legte ihm meine Fragen vor. Er hieß mich nach Ägypten zurückkehren und dort mit großen festlichen Opfern die beleidigten Götter versöhnen, dann, so verkündigte er mir, würde meine Heimfahrt glücklich sein. Da erlaubte ich mir noch eine Frage an den Gott. Er sollte mir sagen, was aus meinen Freunden geworden sei, ob sie alle glücklich nach Hause gekommen, und wer vielleicht eine Beute der Stürme oder der Seeungeheuer geworden sei.
Und nun begann er eine lange Erzählung, die mir unaufhörliche Thränen entlockte. Zuerst erwähnte er das traurige Schicksal des Aias (Ajax), der übermütig geprahlt hatte, allen Göttern zum Trotze wolle er dennoch wohlbehalten heimkehren; aber ihn hatte Poseidon rächend mit demselben Felsen erschlagen, unter dem er jene Lästerung ausgestoßen hatte. Ach! auch meines lieben Bruders Agamemnon schreckliches Verhängnis erzählte er mir. Da brach mir das Herz vor Betrübnis; ich weinte laut und wünschte nicht länger zu leben. Aber der Greis richtete mich tröstend wieder auf und befahl mir, männlich als Rächer nach Hause zu eilen. Da fragte ich noch zuletzt nach meines lieben Freundes Odysseus' Schicksale, ob er noch lebe oder ob auch er bereits hingerafft sei? Und der willfährige Greis erwiderte mir dieses:
»Wohl lebt Odysseus noch; aber fern von hier hält ihn auf einer Insel die Nymphe Kalypso gefangen. Ich habe ihn selbst dort gesehen. Thränen der Sehnsucht vergießt er täglich, und gern wagte er selbst auf den unbekannten Gewässern die Reise, aber er hat kein Schiff und keine Gefährten, und die Nymphe, die ihn liebt, läßt ihn nimmer ziehen.« – So meldete mir Proteus und tauchte dann plötzlich ins Meer. Ich aber ging schweigend zu meinen Schiffen, und ernste Gedanken bewegten meine Seele. Indes folgte ich seinem Befehle, brachte in Ägypten den Göttern die schuldigen Opfer, und versöhnt sandten sie mir günstigen Wind und führten mich glücklich in mein liebes Vaterhaus.
Nun weißt du alles, was ich dir sagen kann, theurer Jüngling. Aber wohlan, verweile bei mir eine Zeitlang, dann sende ich dich heim mit würdigen Gastgeschenken, mit drei prächtigen Rossen und einem künstlich gearbeiteten Wagen, und dazu schenke ich dir noch ein schönes Opfergefäß, damit du dich beständig meiner erinnerst.«
Telemachos wäre gern länger geblieben, um die Erzählungen seines freundlichen Wirtes zu hören, aber er mußte die Aufforderung dazu ablehnen, weil er die in Pylos zurückgelassenen Gefährten nicht über die verabredete Zeit hinaus warten lassen wollte, und weil auch Nestor ihn ermahnt hatte, sobald möglich, zum Schutze seiner Habe heimzukehren. Die Rosse verbat er, Ithaka sei für Pferde zu felsig. Der freigebige Menelaos verwandelte darauf das Geschenk in einen prächtigen silbernen Krug mit goldenem Rande von künstlicher Arbeit, den er einst selber vom Könige der Sidonier empfangen hatte. Und nun bereitete er den beiden Jünglingen zum Abschiede noch ein reiches Frühmahl von frisch geschlachteten Ziegen und Schafen; die geschäftigen Köche eilten hin und her, und die Mägde ließen es an Brot und Wein nicht fehlen.
Telemachos fühlte sein Herz erleichtert, ja zur Freude gestimmt; denn wie konnte er wissen, was indessen die Freier daheim über ihn beschlossen hatten! Mit Erstaunen hatten diese Übermütigen diese Nachricht vernommen, daß Telemachos wirklich Mut genug gehabt habe die Reise zu unternehmen. Und konnte er nicht etwa gar mit mächtiger Hilfe von Nestor oder Menelaos zurückkehren und ihnen allen den Tod bereiten? Bisher war er ihnen stets nur wie ein Knabe erschienen; man hatte ihm nichts Kühnes zugetraut, aber jetzt? Dieser rasche Entschluß, dieser versteckte Plan – war es nicht, als erwache plötzlich des Vaters Geist in dem blöden Sohne? »Nein«, rief zornglühend Antinoos, der unbändigste unter allen, »den jungen Fant dürfen wir nicht aufkommen lassen, der droht uns in Zukunft viel Unheil. Nein, er werde aus dem Wege geräumt, ehe er uns Schaden bereiten kann. Wohlan, gebt mir ein Schiff und bemannt es mit zwanzig tapfern Männern! Ich will ihm entgegenrudern; in dem Sunde zwischen Ithaka und Samos will ich vor Anker gehen und ihm auflauern, wenn er zurückkommt. Treffe ich ihn, so denk' ich, er soll nicht lebendig dies Haus wieder sehen, und dann ist ja alles unser.«
Der ganze Saal rief dem Mordplane Beifall zu, und sofort besprach man sich, wie der Jüngling am sichersten zu töten sei. Einige gingen sogleich hin, um das Schiff zu besorgen; zwanzig Jünglinge wurden auserlesen, um den Antinoos zu begleiten, und Waffen und Nahrungsmittel mußten des Odysseus eigene Diener herbeischaffen. Darauf brachen sie auf und ruderten nach dem bestimmten Hinterhalte hin, wo sie den rückkehrenden Telemachos erwarteten. –
Medon, der Herold, hatte die Beratung der Freier belauscht und eilte die Penelope von der Gefahr ihres Sohnes zu benachrichtigen. Schon daß Telemachos die Seefahrt gewagt hatte, machte sie besorgt; aber als sie gar von den tückischen Anschlägen der Freier hörte, da zitterten ihr die Kniee, und ohnmächtig sank sie auf der Schwelle ihres Gemaches nieder. Alle Mägde weinten um sie herum, und nachdem sie lange starr vor sich hingeblickt hatte, brachen auch aus ihren schönen Augen die Thränen. Sie klagte laut und wußte sich nicht zu fassen. Bald wollte sie zu ihrem Schwiegervater Laërtes hinausschicken, aber der alte Mann war ja selbst so kraftlos; bald ersann sie andern, ebenso nichtigen Rat. Da fiel ihr gepreßtes Herz auf den letzten, tröstlichen Gedanken, eine Gottheit um Schutz anzuflehen. Sie betete inbrünstig zu Athene um Rettung des Sohnes, und als sie gebetet hatte, fühlte sie sich gestärkt und beruhigt. Sie streckte sich auf ihr Lager hin und verfiel alsbald in tiefen Schlaf.
Athene hatte sie erhört und wollte die Gute nicht ohne Trost lassen. Sie sandte ihr einen schönen Traum. Iphthime, Penelopes Schwester, mußte der Schlafenden erscheinen und sie um die Ursache ihres Schmerzes fragen. Penelope erleichterte durch die Mitteilung ihr Herz, und die Traumgestalt goß der Geängsteten Mut in die Seele, indem sie sprach:
»Sei getrost, Schwester, und wirf die kleinmütigen Zweifel und Sorgen ab. Dein Sohn wird wiederkehren in die Heimat; ihn begleitet eine Führerin, die wohl mancher sich zum Beistand wünschte. Pallas Athene selbst ist mit ihm, die sich seiner und deiner erbarmet, und die auch mich jetzt zu dir gesandt hat, damit ich dir dieses verkünde.«
Penelope wollte noch mehreres fragen, aber die leichte Luftgestalt verschwand. Da erwachte sie, freute sich des herrlichen Traums, und jammerte nun nicht mehr um das Schicksal der beiden Lieben, die sie für verloren gehalten hatte. Der Traum schien ihr Wahrheit verkündigt zu haben, daher hob ihr bald freudige Zuversicht das Herz.