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In der zweiten Klasse des Nachtkurierzugs nach Zürich sitzen sich Tante Mile und Klärchen gegenüber. Zürich soll der Vereinigungspunkt sein, wo sich drei Paare treffen. Das eine ist, wie schon gesagt, Tante Mile und Klärchen; Baldinger und Steinbach sind über Paris, wo sie die Industrieausstellung besuchen, vorausgereist; Hildchen und Mariechen kommen von Genf.
Die Sehnsucht nach Hildchen war so groß, daß Tante Mile der Aufforderung des Bruders, sie in der Schweiz mit zu besuchen, nicht widerstehen konnte; aber allein zu reisen, wurde ihr nicht erlaubt. Da erbot sich Klärchen, obgleich sie noch Trauer um ihre Mutter trug, sie zu begleiten.
Das gute Klärchen ist immer gefällig und opferwillig, besonders wenn sie bei dieser Gelegenheit eine Schweizerreise machen kann.
Wenn Tante Mile öfter solche Aufregungen durchzumachen hätte, wie vor einer Reise, würde sie wahrscheinlich nicht mehr lange leben. Sie bildet sich ein, daß dazu nun einmal das Abhetzen, das Jammern und die gräßlichste Verwirrung gehörten. Der Wagen stand eine Stunde zu früh angespannt vor der Thür, und doch mußten die Pferde scharf ausgreifen, wenn die Reisenden noch mit dem Zuge fortkommen sollten.
Mile und Klärchen haben Mittelplätze genommen, die einzigen, die im Nichtrauchercoupé des durchgehenden Wagens noch übrig waren. Klärchens Miene zeigt deutlich, daß mit diesen unbequemen Plätzen nur eingetroffen ist, was sie prophezeit hatte.
Mile hat den Atem noch nicht wieder gefunden. Sie kramt pustend in ihren Kleider- und Handtaschen, denn sie muß sich überzeugen, ob die unentbehrlichen Pfefferminzkügelchen nicht vergessen worden sind, und ob sich auch zwei Stück der Riesenschnupftücher vorfinden.
Klärchen sitzt ihr gegenüber steif, gerade, aufrecht – eines dieser Wörter würde ihre Haltung nicht genügend bezeichnen. In ihrem grauen Staubmantel ist kein Knitterchen, das Strohhütchen sitzt ganz accurat, und die Haare sind glatt gescheitelt, kein Härchen wird sich während der Nacht hervorzudrängen wagen. Ihr Gesichtchen schon – es ist auffallend klein – spiegelt den Charakter wieder, den sie als Miles Begleiterin angenommen hat: sie sieht ganz hofmeisterlich aus.
Allmählich beruhigt sich denn auch Mile, und nun merkt sie, daß sie hungrig ist, weil sie vor Aufregung nichts zu sich genommen hat. Sie steht auf, macht einen langen Hals und langt nach dem aufgestapelten Handgepäck.
»Was wünschen Sie denn schon wieder, Tantchen?« ruft Klärchen mißbilligend, bemutternd, als ob Mile sie durch ihre Wünsche fortwährend belästigte. Die Anrede »Tantchen« ist auch eine Neuerung der Reise.
»Ich will mir den Eßkorb herunterlangen; ich bekomme ein Appetitchen.«
Klärchen denkt mit Schrecken an das öffentliche Benagen von Hühnerknöchelchen. »Aber Sie können jetzt doch nicht schon wieder essen, Tantchen. Sie haben doch erst um fünf Uhr diniert.« – Es klingt so großartig – um fünf Uhr diniert!
Mile fühlt, daß sie vor allen Mitreisenden ihres großen Appetits wegen blamiert ist. Sie setzt sich eingeschüchtert wieder hin, und da sie nun nichts Besseres vorhat, geht wieder das Suchen nach den Pfefferminzkügelchen, nach den Kofferschlüsseln und dergleichen Dingen los.
Das unaufhörliche Taschen-Aufundzumachen, das Auskramen und Hineinstopfen macht Klärchen nervös, und sie zieht es vor, sich schlafend zu stellen.
Mile atmet ordentlich auf, als sie sich von Klärchens vorwurfsvollen Augen nicht länger beobachtet sieht; da sie sich aber langweilt – hinaussehen kann sie auch nicht –, beschließt sie sich zu unterhalten.
»Fahren Sie auch nach Zürich?« erkundigt sie sich bei ihrer Nachbarin zur Rechten.
» I don't understand,« wird in kaltem Tone erwidert.
Mile merkt, daß auf dieser Seite nichts zu erwarten ist, und wendet sich nun mit derselben Frage an die Nachbarin zur Linken.
Diese Dame ist mit ihrem Gegenüber, einem bebrillten, unbeholfenen und grilligen alten Herrn andauernd beschäftigt, immer seine Wünsche erratend und sie liebevoll befriedigend.
Nach dieser Seite hat Mile Erfolg. Die Dame ist gesprächig und erzählt gleich ihre Lebensgeschichte. Mile wird angeregt und erzählt gleichfalls ihre Lebensgeschichte; beide Damen unterhalten sich dabei vortrefflich.
Plötzlich wird der alte Herr unruhig. Er macht Anstalten auszusteigen, als der Zug in einer Station anhält.
»Ich habe Hunger,« bekennt er der Gattin.
»Na, mit was zu essen sind wir ja versorgt,« erklärt die gefällige Mile. Sofort erwacht Klärchen. »Aber, Tantchen,« ruft sie, wenn auch nicht laut, doch bei ihrer dünnen Stimme allen verständlich, »wovon sollen wir denn satt werden, wenn Sie alles weggeben?«
Diesmal aber hat sich Klärchen verrechnet; in gewissen Dingen verträgt die bescheidene Tante Mile keinen Widerspruch. Mit der einen Hand hält sie die Dame zurück, die aussteigen will, mit der andern deutet sie nach dem Korbe, und in einem Tone, der selbst Klärchen etwas einschüchtert, befiehlt sie: »Nehmen Sie den Korb 'runter und packen Sie ihn mal aus; ich will jetzt auch mein Abendbrot haben.«
Das gute Fräulein Fanny, die von Steinbach besorgte Wirtschafterin, hat die feinsten Leckerbissen so sauber und mundgerecht eingepackt, daß selbst die Amerikanerinnen neidische Blicke nach diesen Herrlichkeiten werfen, und Herr und Frau Professor – als solche stellen sie sich vor – lassen sich's vortrefflich schmecken.
Für alte Gebeine ist es nicht erquickend, die Nachtruhe sitzend zu genießen. Mile wird steif und die Glieder schmerzen sie; unaufhörlich wechselt sie die Stellung und springt wohl auch in die Höhe. Dann macht Klärchen jedesmal die Augen auf und sagt vorwurfsvoll: »Aber Tantchen, Sie wollen wohl das ganze Coupé aufwecken?«
Da es nun durchaus nicht in Miles Absicht liegt, das ganze Coupé aufzuwecken, nimmt sie erschreckt wieder Platz, bis ihr das Sitzen noch unerträglicher als die Störung wird.
Am nächsten Morgen aber ist sie übernächtig und ärgerlich; Klärchens hofmeisterliche Anmaßung ist auch nicht dazu geeignet, sie versöhnlicher zu stimmen. Klärchen hat eine gewisse, wenig schmeichelhafte Art, ihrem »Tantchen« klar zu machen, daß es ohne ihre Aufsicht eigentlich gar nicht bestehen könne. »Tantchen, Sie treten ja schon wieder an die Thür – Sie wissen doch, wie oft Kinder hinausfliegen. – Aber, Tantchen, wenn Sie das Fenster aufmachen, zieht es ja! – Ja, wenn Sie den Kopf zum Fenster hinausstecken wollen, Tantchen, wundert's mich nur, daß Sie ihn behalten.« – Und in diesem Tone weiter, Tantchen hier und Tantchen da – bis es Mile endlich satt bekommt und grimmig herausfährt: »Nu du mein Himmel, Klärchen, bilden Sie sich denn ein, daß ich ein geistesschwaches Frauenzimmer wäre?«
Ihre Liebe zu Klärchen hat sich auf dieser Reise nicht verstärkt, und in mißmutiger Stimmung, anzusehen wie eine graue Regenwolke, kommt sie in Zürich an.
Die andern Paare sind schon auf dem Bahnhofe versammelt, und aus der ganzen Gesellschaft strahlt Hildchens Gesichtchen hell und lieblich hervor.
»Nun, was sagst du zu unsrer Hilde?« ruft Baldinger seiner Schwester zu. Und Mile macht zwar nicht viel bewundernde Worte, aber ihr Herz spricht, darum verstehen alle, wie sie sich über das Kind freut.
Klärchen bildet sich ein, daß sie auch ferner noch Miles Beschützerin zu spielen berufen sei. Sie scheint sich deshalb verpflichtet zu halten, Mile besonders mit Warnungen, Ratschlägen und Verboten zu quälen: was Tante Mile auch thun mag, sie entgeht Klärchens strafenden Blicken nicht. »Die Person ist geradezu anmaßend,« bemerkt Mile schon am ersten Abend zu Mariechen, die das Herz der alten Frau im ersten Augenblick gewonnen hat.
Nach einem Aufenthalt von wenigen Tagen hat sich die Gesellschaft nach Luzern am Vierwaldstättersee begeben und im Schweizerhof die schon bestellten Zimmer bezogen.
Während des Diners – Klärchen sitzt Mile gegenüber – wirft ihr Klärchen andauernd mißbilligende Blicke zu, als wolle sie der übrigen internationalen Gesellschaft damit bekannt geben, daß sie wenigstens zu gebildet sei, um Miles altmodische Manieren zu billigen. Da aber weder ihre Blicke noch ihr Achselzucken von den Gästen bemerkt und höchstens von dem die Speisen herumtragenden Kellner beachtet werden, mußte man annehmen, daß ihr an dessen guter Meinung so viel gelegen sei.
Zum Glück fühlt sich außer Klärchen kein Mitglied des kleinen Kreises durch Tante Mile verletzt, vielmehr ist jeder in der liebenswürdigsten und herzlichsten Weise bemüht, ihr das zu bezeugen, denn es ist ihnen vollständig gleichgültig, ob Monsieur X, oder Lord Y, oder Signor Z denken: Da sitzt ja eine ganz bürgerliche deutsche Gesellschaft. Wollten sie denn etwas andres vorstellen? Nein; man kann sich auch als bürgerliche deutsche Gesellschaft lieb haben und sich daneben auch herrlich vergnügen, und außerdem vom Wirt und von den Kellnern mit größter Zuvorkommenheit bedient werden.
Hildchen ist – man muß es gestehen – sogar ausgelassen lustig. Von der Sentimentalität ihrer ersten Schweizerreise ist jede Spur verwischt. Sie hat eine Lustigkeit, die sich weit mehr in dankbarem Lachen über Onkel Edis Witze als in eignen Witzen kundgiebt. Und nicht nur Onkel Edi – jedes Wort, jede Miene ihrer Umgebung erregt ihre Heiterkeit; sie ist eben so voll Lustigkeit, daß diese beim geringsten Anlaß überschäumt.
»Das Mädel scheint mir den Roland ganz vergessen zu haben,« äußert Baldinger besorgt gegen Steinbach – jetzt Herr Konsul Steinbach.
»Vergessen?« erwidert dieser fast beleidigt. »Nein, Hilde hat ein treues Herz, lieber Freund. Aber, was wollen Sie? Das Kind ist glücklich und freut sich seines Lebens. Gott erhalte ihr diese Jugendlust noch recht lange!«
Ob aber Hildchen die Reise mehr genoß, als ihr Papa, bleibt fraglich. Der alte Herr mit seinem kurzgeschorenen grauen Haar, den blitzenden Augen und der gesunden Farbe stand der Tochter in Lebensfreudigkeit nicht nach.
Wenn Klärchen von Wermsdorf erzählt, muß man glauben, der Herr Direktor empfinde ein ganz besonderes Interesse für sie und lasse sich nur ihretwegen so oft im Pastorhause sehen; aber dieses »eitle« Hildchen ist so von ihrer Macht durchdrungen, daß sie sich trotzdem einbildet, Walter Roland interessiere sich allein für sie. Nur einmal, als Klärchen von einer Waldpartie berichtet, wobei ein Gewitter kam und Walter Klärchen seinen Ueberzieher abtrat, um sie vor dem Regen zu schützen – steigt doch in Hildchens Herzen ein bißchen Eifersucht auf.
»Onkel Edi,« fragt sie, sobald sie Gelegenheit findet, ihn allein zu sprechen, »glaubst du, daß alle Leute ein Vorurteil gegen Klärchen haben, wie du?«
»Nennst du meine üble Meinung ein Vorurteil?«
»Sie hat auch gute Eigenschaften, die du nicht würdigst.«
»Doch kenn' ich einige Personen, Hildchen, die ebenso wie ich über Klärchen denken.«
»Du meinst wahrscheinlich Papa?«
»Allerdings – er gehört nicht zu ihren Verehrern, doch ist er es nicht allein …«
»Nun, da wäre ich doch neugierig …«
Steinbach denkt: Warte, du schlaue Hexe! – Und es entsteht eine kleine Pause. – »Bist du sehr neugierig, Hildchen, die Person kennen zu lernen?«
»Ja.« – Wieder eine kleine Pause. »Wahrscheinlich sind es Loritzens, Onkel Edi?«
»Ich erinnere mich nicht, mit ihnen über deine Freundin gesprochen zu haben.«
»Hm, du meinst natürlich jemand in Wermsdorf.«
»Ja.« – Längere Pause. – »Nun? Willst du nicht weiter forschen?«
»Nein, danke, Onkel Edi,« antwortet Hildchen mit triumphierendem Lächeln, da sie erfahren hat, was sie zu erfahren wünschte. »Die Sache ist wirklich nicht so interessant, um noch länger darüber zu reden.«
Wahrhaftig, das Kind ist mir über! denkt Steinbach und kneift Hildchen ein wenig in ihr rosiges Ohrläppchen.
Mariechen war vom ersten Augenblick an Baldingers Liebling, sie stach selbst die schöne Fe bei ihm aus. Fe hinterließ überhaupt keinen nachhaltigen Eindruck; der Zauber wirkte nur, solange sie gegenwärtig war.
Mariechen, von allen geliebt, gepriesen und verwöhnt, blühte auf wie eine Blume, die lange im Schatten gestanden hat und nun auf einmal von wärmender Sonne bestrahlt wird. Ein so herrliches Leben hatte sie ja noch niemals kennen gelernt. Alle Munterkeit, durch eine entbehrungsvolle Jugend zurückgedrängt, erwachte wieder: Mariechen wurde gesprächig, unterhaltend, sogar hübsch. Sie wollte sich nicht um Mutter und Schwester sorgen; einmal, ach einmal wollte sie jung und glücklich sein und mit dankbarem Gemüt die selige Zeit genießen.