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Es ist um die Kaffeestunde, nachmittags zwischen drei und vier Uhr. Schneeflocken, denen der Sturm keine feste Stelle zu gönnen scheint, wirbeln draußen um die blanken Fensterscheiben. Drinnen knistern tüchtige Holzscheite lustig im Kamin und sorgen dafür, den gemütlichen Schein von Wärme zu verbreiten, während die Luftheizung dem hohen Zimmer erst die behagliche Temperatur verleiht.
Baldinger in einer dicken Lodenjacke, das blaue Sammetkäppchen schief auf den Ohren, läuft im Zimmer hin und her. Nach alter, schlechter Gewohnheit, die er auch in der eleganten Villa nicht abgelegt hat, pafft er tüchtig aus seiner Pfeife. Es war das seine liebste Stunde. Das »Nachdenken« hatte dann sein leicht erregbares Blut beschwichtigt, und die Pfeife erhielt die gute Laune.
Seit Hildchen wenige Tage zuvor angekommen ist, gewinnt diese Kaffeestunde noch an Reiz. Das liebe Mädchen hat sogleich einen Teil der häuslichen Pflichten übernommen und kocht den Kaffee selbst. Diese Thätigkeit beansprucht noch völlig ihre Aufmerksamkeit. Sie hört gespannt auf das vernehmliche Summen der Maschine.
In einer Fensternische sitzt Mile; sie hat seit der Rückkehr von der unfreiwillig ausgedehnten Reise die gewohnte Sicherheit noch nicht wiedergefunden. Kein Mensch hat ihr Vorwürfe gemacht; im Gegenteil erklärte selbst der Bruder die von ihr angerichtete Konfusion für eine solche, die jedem Reisenden begegnen könne. Aber Tante Mile fühlt sich schuldbewußt, weil sie zu früh triumphiert hat.
Wenn Baldinger sein Hildchen anblickt, geht immer ein Leuchten über sein Gesicht. Er hat noch eine wunderschöne Ueberraschung für sie in der Tasche – ein Billet zum Theater-Maskenball. Sobald nämlich Baldinger von diesem bevorstehenden Zauberfeste erfahren hatte, kam ihm der Gedanke, es als Vorwand zu benutzen, um sein Hildchen heimzuholen. Hildchen freilich sollte die Ursache nicht erfahren, aber vor Steinbach, vor Mile und vor dem eignen Gewissen wollte er sich damit rechtfertigen, wenn er die Pensionszeit kürzte. Im Grunde aber war es allein die unbändige Sehnsucht nach dem Kinde, die ihn veranlaßte, es zurückzurufen, und seit er seinen Liebling wieder in seiner Nähe weiß, seit ihn dieses rosige Gesichtchen jeden Morgen mit einem zärtlichen Kuß empfängt, und er wieder ihr unschuldiges, helles Lachen hört – seitdem kann er's erst recht nicht begreifen, wie er sich jemals von Hilde trennen konnte.
Baldinger ist jetzt zu Hildchen getreten und fragt: »Na, rate mal, was ich in meiner Tasche habe?«
Hildchen darf keinen Blick von der Maschine wenden, die jeden Augenblick überkochen kann. »Wahrscheinlich Bonbons, Papa?«
Baldinger schmunzelt; er weiß, daß sie die Ueberraschung nicht erraten kann, und das macht ihm ungeheuern Spaß. »Etwas Besseres, etwas Großartigeres, aber nichts für eine Naschkatze.«
»Ich weiß – ein Theaterbillet – Lohengrin!«
»Höher hinauf – steige noch einige Sprossen höher auf der Vergnügungsleiter.«
»O Papa! Wie soll ich das erraten?« Mit einem Blicke nach dem Vater, der ein Billet in der Hand hält, dann aber gleich wieder pflichtschuldigst auf die Maschine sehend – »Ach, ein Billet! Was nur für ein Billet? O du guter Papa! Und ich kann dich nicht einmal umarmen – das Wasser …«
Da braust es auch schon unter der Glasglocke auf und Hildchen löscht die Spiritusflamme. Gleich darauf findet die angekündigte Umarmung statt, und Hildchen erfährt, daß sie den Maskenball im Theater besuchen darf. Darüber ist großer Jubel.
»Der Kaffee ist fertig. Nun bitte ich die Herrschaften, Platz zu nehmen.« – Hildchen gießt den duftenden Trank in die Tassen. »Tantchen, ich habe eingegossen!«
»Hm?« Mile sieht mit zerstreutem Blick auf und liest weiter.
»Der Kaffee ist fertig, Tantchen!«
»Ich komme ja schon, Herzenskind!« – Mile steht auf, behält aber das Buch zerstreut in der Hand.
»Hast du's denn schon gehört, Tantchen? Papa hat Billets zum Maskenball genommen.«
»Ist mir nichts Neues, Herzenskind; war aber Geheimnis.« Sie nimmt am Kaffeetisch Platz. »Nun, was sagst du, August? Kann ich nicht den Mund halten?«
»Manchmal,« lautet die Antwort.
»Wirklich? Du hast es gewußt? – Ach, Tantchen, ich freue mich doch schrecklich auf den Ball.«
»Aber mich laßt zu Hause, Kinder! Für 'ne alte Person ist so 'n Firlefanz nicht.«
»Na, wozu habe ich dann das teure Billet gekauft?« brummt Baldinger.
»Ich danke dir für den guten Willen. Ich kann mir's ja noch überlegen, August. Gieb das Billet nur her; kommt Zeit kommt Rat.« – Mile ist übrigens entschlossen, um keinen Preis den Maskenball zu besuchen. Sie will nur den Bruder nicht kränken.
Fritz erscheint bald darauf und meldet Frau von Holborn.
Die Dame umarmt Hildchen mit einer Wärme, als hätten sie auf der Eisenbahnfahrt Freundschaft geschlossen. Sie muß sich doch selbst überzeugen, wie ihrer »teuern Hilde« die Reise bekommen ist, und da Hildchens munteres Aussehen die beste Antwort giebt, fordert Frau von Holborn das junge Mädchen zum Schlittschuhlaufen für den nächsten Nachmittag auf, natürlich bloß, wenn der Sturm nachgelassen haben sollte.
Das herrlichste Winterwetter! Sonnenschein und Frost. Eine weite, glitzernde Eisfläche, auf der sich viele Menschen fröhlich umhertummeln. Ringsum weiß bereifte Bäume, zwischen denen ab und zu eine elegante Villa durchblickt. Im Hintergrunde Hügel, mit dunkeln Tannen gekrönt. Die Wintersonne, der Frostreif und der glänzende Schnee, der über die Landschaft ausgebreitet liegt, verleihen dem Ganzen ein festliches Gepräge, und auf allen Gesichtern liegt das Behagen eines fröhlichen Genießens.
Frau von Holborn ist mit Bruder Artur schon auf der Bahn, und sie gleiten nebeneinander über das Eis; doch nicht so friedlich, als es den Anschein hat. Frau Ada will durchaus den Bruder verheiraten. Er sträubt sich energisch. Vergeblich preist sie ihm alle Vorzüge Hildchens.
»Strenge dich nicht an, Ada; ich nehme sie doch nicht.«
»Warum nicht, wenn ich fragen darf?« Sie spricht gereizt.
»Weil mir die Cousine besser gefällt.«
Endlich aber siegt Frau Ada. Sie hat Artur vorgestellt, daß er, mit Hildchen einmal verheiratet, nie mehr ein Examen zu machen und überhaupt nicht zu arbeiten brauche. Diese Aussicht wirkt verlockend.
»Aber ich verstehe mich nun einmal nicht aufs Courmachen,« klagt er in weiser Selbsterkenntnis. »Ich weiß nur sechs Fragen, wenn ich mich mit einer jungen Dame unterhalte: drei Winterfragen …«
»Drei Winterfragen?«
»Ja, mehr als drei fallen mir nun mal nicht ein. – Gehen Sie gern ins Theater? Tanzen Sie gern? Laufen Sie gern auf dem Eise?«
»Und wenn diese Fragen, wie vorauszusehen, mit ›Ja‹ beantwortet sind?«
»Na, dann rücke ich mit den drei Sommerfragen an; nämlich …«
»O, ich kann mir denken: Lieben Sie die Blumen? Machen Sie gern Kahnpartien? Wohin werden Sie in diesem Jahre reisen?«
»Du bist ja ungewöhnlich scharfsinnig, Ada!«
»Und du ungewöhnlich langweilig, Artur! – Herrgott, wie schwer ist es, einem Menschen zu seinem Glücke zu verhelfen, wenn er so 'n phlegmatisches Temperament hat, wie du!«
Hier wird die Unterhaltung unterbrochen. Frau Ada erblickt Hildchen, der Fritz soeben die Schlittschuhe anschnallt, und fährt auf sie zu, um sie zu begrüßen; dann segeln alle drei davon.
Aber obgleich Frau Ada alles versucht, die Unterhaltung zu beleben und den Bruder hineinzuziehen, er verhält sich völlig teilnahmlos – nicht die kleinste Höflichkeit ist aus ihm herauszupressen. Da ergreift sie ein letztes Mittel und reicht die Hand einem Bekannten, mit dem sie davonfährt. Ihr Blick aber spricht: »Schau dich um, hier giebt's genug liebenswürdige junge Herren; du bleibst nicht länger Hildchens einziger Verehrer.«
Ja, überlegt Artur, sie hat schon recht. Gar kein Examen – hm, darauf hin allein müßt' ich um Hildchen anhalten. Und sie ist auch viel hübscher geworden; eigentlich ein verdammt hübsches Mädchen. Na, und für's Arbeiten bin ich gerade auch nicht sehr eingenommen. – Nach dieser Betrachtung fragt er: »Gnädiges Fräulein fahren gern auf dem Eise?«
Der Mensch ist ja unerhört langweilig, denkt Hildchen. Da er aber vorzüglich Schlittschuh läuft, ist ihr seine Begleitung eben recht; sie verlangt gar nicht nach Unterhaltung, sondern nur nach der gesunden Bewegung, für sie giebt's gerade genug zu denken. Jeder Tag kann ein Wiedersehen mit Walter bringen. O, wie sich Hildchen auf diesen Augenblick freut. Es ist ihr immer, als stünde sie an der Schwelle eines großen Glückes. Doch mit der Erwartung mischt sich ein Bangen, das sie früher nicht gekannt hat.
Hildchen ist so recht von diesen Gedanken erfüllt, als sie auf einmal und ganz deutlich »Stockfisch« zu vernehmen glaubt. Sie guckt auf, ihr Begleiter hält im Laufen ein. Vor ihnen steht Frau Ada. Sie lächelt gezwungen; Artur sieht ungeheuer verlegen aus.
»Die Herrschaften scheinen nicht zu bemerken, daß es dunkel wird,« sagt die Dame und zwingt sich, immer liebenswürdiger zu lächeln. »Ich dächte, es würde Zeit, nach Hause zu gehen. – Nicht wahr, Hildchen, Sie begleiten uns und trinken bei uns eine Tasse Thee? Wir lassen es Papa durch den Diener melden.«
Die Aussicht ist verlockend. »Aber um sieben Uhr, wo Papa zu Abend speist, muß ich zurück sein,« versetzt Hildchen.
Diese Bedingung wird bereitwillig zugestanden und in Frau Adas reizend behaglichem Wohnzimmer ein Theestündchen angenehm verplaudert, das heißt mit Frau Ada; Artur sitzt stumm daneben.
›Gott, ist der Mensch langweilig!‹ denkt sie.
Artur soll sie nach Hause führen; es ist die letzte Gelegenheit, die ihm die Schwester an diesem Tage geben kann. Sie wirft ihm, während er Hildchen das Pelzjäckchen anziehen hilft, vielsagende Blicke zu, die Artur mit einem ermutigenden Lächeln erwidert.
Während er an Hildchens Seite saß, war er allmählich zu der Ueberzeugung gelangt, daß sie wirklich gar nicht so übel sei, und daß man sich am Ende ganz gut mit ihr vertragen könne. Die von der Schwester aufgerufene Examenfurcht bleibt aber die Hauptursache, daß er sich um Hildchens Hand zu bitten entschließt.
Sobald er neben ihr auf der Straße dahinschreitet, kommt ihm die Sache schwieriger vor, als er sie sich gedacht hat. Wie kann man vor lichtstrahlenden Schaufenstern und zwischen dem sich drängenden Publikum eine Liebeserklärung machen? sagt er sich. Sowie ich aber um die Ecke bin, will ich loslegen. – Er klärt sich auch schon mit Räuspern die Kehle.
An der nächsten Straße liegt das Theater, es ist eben die Stunde der Eröffnung, und Wagen auf Wagen rollt vorüber. Bei diesem Gerassel ist es freilich ganz unmöglich zu reden, überlegt Artur. Eine Liebeserklärung kann man nicht im Tone eines Ausrufers machen. Ich will doch lieber warten, bis wir die innere Stadt hinter uns haben.
Und nun befinden sie sich auf der breiten, mit Linden bepflanzten Vorstadtstraße. In vornehmer Ruhe und Abgeschlossenheit liegen die eleganten Villen hinter verschneiten Vorgärten. Obgleich hier die Gaslaternen ziemlich weit auseinanderstehen, ist es doch nicht dunkel; der Schnee verbreitet eine matte Helligkeit. Der junge Mann hat mit seiner lieblichen Begleiterin kaum zehn Worte gewechselt.
Wenn mir nur der Anfang nicht in der Kehle stecken bleibt, hoffe ich doch, daß ich's noch fertig bringe, denkt er und ist fest entschlossen, gleich nach dem dritten Baume zu beginnen, von dem an gerechnet, an dem er soeben vorübergeht; oder vielmehr – die Bäume stehen beängstigend nahe bei einander – gleich nach dem dritten Laternenpfahle.
»Hier ist unser Haus,« sagt Hildchen und bleibt stehen.
Ihm ist's, als komme ihre Stimme aus weiter, weiter Ferne. Er ist so verblüfft, daß er nicht einmal den Klingelknopf finden kann; er bringt auch gar keine ordentliche Empfehlung zustande, sondern stottert und dienert und verschwindet dann.
»Wenn nur diese unglückselige Villa nicht schon hinter dem zweiten Laternenpfahl gelegen hätte,« murmelt der arme Junge vor sich hin und läuft dann mit langen Schritten nach dem nicht weit entfernten Bahnhofe, wo er gerade anlangt, um in den Zug nach Kiesberg zu steigen. An diesem Abend noch einmal Frau Ada unter die Augen zu treten, scheint ihm unmöglich.
Hildchen aber hat keine Ahnung, daß sie um ihren ersten Heiratsantrag gekommen ist.