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Der Allerhöchste, zu dem Frohmann die Hände klagend emporgehoben, blickte zürnend auf die Frevler.
An dem Hause des rothen Mohr hing eine schwarze Tafel, auf der mit Kreide geschrieben stand: »Zur Warnung! In diesem Hause herrschen die schwarzen Blattern.«
Die schwarze Tafel hatte der Kreisarzt dorthin hängen lassen, und die bedeutsamen Worte eigenhändig darauf geschrieben.
Männer und Frauen lasen mit Entsetzen die Warnung und mieden das verfehmte Haus. Bereits in großer Entfernung traten sie auf die entgegengesetzte Seite der Straße. In weiten Bogen gelangten sie an der Wohnung der Mohre vorüber, die schreckliche schwarzweiße Tafel beständig im Auge und den Athem zurückhaltend, damit keine Pestluft eingesogen werde. Denn gräßlich mußten die schwarzen Blattern wohl sein, – wenn auch nicht der schwarze Tod selbst, doch wenigstens etwas der Art. Warum hätte sonst der Kreisarzt die Warnung geschrieben?
Auch das Herrchen ging vorüber, sah die schwarze Tafel und trat hinzu. Auch ihn ergriff die Warnung, der Selbsterhaltungstrieb zwickte ihn, weiter zu gehen, – aber die Pflicht trat gebietend dazwischen.
An die Fenster umliegender Häuser fuhren neugierige Gesichter, den Kleinen im Kampfe mit Pflicht und Selbsterhaltung beobachtend. Der Kampf war sogleich entschieden, die Pflicht trug einen glänzenden Sieg davon, und das Herrchen nahte der Hofthüre des gebannten Hauses. Da wurde ein Fenster aufgerissen, und eine ergraute schwarze Frau schickte ihre Stimme in gellenden Schreckenstönen über die Straße.
»Herr Hochwürdiger, – Herr Hochwürdiger!«
Frohmann schaute um, die Alte winkte heftig.
»Kommen Sie doch ein bischen herüber!«
Er folgte der Einladung.
»Um Gotteswillen, Herr Hochwürdiger, gehen Sie ja nicht in das Haus, – die Pest ist darin. Alles muß sterben, was in dem Haus' ist. Da sieht man recht Gottes Strafgericht! Vor ein paar Tagen haben die Mohre Sie noch beschimpft, und jetzt müssen Alle sterben, – sterben ohne Gnad' und Barmherzigkeit. Und wer hineingeht, muß auch sterben, weil er die Pest erbt. Gehen Sie darum ja nicht hinein, – an Denen ist doch nichts zu bessern.«
»Wohnt Mohr in dem Hause?« frug der Geistliche.
»Freilich, der rothe Mohr, der jeden Tag flucht, wie ein Türk', der nicht an Gott und das Allerheiligst' glaubt, der gesagt hat, es wär' ihm ein Hauptspaß, wenn er alle Pfaffen aufhängen dürft'.«
»Wenn Mohr an der Seele noch kränker ist, als am Leibe,« sprach der Geistliche, »so bedarf er vor Allem des Seelenarztes.«
Er grüßte freundlich und schritt auf das geächtete Haus los.
Die schwarze Frau sah Frohmann unter dem Eingange verschwinden, und sie schlug entsetzt die Hände zusammen.
»Heilige Mutter Gottes, er geht wahrhaftig hinein, – er ist verloren! Das arme – arme Herrchen!«
Gleicher Ansicht waren alle Nachbarn, welche das vermessene Unternehmen beobachteten. – Auch die gesunden Mohre gewahrten den drohenden Ueberfall des kleinen Schwarzen.
»Amrich,« befahl der Ortsschulrath, »schließe die Hausthüre, – er kommt, – er kommt wirklich! Fort, geschwind, – den Riegel vorgeschoben!«
»Nein, das thu' ich nicht wegen der Leut'! Das gab' ein schönes Geschrei!«
Sie trat aus der Stube dem Geistlichen entgegen.
»Gelobt sei Jesus Christus!« grüßte Frohmann. »Ist Jemand krank im Hause?«
»Ja, – der Knecht droben,« lautete kurz die Antwort, und eine Handbewegung wies nach der Stiege.
Der Kleine folgte dem Winke, erstieg vorsichtig die steile Treppe und stand in einem halbdunklen Flur, links und rechts Thüren. Er lauschte. Gestöhn und Aechzen wiesen den Weg zum Lager des Verlassenen. Und als Frohmann die Hand ausstreckte nach der Klinke, da überfielen den Muthvollen unwillkürlich Schaudern und Bangigkeit. Er aber drückte das Schütteln der widerstrebenden Natur tapfer nieder und wiederholte halb laut die täglich gesprochenen Worte der Complet: » Super aspidem et basiliscum ambulabis, et conculcabis leonem et draconem!«
Gestählt und gefeit durch den Machtspruch göttlicher Verheißung, überschritt er unerschrocken die Schwelle. Uebelriechende Stickluft empfing ihn. Aus dem dicken Federbette ragte ein mächtig angeschwollenes, dunkel glühendes, mit schwarzen Pocken besätes Gesicht. Ueber die aufgesprungenen Lippen floß schwer und röchelnd der Athem, unterbrochen durch Stöhnen und Jammertöne. Nach einem flüchtigen Blicke auf den Kranken, trat Frohmann zum Fenster und öffnete. Jetzt stand er tröstend vor dem Bette.
»Ach, – Wasser, – seit zwei Tag' keinen Tropfen, – Niemand kommt herauf! Sie lassen mich elend umkommen.«
Der Barmherzige eilte hinab und kehrte mit dem Verlangten zurück. Der Arme trank mühsam, aber gierig.
»Ihr seid wohl recht krank, lieber Freund!«
»Es wird immer weniger,« bestätigte der Kranke. »Heut' Nacht wird's,« – ein heftiges Geröchel schnitt die folgenden Worte entzwei.
Frohmann las in der angeschwollenen Masse die sicheren Anzeichen des nahen Todes, und den guten Hirten trieb es, zur schleunigen Hilfe des scheidenden Geistes.
»Wollt Ihr nicht den lieben Herrgott aufnehmen in Eure Seele?« frug er liebevoll.
»Ja, – recht gern!«
»Gut! Bereitet Euch vor zur reuigen Beichte, so wie Ihr es vermögt. Ich werde Euch behilflich sein. In einer Viertelstunde bin ich da mit dem Allerheiligsten.«
Das Herrchen lief nach dem Schulhause, den alten Lehrer und Meßner zu rufen, damit er das brennende Licht vorantrage, nebst Schelle und Rituale. Jester war abwesend. Der Kleine stieg eine Treppe höher und trat eilig vor Stephan, den Volksschullehrer.
»Der Knecht des alten Mohr liegt am Sterben, – Herr Jester ist zufällig abwesend, – wollen nicht Sie die Güte haben, Herr Stephan, und mir bei der Versehung behilflich sein?«
Weit auf riß Stephan beide Augen, und sein Kopf sank nach dem Nacken.
»Herr Cooperator,« versetzte beleidigt der Dünkelhafte, »ich bin Volksschullehrer und nicht Meßner.«
»Nur für diesen Nothfall erbitte ich Ihren Beistand. Schlagen Sie mein Ersuchen nicht ab. Der arme Mensch liegt bereits in den letzten Zügen.«
»Nehmen Sie einen Meßdiener!« versetzte übermüthig Stephan.
»Die Meßknaben wissen die Responsorien nicht, – und wo sollte ich in aller Eile einen Meßknaben finden? Herr Stephan, ich bitte dringend, versagen Sie diesen Dienst der Barmherzigkeit nicht!«
»Die verlangte Handlung verletzt Stellung und Amtsbewußtsein der Volksschullehrer,« antwortete unbewegt der Aufgeklärte. »Dank der gesunden Entwickelung zeitgemäßer Errungenschaften, sind wir Volkslehrer für immer drückenden Kirchendiensten enthoben.«
Dem Cooperator, der vom Lager eines hilfesuchenden Sterbenden kam, klangen die Phrasen überaus schaal und abgeschmackt.
»Herr Lehrer,« sprach er sehr ernst, »möchten Sie niemals die Härte zu bereuen haben, deren Sie sich schuldig machen gegen einen Sterbenden.«
Frohmann eilte nach der Kirche, schlüpfte in den Talar, warf Chorrock und Kragen über die Schultern, küßte das Kreuz der Stola und legte das geküßte Kreuz über seinen Nacken. Sodann zündete er die Kerze der Krankenlaterne an, und nahm das silberne Gefäß mit dem heiligen Oel aus sicherem Verschluß. Jetzt aber stand er gebunden. Suspension vom Amte liegt auf dem würdelosen Hinaustragen des Allerheiligsten, und ein dienender Geist wollte nicht erscheinen. Immer den sterbenden Menschen vor Augen, von Besorgniß gepeitscht, eilte der Kleine vor die Kirche, irgend eine helfende Hand zum Beistande anzurufen. Die Straße war leer. Einige Kinder spielten im Staube, mit beschmierten Gesichtern und Händen. Das Herrchen trippelte hin und her, spähte auf und ab, – vergebens! Ausgestorben blieb die Gasse, und schon suchte er dem zarten Gewissen begreiflich zu machen, daß Nothfälle an Rubriken nicht gebunden seien. Da kam Fritz Schröter die Gasse herauf. Mit Verwunderung sah er den Kleinen in Chorrock und Stola vor der Kirche. Dem Geistlichen aber erschien der Landwirth, wie ein Engel des Lichtes. Nach flüchtigen Grüßen erklärte er dem Verwunderten die Lage.
»Wissen Sie Niemand in der Nähe, Herr Schröter, der Meßnerdienste nothdürftig versehen könnte?«
»Wenn Sie mich zum Meßner annehmen wollen, stehe ich zu Diensten,« versetzte lächelnd der Gutsherr.
»Sie wollten es unternehmen?«
»Warum nicht? Dem Allerhöchsten ein Licht vorzutragen, ist unbestreitbar eine hohe Ehre. Das Confiteor weiß ich noch aus alter Zeit, und die Responsorien lese ich aus dem Buche.«
»Gott lohne es Ihnen!« sprach achtungsvoll der Kleine.
Zwei Minuten später schritt der reichste Mann der Umgegend vor dem Priester einher, entblößten Hauptes, unter dem Arme das Rituale, in der Linken die brennende Laterne, in der Rechten die Schelle. In kurzen Pausen klingelte er. Die Bewohner eilten an die Fenster, bekreuzten sich und gewahrten mit Erstaunen den angesehenen, hochragenden Meßner. In den Gassen knieten begegnende Gläubigen, den Herrn im Sakramente anbetend und dann mit weit offenen Augen dem Gutsherrn folgend, bis er unter dem Eingange des Krankenhauses verschwand.
Dort hatte es mittlerweile heftige Scenen gegeben. Der alte Mohr wollte dem erwarteten Geistlichen die Thüre verschließen. Amrich widerstrebte.
»Und das leid' ich nit!« rief sie. »Zeitlebens würden die Leut' mit Fingern auf uns deuten.«
»Was für Leute?« rief Mohr entgegen. »Abergläubische Narren, Betbrüder, Rosenkranzknüppler, Pfaffenknechte, – an Allen liegt gar nichts! Dagegen wird jeder denkende Mensch mir beistimmen; denn ich hatte den Muth, dem Hokuspokus, an den ich einmal nicht glaube, an den kein Aufgeklärter glaubt, mein Haus zu verschließen.«
»Das könnt Ihr thun für Euch, wenn Ihr mal an's Sterben kommt, nicht aber für den Knecht, – der will versehen sein,« sagte Amrich.
»Wenn ich an's Sterben komme?« wiederholte Mohr gedehnt.
»Ja, – wenn Ihr an's Sterben kommt! Und der Jacob will auch versehen sein.«
»Alle Knochen im Leibe schlage ich Dir entzwei, verfluchte Hexe!« schrie Mohr wild. »Sagst Du dem Pfaffen ein Wort, daß mein Sohn krank ist, auch die Blattern hat, – dann bist Du alt genug.«
Im Hofe erklang die Schelle. Mohr fluchte, und als der Geistliche die Treppe erstiegen, verließ er mit einer Verwünschung das Haus.
Es gab eine halbstündige tiefe Stille im ganzen Hause. Dann hörte man Schröters tiefe Stimme das Confiteor sprechen, auf die Versikel respondiren und die Litanei zur heiligen Oelung beten. Endlich hatte der Seelsorger seines heiligen Amtes gewartet, schürzte den schleifenden Talar und stieg vorsichtig die jähe Treppe nieder. Im Flur blieb er stehen. Seine Blicke suchten die Tochter des Hauses, ihrer Barmherzigkeit den verlassenen Kranken zu empfehlen. Da drang sein Forscherauge durch zwei offen stehende Thüren in eine Kammer, wo sich Haarsträubendes darbot. Dort bewegten sich zwei lebende Gebeine, mit vertrockneter gelber Haut überzogen, und kläglich mit den Fetzen eines Hemdes bedeckt. Die Gebeine hatten Form und Gestalt von menschlichen Armen und Händen. Ihre Bewegungen gegen das Herrchen drückten Elend und Hilferufe aus. Ferner sah Frohmann einen Knäuel langer grauer Haare, die verworren um ein Menschenhaupt hingen, zwei tiefliegende Augen, die flehend auf ihm ruhten, und einen zahnlosen Mund, der Jammertöne ausstieß.
»Was ist das?« frug der Kleine erschreckt.
»Wir wollen einmal sehen,« sprach der Meßner, durchschritt ein großes Vorzimmer und gelangte in eine enge Kammer. Da lag auf Stroh, mit Schmutz bedeckt, im tiefsten Elende, die vier und achtzigjährige Mutter des alten Mohr. Seit fünf Jahren beständig im Bette, war sie dem Gedächtnisse der Lebenden beinahe entschwunden. Beine und Füße hatten Gicht gekrümmt, sie waren zusammengewachsen und gelähmt, der obere Körper hingegen ziemlich gesund. Die Kranke konnte tüchtig essen, sie hatte andere Bedürfnisse, – allein die Hartherzigkeit des Sohnes und der Enkel ließen sie, der endlosen Krankheit überdrüssig, jämmerlich verkommen.
Das Herrchen stand mit weit offenen Augen vor dem Jammerbilde. Er sah den Schmutz an allen Dingen, das Knochengerippe der Greisin, gräßliche Leiden in den Zügen des abschreckenden Gesichtes, und es packten ihn Mitleiden und Entrüstung.
»Ach Gott, – Herr Schröter, so lieg' ich seit fünf Jahren!« klagte die Alte. »Ich bin ihnen zu viel. Oft seh' ich den ganzen Tag Niemand. Hör' fluchen und lästerliche Reden. Muß hungern und dursten. Mein Sohn, – o mein Sohn!« stieß sie krampfhaft hervor, die grauen Augen leuchteten unheimlich und die Knochenhand hob sich gegen Himmel. »Der dort oben weiß Alles!«
Schwere Tritte polterten im Hausflur. Mohr sah die Männer vor dem Lager seiner Mutter und rasch trat er ein.
»Wie kommen Sie da herein?« frug er trotzig.
»Um Vergebung!« antwortete mit Haltung das Herrchen. »Ihre Mutter ist krank, und das Krankenbett gehört zum Berufe des Geistlichen.«
»Zum Berufe, – jawohl!« entgegnete Mohr. »Allein Sie hätten warten sollen, bis man Sie ruft. Wer unberufen in fremde Wohnungen dringt, der hat zu erwarten, daß man ihn hinausweist.«
»Diese Worte machen Ihnen keine Ehre vor einer Lagerstätte, wie ich sie elender niemals gesehen,« sagte vorwurfsvoll der Cooperator. »Hier liegt Ihre Mutter, – ein Bild des Jammers und gräßlicher Verlassenheit. Lebt irgend ein Funke kindlicher Liebe in Ihnen, er muß auflodern gegen Ihre herzlose Verfahrungsweise. Die ganze Welt rufe ich zum Zeugen vor dieses Bett und frage, ob das christlich, ob das menschlich gehandelt ist an der Mutter!«
»Sie werden doch keine Predigt halten wollen?« frug hämisch der entmenschte Sohn. »Die Predigt wäre ganz überflüssig. Die Sache geht Sie nichts an, und ich weiß, was ich zu thun hab'.«
Schröters Augen blitzten.
»Hört mich an, Mohr!« begann er mit tiefer Stimme. »Nach Gott und seinen Geboten fragt Ihr nichts, das ist bekannt, und davon haben wir abermals hier einen Beweis; denn die schauderhafte Lage einer Mutter wäre ganz unmöglich, würde der Sohn das vierte Gebot halten. – Aber nun merkt Euch, was ich sage! Es gibt auch Staatsgesetze, und diese bestimmen unter gewissen Umständen die Pflichten der Kinder gegen ihre Eltern. Nach jenen Staatsgesetzen ist es Euch nicht erlaubt, Eure Mutter in Schmutz und Elend verkommen zu lassen. Deßhalb seid Ihr vor den Gerichten höchst strafwürdig, und die Gerichte werde ich auf meine Kosten gegen Euch anrufen. Es wird also das Gericht in Euer Haus kommen zur Untersuchung, – und das morgen schon. Habt Ihr mich verstanden?«
Der trotzige Mohr wurde plötzlich schmiegsam.
»Das wäre mir unangenehm, – schon wegen des Geschrei's der Leute,« sagte er.
»Und merkt Euch weiter: das Gericht wird Eure Mutter in eine Anstalt bringen, wo dieselbe menschlich gepflegt und behandelt wird; Ihr aber habt natürlich die Kosten an die Anstalt zu bezahlen.«
»Das ist überflüssig, Herr Schröter, – ganz und gar überflüssig! Es soll meiner Mutter nichts mehr abgehen. Wissen Sie, Herr Schröter, wenn's zu lang' dauert, wird man's leidig! Kein böser Wille ist dabei – wahrhaftig nicht! – Amrich, da komm' herein! Sogleich überziehst Du das Bett mit frischen Leintüchern, und das lass' Dir gesagt sein, Amrich, besorge die Großmutter besser, als bisher. Es ist ja eine Schande, wie die Frau da liegt!«
»Herr Schröter,« sagte Frohmann, »ich bitte Sie, die gerichtliche Anzeige zu unterlassen!«
»Wenn Sie übernehmen wollen, Hochwürden, die Kranke öfter zu besuchen und sich von deren Verpflegung zu überzeugen.«
»Ich übernehme es!«
»Und der Herr Cooperator soll zufrieden sein,« versicherte Mohr.
Gegen Abend läutete die Glocke Verscheidung. Den Knecht hatten die schwarzen Blattern dahingerafft. Mit der verhallenden Glockenstimme trat Amrich vor das Herrchen.
»Ich muß zu Ihnen kommen! Der Knecht ist vor einer Stunde gestorben, und mein Bruder Jacob hat auch die Blattern. Er jammert ganz entsetzlich, und weil der Knecht gestorben ist, meint er, es gehe ihm ebenso. Als Sie heut' bei uns waren, hätt' ich's Ihnen gern gesagt von dem Jacob. Aber mein Vater hat schrecklich dagegen getobt und gesagt, er wolle mich todt schlagen, wenn ich's Ihnen verrathe. Jetzt ist mein Vater im Wirthshaus, wo er lange hocken bleibt. Wenn Sie wollen, könnten Sie meinen Bruder derweil versehen.«
»Verlangt er die heiligen Sakramente?«
»Ja! Aber er genirt sich vor Ihnen, weil er Sie letzthin geschimpft hat.«
»Das ist Alles vergeben!« versicherte aufrichtig das Herrchen. »Eilen Sie hinüber zum alten Herrn Lehrer, er möge sogleich in die Sakristei kommen zur Versetzung.«
Amrich verschwand.
Im Ochsen saßen die Rothen beisammen, höhnend über den neuen Meßner.
»Da habt ihr's ja, daß er ein ganzer Pfaffenknecht isch,« erklärte Knapper. »Hätt' ich's nur gesehen, wie er mit der Latern' und der Schell' durch's Dorf gangen isch, – hundert Gulden gäb' ich d'rum.«
»Nu, – ich hab's gesehen, Herr Bürgermeister, und verkauf's Ihnen für zehn Gulden,« sprach Levi, der Jude. »Schön war's, – wahrhaftig g'spassig! Voraus der großmächtige Schröter, und hintennach das kleine, dünne Männchen! Voraus der Riese Goliath, und hintend'rein der Knabe David.«
»Welche Zumuthung der Cooperator an mich stellte!« rief beleidigt Stephan. »Denken Sie, meine Herren, ich sollte in Jesters Abwesenheit Meßnerdienste versehen! Mit Entrüstung habe ich das Ansinnen abgewiesen und dem kleinen Schwarzen bedeutet, die Stunde der Befreiung aus entwürdigendem Kirchendienste habe für die Volkslehrer geschlagen. Ich habe ihm gesagt, er möge sich irgend einen Buben suchen, – und siehe da, er hat einen gefunden.«
Die Tafelrunde belachte den faden Schulmeisterwitz.
»Frech sind die Pfaffen über alle Maßen,« zürnte Mohr. »In die Kammer, wo meine Mutter liegt, ist der schwarze Knirps eingedrungen, und es hat ihn doch Niemand geheißen. Auch der schwarze Hauptmann ist anmaßend, er kümmert sich um Sachen, die ihn nichts angehen. Crämer von Doos, der bayerische Abgeordnete, hat ganz recht, wenn er sagt, man soll allen Ultramontanen die Schädel einschlagen. Crämer ist ein Mann, mit dem halt' ich's! Hätten alle unabhängig denkenden Männer die entschiedene Gesinnung, wie der bayerische Crämer, kein Ultramontaner hätte einen ganzen Schädel mehr.«
Auch die Schwarzen saßen beisammen an jenem Abend. Wie die Rothen den »Ochsen« sich erkoren, so wählten die schwarzen Streithaufen »Die Blume« und »Das Lamm«. Gegen Stephan hagelte es furchtbar, Blitze zischten und Donner krachten.
»Da seht ihr's, Bürger, wohin's kommt mit dem neuen Schulgesetz!« rief der Schmiedhannes, eine herkulische Gestalt mit energischen Zügen. »So vornehm werden die Schulmeister, daß sie sich schämen, das Hochwürdigste zu begleiten. Denkt euch, ihr liegt am Sterben und verlangt das Abendmahl, könnt's aber nicht kriegen, weil der Schulmeister nicht mitgehen will! Ist das nicht zu arg? Mit meinem größten Vorschlag-Hammer möcht' ich die ganze neue Schulwirthschaft kurz und klein schlagen.«
»Wartet noch eine Weil',« sagte Mühsam, »und wir müssen neben dem Schulmeister noch einen Meßner bezahlen, vielleicht auch einen Orgelspieler.«
»Der Stephan hat gesagt,« erzählte ein Anderer, »die Kinder dürften nicht mehr mit der Leich', weil das den Unterricht störe.«
»Warum nicht gar?« riefen Mehrere. »Sich selbst kann der Schulmeister begraben lassen, wie er will, – wir bleiben beim Alten.«
Und wie die Bauern gegen Stephan mit den Peitschen knallten, so gossen sie unerschöpflichen Ruhm über Schröter.
»Ich sag' euch, Bürger,« rief ein Begeisterter, »was Schröter gethan hat, das ist gar nicht zu beschreiben! Denkt euch, der reichste Mann weit und breit, der mit vier zweispännigen Pflügen auf den Acker fährt, – der von Niemand abhängt, – der gescheidter ist, als zehn Krischer in der Kammer, – dem man nicht das Geringst' nachsagen kann, kurz, unser Schröter nimmt die Latern' und die Schell' und geht dem Herrchen voran!«
»Und nicht zu vergessen,« rief ein Anderer, »wissen mußt' er, daß ihn die Rothen deßhalb ausspotten, daß sie's am End' gar in's Blatt setzen lassen, um ihn zu verhöhnen vor der ganzen Welt. Dennoch that er's, – sein Glaube und seine Religion gelten ihm mehr, als die ganze Welt.«
»Hollah,« rief der Schmiedhannes, »die Gläser eingeschenkt bis oben! – Der Schröter Fritz soll leben, dreimal hoch!«
Die Schwarzen hatten gewaltige Stimmen. Die Hochrufe wurden gehört im ganzen Dorfe, den Rothen zum Aergerniß. Und da jetzt der Häuptling persönlich unter die Versammelten trat, wollte der Jubel kein Ende nehmen. Für den Landwirth war die hochgehende Stimmung erfreulich; denn sie bewies ihm, daß die Bürger offen bekannte Glaubensüberzeugung schätzten, weil ihnen selbst der Glaube heilig war. Er hatte sich mitten unter die schwarzen Männer gesetzt, mit Befriedigung vernünftige Urtheile über Stephan und den Schulstreit vernehmend. Da neigte der Schmiedhannes den Mund an Schröters Ohr, und sprach die vertraulichen Worte:
»Ich muß Ihnen etwas sagen! Mein Nachbar, der Webersepp, hat bis dato zu den Rothen gehalten. Schon lang' möcht' er gern herüber zu uns, und jetzt, auf die Stückchen hin, welche der Jud' Mayer Hirsch und der Schulmeister gespielt haben, ist er ganz wild. »Guck, Hannes,« hat er vorhin zu mir gesagt, »von Herzen gern wollt ich zu euch, aber dem Blendung bin ich zweihundert Gulden schuldig. Werd' ich schwarz, so kündigt der Blendung mir auf, und ich kann jetzt nicht zahlen.« – Aber ein Paar Ochsen hat er in der Mast, die werden fett in vier bis sechs Wochen, – und wenn Jemand meinem Nachbar bis dahin die zweihundert Gulden leihen wollt', käm' er gleich zu uns.«
»Das soll kein Hinderniß bilden,« versetzte der Gutsherr. »Weber ist fleißig und rechtschaffen. Morgen soll er zu mir kommen und dem Blendung die zweihundert Gulden hinauftragen.«
Darüber gerieth der Schmiedhannes in große Freude. Er nahm die Rechte des Landwirthes in seine harte Eisenhand und drückte sie in kräftiger Empfindung des Dankes.
Schröter klopfte an das Glas. Die Unterhaltung verstummte.
»Bürger,« sprach er, »unsere Adresse ist fort an den Großherzog, mit noch zehn Adressen aus zehn anderen katholischen Gemeinden. Ueberhaupt wird es immer lebendiger im Lande. Von allen Ecken und Enden laufen in Carlsruhe Adressen zusammen gegen die Schulreform. Unser katholisches Volk mag das Geschenk der Freimaurer nicht, das zeigt sich jeden Tag mehr. Die Freimaurer-Blätter, welche berichtet haben, die Bewegung gehe aus von einer Handvoll Ultramontanen, stehen da als ertappte Lügner. Unser hochwürdigster Erzbischof steht an der Spitze und hinter ihm das ganze katholische Baden.«
»Bravo, – so ist's recht!« hallte es durch die Stube.
»Nun paßt auf, was der Großherzog thut!« rief Mühsam. »Immer heißt's: Der Großherzog hat ein gutes Herz, – das Volkswohl geht ihm über Alles. Nun, – die Adressen offenbaren ihm den Volkswillen, und wenn er ein so gerechter Herr ist, wird er die Schulreform in den Ofen stecken.«
»Ich glaub' immer, unsere Adressen ziehen nicht!« bemerkte ein Anderer. »Die Freimaurer haben das Heft in der Hand, die Religion ist ihnen ein Gräuel, darum haben sie die Schulreform erfunden. Das Herrchen hat recht: wir sind schon zu alt, uns können sie die Religion nimmer austreiben, darum haben sie die Schulen freimaurisch gemacht, damit die Leut' von Kind'sbeinen an ohne Religion erzogen werden.«
»Der Großherzog wird gescheidt sein!« sagte der Schmiedhannes. »Schafft er uns nicht Ordnung im Dorf', dann schaffen wir selber Ordnung. Das sag' ich euch, Bürger,« rief er mit geballter Faust, »meine Kinder werden nicht freimaurisch!«
Gleiche Entschlossenheit beseelte Alle.
Da erschien ein Schwarzer und brachte ernste Kunde.
»Mohr ist eben im Ochsen gerufen worden, weil sein ältester Sohn auch gestorben ist.«
Die Männer saßen einige Augenblicke schweigend.
»Vielleicht ist das eine wirksame Predigt für den alten Mohr,« sagte Mühsam. »Die Predigten in der Kirch' hört er nicht und spottet darüber, – da muß ihm halt unser Herrgott eine Predigt halten.«
»Die er ebenso wenig achtet,« ergänzte Schröter.
Viele nickten Beifall.
»Neulich hat Mohr gesagt, es gäbe gar keinen Gott,« erzählte Christoph. »Liegt einmal Einer so tief unten, dann hält das Aufstehen schwer.«
In aller Frühe des nächsten Morgens wurden, nach ärztlicher Anordnung, beide Leichen beerdigt. Nur die Mohre folgten den Särgen, die auf einem Wagen gefahren wurden, da sich Träger nicht fanden. Der alte Mohr sah in das offene Grab seines Sohnes mit stieren Blicken. Vor seinen Augen wurde der Sarg hinabgesenkt, und er blieb kalt, in die harten Züge trat nicht die leiseste Bewegung.
Das Herrchen betete innig für den Verstorbenen, noch heißer für die lebenden Mohre. Am Altare rief er zum Allerhöchsten für die Verirrten und dankte für die strafende Vatergüte. Nach seiner Ansicht mußten die Gemüther der Mohre erschüttert, die Gesetzlosen unter den Willen des Herrn zurückgeführt werden. Wie staunte aber das Herrchen, als er nach wenigen Tagen die unveränderten Mohre fand! Beim Besuche der Großmutter wurden ihm Mißachtung und Vorwürfe. Er hörte, wie der alte Mohr in der Stube ausrief: »Pfäffische Spionage!« Und Wilhelm ging an ihm vorüber ohne Gruß, mit frechen Blicken. Diese Härte und Gefühllosigkeit legten sich schwer auf das weiche Gemüth des Herrchens, und er schauerte über die Verstocktheit der Menschen.
»Mein lieber Herr Confrater,« sprach der alte Pfarrer, »Sie kennen diese Race noch nicht! Ihr Starrsinn vergeht nicht, selbst unter Gottes Zuchtruthe. Was der Heiland gesagt hat in der Parabel vom reichen Prasser, bleibt ewig wahr: wenn Todte auferstehen, glauben sie nicht!«