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Kindheit

I

François Marie Arouet wurde am 21. November 1694 im Pariser Kirchsprengel Saint-André-des-Arcs als fünftes und letztes Kind eines tüchtigen und rechtschaffenen Mannes, François Arouet, geboren. Der Vater hatte von 1675-1692, von seinem 26. bis zu seinem 43. Jahr, das Amt eines Notars im Châtelet, dem Pariser Justizgebäude, bekleidet und bald darauf die angesehene und einträgliche Stellung als Empfänger von Gerichtssporteln, Geldstrafen und Abgaben an der oberen Rechnungskammer (receveur des épices, vacations et amendes de la chambre des comptes à Paris) erlangt.

François Arouet, der im Lauf der Zeit seinem genialen und schwer zu behandelnden Sohn ein harter und starrsinniger Vater wurde, war an und für sich ein vernünftiger, streng rechtschaffener und gebildeter Pariser Bürger, gesellschaftlich veranlagt, mit Sinn für schöne Literatur und verfeinertes geselliges Leben.

Seine Familie – Gerber, Tuchhändler und Landleute – läßt sich bis auf das Jahr 1523 zurückführen, zu einem Gerbermeister in Poitou namens Helenus Arouet. Im Verlauf der Jahrhunderte erhoben sich die Arouets vom Handwerkerstand zu dem höheren Bürgerstand, gelangten als begüterte und angesehene Leute zu der damals besonders gewürdigten Ehre, ihre Grabstätten in den Gemeindekirchen selbst zugewiesen zu erhalten, verschwägerten sich mit Advokaten und Gewerbetreibenden, wurden selbst Eigentümer großer Tuchgeschäfte und fügten ihren Namen denen von Landgütern bei. Sie wurden zu den Notabilitäten ihrer Gegend gezählt und wurden Herren von Pas-de-Cygne, von La-Motte-aux-Fées.

Voltaires Großvater nennt sich François Arouet, sieur de la Motte-aux-Fées, marchand drapier à Paris.

Voltaires Vater stand als Jurist in beständiger Verbindung mit Frankreichs größten Namen; er war der Notar des Herzogs von Béthune-Sully, des Herzogs von Praslin und des Herzogs von Saint-Simon, und es heißt, daß diese großen Herren ihn weniger als juridischen Ratgeber denn als Freund behandelten.

An den wenigen Stellen, wo der Memoirenverfasser Saint-Simon aus seinen hochadligen Vorurteilen heraus Voltaires Namen mit dem gebührenden Hohn nennt, vergißt er nicht, das Verhältnis von dessen Vater zu seinem eigenen Vater zu erwähnen: »Er war der Sohn des Notars meines Vaters, den ich oftmals Papiere zur Unterschrift bringen sah. Er hat nie aus diesem freidenkerischen Sohn etwas machen können, dessen Freidenkerei zuletzt unter dem seinen eigenen maskierenden Namen Volterre sein Glück gemacht hat.«

Zwei Zeitgenossen des Vaters, die Herzöge von Saint-Simon und von Richelieu standen Gevatter bei Voltaires älterem Bruder Armand.

Im Juni 1683 hatte François Arouet ein lebensfrisches und liebenswürdiges junges Mädchen geheiratet, das wie er aus Poitou stammte, aber adliger Herkunft war. Marie Cathérine Daumart de Mauléon war mit den besten Familien der Provinz verwandt. Von reizendem Äußeren, besaß sie, der Behauptung ihres berühmten Sohnes zufolge, all den Geist, der im ganzen in ihrer Familie zu finden war, und übte zweifellos eine bedeutende Anziehung aus. Ihr Vater und ihr Bruder waren Beamte, der Vater das, was man heutzutage Protokollführer (greffier criminel) am Parlament nennen würde. Der Bruder, Kontrolleur bei der königlichen Gendarmerie (contrôleur général des guerres de la maison de S. M.), hatte sie frühzeitig bei Hof eingeführt, wo sie einen Eindruck jener leichtfertigen und glänzenden Menschengattung erhielt, die die Vorgemächer des Versailler Schlosses füllte. Sie brachte ihrem Manne kein Vermögen mit; aber aller Wahrscheinlichkeit nach war sie es, der er seine einflußreichen Bekanntschaften verdankte, nicht bloß die ebengenannten, sondern auch die Beziehungen zu so mächtigen Familien, wie die Caumartin, Nicolai und Chateauneuf, auch war sie es, die das Haus zu einem Sammelplatz der Schöngeister jener Zeit machte.

Die Familie Daumart hatte ihr adliges Wappen: einen Silberturm auf Azurfeld (tour d'argent sur champ d'azur). Als im Jahre 1696 auch Marie Daumarts Gatten ein Wappen zugeteilt wurde (allerdings hauptsächlich deswegen, weil die Steuerverwaltung von solchen Auszeichnungen Abgaben erhob), durfte er dem Silberturm drei rote Flammen in goldenem Felde hinzufügen. In l'Armorial von 1696 trägt er nun den Namen François Arouet, conseiller du roy, receveur des épices à la chambre des Comptes porte d'or à trois flammes de gueules.

Madame Arouet war eine jugendliche, ungezierte, lebensfrohe Natur. Eine gute Bekannte Ninon de Lenclos', schlug sie gern den freien munteren Ton an, der unter Ninons Freundinnen und Freunden herrschte. Ihr Mann war überdies Ninons Notar. Ganz frei von aristokratischen Vorurteilen ist sie kaum gewesen, und wahrscheinlich war sie es, die Arouet bewog, ein adliges Wappen zu führen. Dennoch war er soweit davon entfernt, sich damit zu brüsten, daß er scherzend sagte, das Wappen gebühre ihm mit Recht, da er es bezahlt habe. Sie führte als junge Frau ein heiteres geselliges Leben, war sehr beliebt und da sie unter den begabten und talentvollen, aber weltlichen Männern, die ihr Haus besuchten, Freunde besaß, scheint sie dem Klatsch, der allerdings um das Jahr 1700 mehr leichtsinnig als boshaft gewesen ist, nicht ganz entgangen zu sein. Ihr Gatte hat sich jedoch niemals über sie beklagt.

Sie brachte fünf Kinder zur Welt, verlor aber frühzeitig zwei der Knaben.

Der älteste Sohn Armand unterschied sich aber von dem jüngeren. Eine schwere, verschlossene, zurückhaltende und ein wenig unbeholfene Natur, besaß er jene Art von Begabung, die sich zur Theologie hingezogen fühlt, und studierte auf dem Seminarium der Oratorianer nicht ohne Erfolg. Er war im Gegensatz zu dem jüngeren Bruder ein Familienmensch, aufmerksam gegen alle Verwandte, pietätvoll dem Vater gegenüber, der mit diesem Sohne höchst zufrieden war und nach damaligem Brauch schon frühzeitig die Bestimmung traf, ihm nach seinem Tode seine Stellung als Sporteln- und Geldbußen-Inkassant zu überlassen. Die beiden Brüder kamen als kleine Knaben gut miteinander aus, und auch dem mehr als um zehn Jahre Älteren mangelte es, trotz seines langsameren Temperaments, nicht an Einfällen, wenn die Freunde des Hauses sich daran belustigten, die beiden Brüder gegeneinander aufzustacheln und sie, einen auf Kosten des anderen, ihre Possen treiben zu lassen. Bald jedoch trat eine Entfremdung ein, vermutlich schon wegen der glänzenderen Erziehung des Jüngeren und seiner bereits in den Knabenjahren gegründeten vornehmeren Freundschaftsbeziehungen. Schnell wurde die abgekühlte Anhänglichkeit zu gegenseitiger Abneigung und fast zu Abscheu. Der Jüngere spielte im Elternhause die Rolle des verlorenen Sohnes, der sich verstoßen und verschmäht sah, der Ältere wurde der gute Sohn, der daheim saß, Vaters Liebling. Und auch späterhin trat nie eine solche Wendung ein, daß man für den Jüngeren das fette Kalb schlachtete.

Armand erschien dem Jüngeren, der ihn beständig mit lebhafter Antipathie den Jansenisten nennt, mit Recht als der Typus eines dummfrommen Fanatikers. War er doch glühender Anhänger eines Diakonus Pâris geworden, eines der hervorragendsten Vertreter des Jansenismus, eines Mannes, dessen vermeintliche Mirakel Aufsehen erregt und polizeiliche Verfolgung nach sich gezogen hatten. Armand selbst wurde für kurze Zeit verhaftet, was aber seine Überzeugung nur stärkte. Zur Zeit seiner Jugendtorheiten wendet Voltaire sich nie an den Bruder, um durch ihn den aufgebrachten Vater zu besänftigen; er zieht jeden der Hausfreunde vor. Eine einzige kurzwährende Milderung in diesem gespannten brüderlichen Verhältnis tritt ein, als beide ältere Männer sind und ein apoplektischer Anfall, der Armand im Dezember 1739 traf, auf Voltaire einen so tiefen Eindruck machte, daß er mit der Post nach Paris reisen wollte, falls der Bruder ihn zu sehen wünschte. Als aber dieser sich erholte, ging die sanfte Stimmung von selbst vorüber.

Als kleiner Knabe hatte François den Kosenamen Zozo, und wir haben noch einen Kinderbrief aus dem Jahre 1704, von Armand geschrieben, aber von beiden zusammen unterzeichnet: Zozo, Arouet.

Die acht Jahre vor Voltaire geborene Schwester, Marguerite-Cathérine, die mit Pierre François Mignot, Beamten an der Rechnungskammer zu Paris, verheiratet war, starb im September 1726. Sie war eine einfache und würdige Frau, die in ihre Mutterpflichten aufging, zuerst vernachlässigt, nach ihrem Tode aber schmerzlich betrauert von ihrem Bruder, dem umherirrenden Poeten, der für ihre hinterbliebenen Töchter und ihren Sohn tat, was in seinen Kräften stand. Er hatte nicht geringe Mühe, die Älteste an sich zu ziehen; sie kam 1738 nach Cirey, wo er sie mit einem Kapitän Denis, einem rechtschaffenen und tüchtigen Manne, Ritter des Saint-Louis-Ordens, verheiratete; sie folgte ihm nach Flandern. Im Jahre 1744 verwitwet, wurde sie bekanntlich bald danach die Hausgenossin und Wirtschafterin ihres Oheims. Ihr Bruder, Abbé Mignot, ein gutherziger und dabei praktischer Herr, sammelte Sinekuren, erhielt Einkünfte aus der Abtei in Scellières und den Titel eines Ratsherrn am Pariser Parlament, ist aber vor allem dadurch bekannt, daß er nach Voltaires Ableben dessen Leichnam fortschaffte und ihn hierdurch vor Unglimpf bewahrte.

Unter den Gästen des Hauses Arouet war auch ein Herr de Lesseville, dessen Stammvater durch einen besonderen Vorfall sein Glück gemacht hatte und geadelt worden war. Er hatte König Heinrich dem Vierten eines Tages, da dieser in großer Verlegenheit gewesen war, eine Summe von 20 000 Talern geliehen, ohne einen Schuldbeweis entgegennehmen zu wollen. Seine Nachkommen hatten sich bereichert, waren Parlamentsmitglieder geworden, besaßen Adelsschilder und livrierte Bediente, hielten große Jagden ab und gaben viel Geld aus. Madame Arouet hörte geduldig die Jagdgeschichten des Herrn de Lesseville an, fand es schmeichelhaft, den Besuch eines so mächtigen Ratsherrn zu empfangen, und hoffte, daß die Bekanntschaft mit ihm ihrem jüngeren Sohn den Weg zu Glanz und Ehre bahnen würde. Sie gab François als Studienkameraden einen Neffen des Herrn de Lesseville, der seinerseits bestimmt war, eine Magistratsperson zu werden, und hoffte, daß gemeinsame Studien einen gemeinsamen Beruf entwickeln würden. Sie starb jedoch zu früh, um irgendeinen ihrer Pläne verwirklicht zu sehen, und als ihr Mann diese aufnahm, stießen die väterlichen Forderungen mit den Empörungsinstinkten des Sohnes auf das peinlichste zusammen.

Die schöne und lebensfrohe Mutter wurde, vierzig Jahre alt (im Juli 1701) hinweggerafft, als ihr später so berühmter Sohn erst in sein siebentes Jahr ging. Er erlitt dadurch einen ungeheuren Verlust. Man merkt es an seinem Geistesgepräge, an dem Grundton seines Wesens, daß ihm der Einfluß und die Zärtlichkeit einer Mutter fehlten, wiewohl er nirgends von dieser Entbehrung spricht.

II

Das Haus im Sprengel Saint-André-des-Arcs, in welchem Voltaire geboren wurde, ist unbekannt und verschwunden. Verschwunden ist auch das Haus, in welchem der Vater kurz nach des Kindes Geburt seine Amtswohnung erhielt, eine geräumige Wohnung in einem mächtigen Gebäude, das dort lag, wo die Rue de Jérusalem und die Rue de Nazareth einander schneiden. Das größte Zimmer darin war in Bogenwölbungen geteilt und besaß eine schöne Decke.

Dieses Haus, in welchem Arouets Jüngster seine Kinderjahre verbrachte, lag gerade gegenüber dem Hause, wo Nicolas Boileau Despréaux wohnte. Der Notar hatte im Verein mit einem Kollegen 1683 Boileaus Testament aufgesetzt, und es blieb nicht bei der Geschäftsverbindung. Der Dichter war ein häufiger Gast bei der Familie Arouet, und in den Ferien machte Arouet mit seiner Frau und seinem Söhnchen nicht selten Besuch in dem Hause in Auteuil, von dessen Garten und Gärtner Voltaire gesprochen hat in seiner Dichtung Epître à Boileau. Es scheint jedoch nicht, als hätte der berühmte Despréaux die junge Frau zu amüsieren verstanden, denn sie sagte von ihm: Gutes Buch, aber fader Mensch (Bon livre, mais sot homme). Boileau war ja allerdings auch 35 Jahre älter als sie.

Arouet hatte persönlich einen noch berühmteren französischen Dichter gekannt, den großen Corneille selbst, mit dem er gemeinsam getrunken hatte. Nach dem, was sein Sohn erzählt, hat jedoch Pierre Corneille ihn nicht besser zu unterhalten verstanden als Boileau seine Frau. Voltaire schreibt: »Er sagte mir, der große Mann sei der langweiligste Sterbliche, den er je gesehen, und der, dessen Gespräch am tiefsten stehe« (Brief vom September 1761).

Unter den hellen Köpfen, die intime Freunde des Hauses waren und die dem kleinen Knaben viel Wohlwollen erwiesen, muß in erster Linie der Abbé von Châteauneuf genannt werden. Er und sein Bruder, der Marquis, waren Savoyarden, die ihr Glück in Paris gemacht hatten. Der Marquis war französischer Gesandter in Konstantinopel und im Haag gewesen und galt als ein unterrichteter und vernünftiger Mann. Der Abbé, am meisten bekannt als Pate Voltaires, bezog jährliche Einkünfte von einem geistlichen Grundbesitz und galt besonders als lustiger Lebemann aus dem Kreise, der sich in Le Temple um den Großprior von Vendôme sammelte, jenen Abkömmling Heinrichs des Vierten und Gabrielles d'Estrées, der nach Saint-Simons Schilderung alle Laster seines Bruders, des Herzogs von Vendôme, besaß. Er war auf jede natürliche und unnatürliche Art ausschweifend, dem Trunk ergeben und »unredlich bis ins Mark, das übrigens von Geschlechtskrankheit angegriffen war«. Aber er war in seiner Jugend ein schöner Mann gewesen und blieb für sein späteres Leben ein ungemein geistreicher Gesellschafter. Von seinem treuesten Freunde, dem Abbé von Châteauneuf, weiß derselbe Saint-Simon nur Gutes zu sagen: er nennt ihn »einen Mann von guter Gesellschaft, in den besten Kreisen begehrt«. Mit dem beliebten Anakreontiker Chaulieu und der alten Ninon de Lenclos verkehrend, mag er wohl durch die letztere die Bekanntschaft der Familie Arouet gemacht haben. Ebenso gern im Hause gesehen wie er war der adlige Lyriker Rochebrune, dessen (geistiger) Bastard Voltaire sich scherzend in einem Gedicht an den Marschall von Richelieu nennt.

Zu dem intimen Kreis der alternden Ninon sowie zu den allernächsten Freunden des Hauses Arouet gehörte ferner der Abbé Nicolas Gédoyn. Er hat (auf Grundlage apokrypher Mitteilung) mit Châteauneuf die Ehre geteilt, als Ninons letzter Liebhaber zu gelten. Nachdem er zehn Jahre dem Jesuiteninstitut angehört hatte, trat er aus und beteiligte sich nun ungehindert an dem gesellschaftlichen Leben, lebte von einem Kanonikat an der Sainte-Chapelle, das der Hof ihm gewährte, und hatte, wie Voltaire sagt, »kein anderes Heim als unseres.« Er war ein feiner und gelehrter Mann, ein guter Erzähler, unterhaltend, bloß häufig in Disputen allzu hitzig; war einer der Eifrigsten gewesen, die Boileau unterstützten in seinem Kampf um die Anerkennung der Überlegenheit der antiken Schriftsteller über die modernen, denen Perrault die Palme zu geben wagte. Er hätte gern Virgil und Horaz kanonisiert und unterstrich ihre Vorzüge mit einem unbeherrschten Zorn, der Madame Arouet höchlichst amüsierte und den Rochebrune mit Vergnügen schürte, um der Frau des Hauses ein drolliges Schauspiel zu bieten.

Voltaire hat sicherlich als Kind manches von ihm gelernt; aber Zozos wahrer Lehrmeister war doch der Abbé von Châteauneuf. Der am frühesten an dem Knaben zutage tretende Zug war wachsame Lebhaftigkeit, die stärkste Empfänglichkeit für Eindrücke und Bewegungen geistiger Art, welche Funken des Witzes und der Schelmerei aus ihm schlugen. Châteauneuf, der so pietätlos war wie der ganze Kreis, dem er angehörte, machte sich ein Vergnügen daraus, das vierjährige Kind Verse aus Lourdets unfrommer Moïsiade auswendiglernen zu lassen. So wurden Spöttereien über die Bibel dem Kleinen in zartem Alter eingeimpft, und seine Mutter scheint dies nur lustig und keck gefunden zu haben.

Frühzeitig entzückt von der Anmut und der geistigen Lebhaftigkeit seines kleinen Patenkindes, hat Châteauneuf ihn zu sich herangezogen, indem er dem Kinde die Bewunderung, die es dem älteren Mann einflößte, zu erkennen gab.

Er führte den kleinen Zozo bei Ninon de Lenclos ein. Voltaire behauptet, daß er dazumal dreizehn Jahre alt war, aber dies ist eine Unmöglichkeit, denn in diesem Jahre ruhte Ninon schon zwei Jahre in ihrem Grab. Aber er mag sie im Alter von zehn bis elf Jahren besucht haben, und sicher ist, daß die Verse, die der kleine Junge schon damals schrieb, ihr Interesse für ihn erregten. Er hat sich im Verseschreiben versucht, noch ehe er Prosa schrieb. Der Vers war seine natürliche Sprache.

Es kann kein Zweifel darüber herrschen, daß diese schönen Verse, die ihm Zutritt zu Ninon verschafften, nichts anderes waren als eine – in einigen Ausgaben um ein paar Jahre zu spät datierte – Empfehlung für einen Invaliden, mit der es sich folgendermaßen verhielt: Der arme Invalide hatte sich eines Tages in der Schule, in die der kleine François ging, vorgestellt, um einen der Lehrer, Vater Porée anzurufen, für ihn eine Bittschrift an den Sohn des Königs (le Grand Dauphin) zu schreiben, in dessen Regiment er gedient hatte. Da Vater Porée augenblicklich beschäftigt war, hieß er den Invaliden, sich an den kleinen François Arouet zu wenden, der ihm denn auch nach Ablauf einer halben Stunden folgendes entzückende Gesuch in Versen überreichte:

Noble sang du plus grand des rois,
Son amour et son espérance,
Vous qui sans régner sur la France
Regnez sur les cœurs des François;

Pourrez-vous souffrir que ma veine,
Par un effort ambitieux,
Ose vous offrir une étrenne,
Vous qui n'en recevez que de la main des Dieuz?

La nature en vous faisant naître
Vous étrenna de ses plus doux attraits
Et fit voir dans vos premiers traits
Que le fils de Louis était digne de l'être.

Tous les Dieuz à l'envie vous firent leurs présents:
Mars vous donna la force et le courage,
Minerve, dès vos jeunes ans,
Ajouta la sagesse au feu bouillant de l'âge,

L'immortel Apollon vous donna la beauté,
Mais un Dieu plus pouissant que j'implore en mes peines
Voulut me donner mes étrennes
En vous donnant la libéralité.

Niemand wird leugnen, daß dies als Produkt eines zehnjährigen Knaben außerordentlich ist.

Man möchte wünschen, daß Voltaire anläßlich des Berichts über den Besuch bei Ninon ein freundliches Wort über sie gehabt und sich nicht ausschließlich auf die Schilderung ihrer Gestalt als Mumie beschränkt hätte. Die Anekdote, die er über Châteauneuf und sie erzählt, die aber von dem Verfasser des Buches »Vie de Mademoiselle de Lenclos« Gédoyn, nicht Châteauneuf zugeschrieben wird, scheint erdichtet zu sein, um zu zeigen, wie lange sie ihre Anziehung für ihre Verehrer bewahrte. Châteauneuf bewarb sich um ihre Gunst; sie ließ ihn einige Zeit schmachten und setzte dann einen bestimmten Tag fest. Auf die Frage, warum sie eben diesen Tag wählte, antwortete sie, sie wolle damit ihren siebzigsten Geburtstag feiern. In Wirklichkeit hatte Ninon in diesem Alter längst aller Galanterie entsagt; ihr Haus war ein Ort, wo die Jugend, um den guten Ton zu lernen, verkehrte. So gestrenge Richter, wie Saint-Simon und Madame de Sévigné sprechen von ihr mit der größten Achtung. Die Anekdote auf Gédoyn zu übertragen, ist noch widersinniger, da dieser ihr erst 1694 vorgestellt wurde, als sie schon 74 Jahre alt war. Mit ihm hätte sie dann ihr achtzigstes Wiegenfest feiern müssen.

Tatsache ist, daß die 84jährige Ninon an dem aufgeweckten Knaben, den Châteaunef ihr brachte, viel Wohlgefallen fand, so daß sie ihm zu dem Zweck, sich Bücher zu kaufen, 2000 Franken vermachte. Es liegt etwas Reizvolles und drollig Überraschendes in dieser Konstellation der vierundachtzigjährigen Ninon und des zehnjährigen Voltaire. Die vom Thron gestiegene Königin der Schönheit und der freien Erotik, Molières Freundin, huldigte dem jungen Thronerben des Geistes. Und es muß denn auch hinzugefügt werden, daß Voltaire verschiedenenorts mit Wärme der Wohltäterin seiner Kindheit gedenkt.

Im Gegensatz zu dem mutwilligen Ton, in welchem er in Défense de mon Oncle von ihr spricht, steht vor allem das niedliche Schauspiel Le Dépositaire, auf dem Lande 1767 aufgeführt, das ganz zu ihrer Verherrlichung geschrieben ist. Es stützt sich auf eine Anekdote, die der Abbé von Châteauneuf in seinem Dialog über die Musik der Alten mitteilt. Molière habe erzählt, daß niemand solch einen Blick für das Lächerliche hatte wie Ninon de Lenclos und daß sie ihm den Tag, nachdem er ihr seinen Tartuffe (wohl die ersten drei Akte) vorgelesen (wie er ihr alles vorlas, was er schrieb), etwas mitgeteilt hatte, was ihr selbst mit einem derartigen Herrn geschehen war, den sie so lebhaft schilderte, daß sein eigener Tartuffe ihm durchaus nicht lebendiger erschien: Ihr Freund Gourville hatte einen Teil seines Eigentums seiner galanten und philosophischen Freundin, einen anderen einem Manne anvertraut, der als höchst gottesfürchtig galt. Dieser letztere behielt das Depot für sich, während sie, die niemand für besonders gewissenhaft hielt, es unberührt zurückerstattete. In dem Stücke ist Ninon 35-40 Jahre alt und als eine Dame von bestem Ton dargestellt, die den Charakter der Kirchenältesten durchschaut.

Feiner und eindringender ist sie in dem Dialog Madame de Maintenon et Mademoiselle de l'Enclos behandelt. Eine ganze wehmütige Lebensphilosophie liegt darin: Madame de Maintenon, Ninons intime Jugendfreundin, die sich seit ihrer Standeserhebung von ihr ferngehalten hat, sucht sie auf, todmüde und überdrüssig ihres Lebens, das sie in Pracht und Herrlichkeit an der Seite eines Königs, der nicht mehr amusable ist, verbringt, und bittet Ninon, ihre freie Lebensweise aufzugeben, um ihre Stellung bei Hof zu teilen und ihr Gesellschaft zu leisten, die Gesellschaft, die sie entbehrt. Es ist ein sanfter horazischer Epikuräismus in Ninons Weigerung, in welcher sie einer bescheidenen, aber zwanglosen Existenz den Vorzug gibt.

Endlich ist der aus dem Jahre 1771 stammende Brief Sur Mlle de Lenclos ein wahres Repertorium der noch recht frischen Überlieferungen über Ninon, der Anekdoten, die über sie in Umlauf waren, der Verse, die von einem verschmähten Anbeter gegen sie oder von einem nicht verschmähten, wie dem berühmten holländischen Astronomen Huyghens zu ihrer Ehre geschrieben worden waren. Huyghens schrieb das für einen Astronomen recht leichtsinnige Epigramm, das beginnt:
Elle a cinq instruments, dont je suis amoureux.
Les deux premiers ses mains, les deux autres ses yeux ...

Noch ein ständiger Gast, der nicht vergessen werden darf, verkehrte in jenem Eckhause der Rue Jérusalem: es war der Finanzintendant Louis Urbain Lefèvre de Caumartin, Marquis de Saint-Ange, aus einer seit Ludwig des Dreizehnten Zeit berühmten Familie. Er fühlte sich in dem Kreise von Poeten und Musikern, die sich um Madame Arouet sammelten, heimisch und mag, als der große Herr, der er war, das Vertrauen des jüngeren Sohnes in ungewöhnlichem Maße gewonnen haben, da er es war, der sich auf Bitten des jungen Mannes bei den ersten Streitigkeiten zwischen Vater und Sohn (nach Voltaires Jugendleidenschaft in Holland 1714) ins Mittel legte, sowie er auch dem jungen Dichter den ersten Ansporn gab, die Henriade zu schreiben. Auch war es Caumartin, der ihn mit dem größten Teil des in dem Werke Das Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten verwendeten Materials versorgte. Saint-Simon nennt ihn einen besonders guten und sanften, gesellig veranlagten Menschen, der trotz seines hofmännischen Tons und seiner hochtrabenden Haltung ein Vergnügen darin fand, sich dienstbereit zu erweisen. Er kannte alle Anekdoten über den alten Hof und erzählte sie auf entzückende Art mit einem Erinnerungsvermögen, das nichts von dem vergaß, was er gesehen oder gelesen hatte. Voltaire hat ihm 1716 in seinem Gedicht an den Prinzen von Vendôme gehuldigt:

Caumartin porte en son cerveau
De son temps l'histoire vivante;
Caumartin est toujours nouveau
A mon oreille qu'il enchante;
Car dans sa tête sont écrits
Et tous les faits et tous les dits
Des grands hommes, des beaux esprits;
Mille charmantes bagatelles,
Des chansons vieilles et nouvelles,
Et les annales immortelles
Des ridicules de Paris.

Auch sein Bruder, der Abbé von Caumartin, später Bischof von Blois und Mitglied der französischen Akademie, war einer der Sterne im Hause des Notars. Er galt mit Recht als einer der vornehmsten und geistreichsten Männer Frankreichs. Keiner verstand es wie er, eine treffende Antwort zu geben, ein richtiges Urteil zu fällen, eine Artigkeit zu sagen, in der ein Stachel verborgen war, in Sicherheit zu wiegen, um entschleiern zu können, und ein sprechendes, vielsagendes Schweigen zu beobachten. In seinem neckenden Witz war etwas, was bisweilen gleichsam auf den Voltaires vorbereitet, nur war dieser Witz minder scharf, minder kraftvoll, wenn auch nicht weniger fein.

III

Obwohl das Vorstellungsvermögen des kleinen Knaben keineswegs – wie ein Jahrhundert später das Victor Hugos – auf die äußeren Umgebungen, die architektonischen und landschaftlichen, eingestellt war, so mußte doch unvermeidlich einer der ersten tiefen Eindrücke, die der Kleine empfing, das damalige Paris sein, insoweit Gepräge und Leben der Stadt innerhalb seiner Sehweite fielen.

Das Paris jener Zeit war noch das Ludwigs des Vierzehnten, der erst starb, als Voltaire 21 Jahre alt war. Der Regent, Philippe von Orléans, beherrscht den Zeitraum von seinem 21. bis 29. Lebensjahr.

Ludwigs des Vierzehnten Baukunst – das ist der Triumph der klassischen Würde und Hoheit, die Welt der regelrechten und imponierenden Schlösser und Gärten, Brücken, Kirchen und Triumphbögen. Sie bezeichnet den Bruch mit jeder nationalen Überlieferung, aller Gothik, die als Mittelalter verachtet wird; sie befriedigt den guten Geschmack, der sich in der Beobachtung der wahren Regeln zeigt, die aus »der Antike« herausgeholt werden können, der griechisch-römischen, welche (wie noch von Voltaire) als Einheit aufgefaßt wird, obwohl sie zwei ganz ungleichartige Länder mit tiefen inneren Verschiedenheiten und reichlich acht Jahrhunderten umspannt. Daher die majestätische Eintönigkeit, die Verwischung alles Heimischen und Heimatlichen, der Kampf gegen die örtliche Natur, die Rücksichtslosigkeit ihr gegenüber.

Katharina II. war eine so große Verehrerin Ludwigs des Vierzehnten, daß sie nicht das geringste herabsetzende Wort über ihn vertrug. Um ein solches zu verteidigen, sagte der Fürst von Ligny eines Tages zu ihr: »Euere Majestät mögen mindestens einräumen, daß dieser große König, wenn er spazieren gehen wollte, stets eine ganz schnurgerade, 120 Fuß breite Allee an Seite eines ebenso breiten Kanals brauchte. Er wußte nicht, wie Sie, was ein Steg, ein Bach und eine Wiese heißen will.«

Nimmt man ein Werk wie Perelles Sammlung von Kupferstichen aus dem alten Paris vor und scheidet man aus, was der Baukunst und dem Geistesleben des Mittelalters entspricht, also Spitzen und Türme hat wie die wunderbare Sainte Chapelle und die mächtige Notre Dame mit den bunten Farben und der reichen, launenhaften, phantastischen Figurenwelt, so erhält man Gesichtsbilder dessen, worauf die Augen der damaligen Zeit mit Stolz ruhten: die Verwandlung der Natur zur Kunst auf allen Gebieten, in jedem Blumenbeet, das zu Arabesken in sinnreich verschnörkelten Mustern umgeformt, in jedem regellos rinnenden Bach, der zur geordneten Pracht des Springbrunnens kanalisiert ist. Die Höhle wurde Grotte, die Burg ein Schloß mit langen wagrechten Linien und flachem Dache, das Kastell wurde Palast. Während an dem unter Franz dem Ersten aufgeführten Hauptteil von Chantilly das Festungsartige noch die Schönheit ausmachte, ist mit Anmut vereinte Majestät das Erstrebte in Fontainebleau und noch mehr in Versailles, das, in einer trostlosen Gegend angelegt, mit Vergewaltigung der Natur, im Trotz gegen die Natur zu dem verwandelt wurde, was in der Vorstellung jener Zeit Alcinas verzauberter Insel entsprach.

Das Paris der Renaissance offenbarte sich z. B. auf der Place Royale, die 1604 auf Befehl Heinrichs des Vierten begonnen wurde; dort stand noch die später durch eine andere ersetzte Bronzestatue Ludwigs des Dreizehnten, dessen Pferd von Daniele de Volterra war, während die Gestalt des Königs von Biar (1639) ausgeführt wurde.

Das alte volkstümliche Paris, mit dessen Sprache sich Voltaire überall, wo er nicht den akademischen Stil anschlägt, vertraut zeigt, hatte seinen Kern auf der Seine-Insel, wo die symmetrischen und harmonischen Bauten der Place Dauphine aus Richelieus Zeiten emporragten zwischen einem Gewimmel von Fußgängern, Sänftenträgern und den mit feurigen Rossen bespannten schweren, aber schönen Karossen, die oben am breitesten waren – förmliche kleine Häuser mit Fenstern und Dächern.

Die Mittellinien und Sammelplätze der Stadt waren damals die Seinebrücken, sowie ein Jahrhundert später die Galerien des Palais Royal und wieder ein halbes Jahrhundert danach die inneren Boulevards.

Die Statue Heinrichs des Vierten auf dem Pont Neuf war wie ein Mittelpunkt des damaligen Paris und hat vermutlich auf den kleinen Zozo einen tiefen Eindruck gemacht. Heinrich der Vierte wurde frühzeitig sein Held und erst durch ihn der Nationalheld Frankreichs, denn damals war sein Andenken vor dem Glanz des Sonnenkönigs in den Schatten getreten.

Pont Neuf selbst sah ganz anders aus als jetzt die Brücken: Pont Neuf, Pont St. Michel, Pont au Change, Pont Notre Dame, Pont Marie, Pont Saint Landry lagen nicht weit voneinander, und mehrere unter ihnen waren ganz bebaut so wie heutigentags die Ponte Vecchio in Florenz.

Auf der Place des Victoires stand nicht die jetzige Reiterstatue Ludwigs des Vierzehnten, sondern eine Statue desselben Ludwig zu Fuß, von der Göttin des Sieges bekränzt. Besiegte und gekettete Krieger rahmten das Fußstück ein.

Auf den Boulevards waren schon damals die schweren Triumphbogen Ludwigs zu sehen, die noch heute dort stehen, mit ihren kalten Trophäen und Allegorien, Porte Saint Denis und Porte Saint Martin (1673 und 1674).

Der Stadt Paris entsprach Versailles, wie der Hof dem Volke entsprach und über dem Volke stand. Einen Augenblick hatte Madame Arouet hier Halt gewonnen, wie später ihr Sohn daselbst Halt gewinnen und vergebens kämpfen sollte, um ihn zu bewahren.

Versailles war der Stolz Frankreichs, wie es der des Königs war. Es war der Mittelpunkt des Reiches, ja geistig gesehen war es das Zentrum Europas. Es war die kleine Welt, die den feinsten Kräfteauszug der großen da draußen bildete, zugleich ehrfurchteinflößend und huldvoll. Unnahbar und dennoch zugänglich lag das Schloß da, Gegenstand der Bewunderung, Heim der Gnade, mit Vorhöfen und Höfen, mit ungeheuren, durch und durch zivilisierten Parkstrecken hinter sich, mit Alleen und Galerien statt der Gartengänge, mit Thetis' Grotte, in der die Göttin den Sonnengott, das heißt, Apollon, empfing, der sich an Thetis' Seite zur Ruhe legt, wie Charles Perrault es vorschlug: »gleich dem Könige, der kommt, um in Versailles zu ruhen, nachdem er allen Menschen wohlgetan hat«. Da waren Seen und Kaskaden; da war der Springbrunnen der Pyramide, reich an Tritonen und Delphinen, da war Latonas Bassin, schöne geharkte Gänge, schöngepflegte Rasen, schöngekämmte Beete, schöngestutzte Bäume, schöngestriegelte Pferde, schöngepuderte Edeldamen, schönperückierte Edelmänner, das Ganze ein Heiligtum mit seinem Allerheiligsten, der Stätte, wo der Souverän lebte, atmete, Frankreich und die Umwelt beglückte. Hier war der Saal, wo er speiste, ganz allein bei Tische sitzend, speiste – wie Elisabeth Charlotte mitteilt –: vier Teller verschiedener Suppen, einen ganzen Fasan, ein Rebhuhn, eine große Schüssel Salat, Hammelfleisch mit Knoblauch und Sauce, einen Teller Backwerk, hierauf Früchte und Marmelade. Hier war endlich das Aller-Allerheiligste, das Schlafgemach, wo er schlief, jeder Zoll ein König.

IV

Sehr lehrreich ist es, eines der Pariser Reisebücher aus jenem Zeitalter zu durchblättern und zu sehen, was damals am sehenswürdigsten und merkwürdigsten erschien. Da ist z. B. eines aus dem Jahre 1727, also aus dem ersten Jahre Ludwigs des Fünfzehnten. Es umfaßt 600 bis 700 Seiten in zwei dicken Bänden, ist von einem gewissen J. C. Nemeitz, Geheimrat bei dem Fürsten von Waldeck, verfaßt und führt den Titel: Séjour à Paris, c'ést à dire Instructions fidèles pour les Voyageurs de condition, comment ils se doivent conduire, s'ils veulent faire un bon usage de leur temps et argent durant leur séjour à Paris.

Man traf in Paris entweder mit der gewöhnlichen Diligence oder mit Postpferden ein. Der Postillon wies den Reisenden in ein Gasthaus, wo er wohnen konnte, und gab man ihm ein Trinkgeld, so stimmte er die Wirtsleute für den Ankommenden günstig. Die nach Paris gekommen waren, um die Sprache zu erlernen, nahmen am besten Aufenthalt im Faubourg St. Germain, dem Sammelplatz aller Fremden, wo die meisten Sprachlehrer wohnten und die Reithäuser sich befanden. Es gab Theater in dieser Vorstadt, und die Oper war nicht weit.

Es wird gewarnt vor dem Glauben, daß man überall in Paris gut speise. Konnte man es sich nicht leisten, selbst einen Koch zu halten, so nahm man seine Mahlzeiten am besten an den gemeinsamen Tafeln der Gastwirte. Von geistiger Nahrung war es Französisch, Mathematik und Zeichnen, was der Fremde sich in Paris anzueignen am meisten bestrebt sein sollte. Der Hauptzweck bei der Erlernung der Sprache war der, einen Brief in richtigem Französisch schreiben zu können. Muster in bezug auf Stil waren Voiture, Balzac, Bussi-Rabutin und Fontenelle.

Der kluge Reisende tat gut daran, im Umgang mit den Gräfinnen und Marquisen, die er in Hotels traf, eine gewisse Zurückhaltung zu bewahren; sonst verschwand allzu rasch die Summe, mit der er die Kosten seines Aufenthalts zu bestreiten wünschte. An Zeitvertreib war kein Mangel. Die Tuileriengärten waren eine schöne Promenade, der Park von Luxembourg desgleichen, doch galt dieser als gesünder, weil der Seine dort, wo der Fluß die Tuilerien entlang lief, üble Dünste entstiegen. Das Schloß Luxembourg, das damals auch Palais d'Orléans genannt wurde, lag überschaubarer und freier als jetzt.

Der verständige Fremde nahm mit Maß an Bällen und Maskeraden teil, zeigte sich auch gemäßigt in seiner Spiellust. Man spielte nämlich allerorten, und das Spiel schaffte Gelegenheit zur Bekanntschaft mit sehr vornehmen Damen und Herren. Es gab auch unschuldigere Zerstreuungen. Der Reisende sollte die öffentlichen Feierlichkeiten, die kirchlichen Aufzüge ja nicht versäumen. Um die Osterzeit gab es ein schönes Passionskonzert, Nonnengesang, insbesondere in dem Kloster Val de Grâce, dessen Wölbung und Ausschmückung (1669 vollendet) eine Sehenswürdigkeit war.

Molière selbst besang es in einem Gedicht, in welchem Pierre Mignard im Geist der Zeit den größten Malern der italienischen Renaissance an die Seite gestellt war. Diese wurden überdies in folgender höchst merkwürdigen Ordnung angeführt:

Et Jules, Annibal, Raphael, Michel-Ange,
Les Mignards de leur siècle.

Les Ténèbres, wie das Konzert hieß, wurde am allerschönsten von der königlichen Kapelle aufgeführt.

Am Vormittag des Gründonnerstag wusch der König dreiundzwanzig Knaben die Füße und bewirtete sie. Prinzen von Geblüt trugen ihnen die Gerichte auf, und jeder Knabe erhielt dreizehn Speisen vorgesetzt. – Am 1. Mai war Prozession mit den Reliquien des heiligen Denis. – Am dritten Pfingsttag vergnügte sich die Jugend in Surène (in der Nähe von Paris) mit einem Spiel, das darin bestand, einer Gans den Hals abzuziehen.

An allen Vorabenden der großen Feste berührte der König, nachdem er das Sakrament des heiligen Abendmahls eingenommen hatte, mehrere Hundert Kranke, die der Leibarzt ihm vorführte, mit der Hand; er tastete an ihrer Wange, machte das Zeichen des Kreuzes und sprach: Der König berührt dich, Gott heile dich!

Es gab also genug der öffentlichen Vergnügungen. Und der Park zu Versailles war nie geschlossen; man durfte sich dort ergehen, soviel man wollte, wenn nicht eben der König dort spazierenging.

V

Als der kleine François Arouet neun Jahr alt war, brachte sein Vater ihn (im Oktober 1703) in die Schule zu den Jesuiten, die damals das dicht hinter der Sorbonne gelegene berühmte Collège Louis-le-Grand leiteten. Es war seinerzeit von der Universität heftig befehdet worden, hatte aber dadurch nur gewonnen. Berühmte Jesuiten hatten dort Vorlesungen gehalten, zu denen sich bis 3000 Hörer einfanden. Als unter Ludwig dem Vierzehnten die Jesuiten bei Hofe allmächtig wurden und der König 1674 der Aufführung einer von ihren Eleven mustergültig gespielten Tragödie beigewohnt hatte, erlaubte er ihnen, ihre Fassade mit seinem Namen zu schmücken, worauf im Verlauf einer Nacht die Inschrift Collegium Claramontanum Societatis Jesu durch Collegium Ludovici Magni ersetzt wurde.

Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts war dieses Kollegium fashionabel wie keine andere Schule. Die berühmtesten Familien der Aristokratie sandten ihre Söhne dahin. Nach jedem freien Tag war die Straße Saint-Jacques von Equipagen gesperrt, in denen die eleganten jungen Herren mit dem Degen an der Seite angefahren kamen, und wenn sie ausstiegen, widerhallte die Straße von den Rufen ihrer Lakaien, die ihre Ankunft meldeten: Monsieur le comte de Guiche! Monseigneur le prince de Rohan! Monseigneur le duc de Montmorency! Voltaire stiftete hier eine Reihe von Bekanntschaften, die ihm späterhin zu Nutzen und Freude wurden.

Die Jesuiten hatten sich frühzeitig und mit Recht einen Ruf als Lehrer und Erzieher erworben. Sie legten Wert darauf, ihren Schülern Selbstvertrauen einzuflößen. Ihr Christentum war, ein halbes Jahrhundert vor Grundtvig, ein fröhliches Christentum. Sie wollten vermeiden, wie die Jansenisten, Tatendurst und Handlungskraft niederzuschlagen, indem sie die Urverderbtheit der menschlichen Natur durch die Sünde den Gemütern einprägten; sie wollten im Gegenteil Kräfte erwecken, der Verzweiflung vorbeugen, zu Unternehmungslust und Bildungsaneignung ermuntern. Sie verstanden es auch jederzeit, ihre Schüler zu fesseln, sie zu belehren, indem sie sie zugleich unterhielten und vergnügten. Sie haben es nie verschmäht, öffentliche Turniere und Theatervorstellungen abzuhalten, um die körperliche und geistige Entwicklung der Jugend zu fördern.

Natürlich war der Unterricht, der 1703 im Collège Louis-le-Grand erteilt wurde, kein moderner. Man lehrte Mathematik, Physik, Chemie, Rhetorik, Grammatik und elementare Philosophie. Dem ganzen Unterricht aber lag das Latein zugrunde. Was den Schülern an allgemeiner Bildung beigebracht wurde, wurde lateinisch mitgeteilt und drehte sich um lateinische Schriftsteller. Der Zweck war – so sonderbar es klingt –, die Schüler zu befähigen, lateinische Verse zu schreiben und lateinische Reden zu halten. Französisch lehrte man nur, insoweit die Kenntnisse hierzu als Brosamen von dem reichen Tisch der lateinischen Sprache fielen. Man brauchte ja Französisch, um übersetzen zu können. Griechisch stand zwar auf dem Stundenplan, wurde aber stark vernachlässigt. So kam es, daß Voltaire niemals ein guter Hellenist, dagegen ein sehr tüchtiger Lateiner wurde.

So festgegründet war die Herrschaft des Latein, daß sogar die Tragödien und Komödien, in denen die Jesuiten ihre französischen Schüler auftreten ließen, um ihnen Vergnügen zu bereiten und ihr Gedächtnis zu stärken, Jahrhunderte hindurch lateinisch geschrieben waren. Man betrachtete es als eine geradezu ärgerniserregende Umwälzung, als Père Porée zu Voltaires Schulzeit rein französische Stücke auf französisch aufführen ließ.

Allmählich wurde die Ordnung getroffen, daß die große Komödie (ludi solemnes) die lateinische Tragödie bezeichnete und ihre Bühne im Vorhof der Schule erhielt; ein ungeheures Zelt schützte die Zuschauer, die man amphitheatralisch in drei übereinanderliegenden Reihen und überdies in den auf den Hof gehenden Fenstern unterbrachte. An dem Tage, wo die Prämien verteilt wurden, gab es sowohl Tragödie wie Ballett, dessen Kosten der König bestritt.

Die kleine Komödie (ludi priores) war französisch geschrieben und wurde in einem zweiten Hof gespielt; man spannte eine Leinwand aus, um das Theater zu isolieren, dessen Bühne sich der Bibliothek gegenüber öffnete. Ein Schauspiel von Père du Cerceau hatte später solchen Erfolg, daß sein Ruf bis zum Hofe drang und die Schüler sich eines Tages in die Tuilerien begeben und dieses Lieblingsstück Ludwig dem Fünfzehnten in der Galérie des Ambassadeurs spielen mußten.

Außer den Schauspielen gab es Gerichtsverhandlungen. Die Schüler führten Prozesse, das heißt, hielten Verteidigungsreden für die Medizin, die Rhetorik, die Poesie, die Philosophie, die Bildhauerkunst usw. – eine recht kindische Idee der guten Väter! Aber diese Advokatenversuche waren immerhin noch den zu gleicher Zeit an der Kopenhagener Universität stattfindenden schrecklichen Disputationen vorzuziehen und erreichten ihren Zweck, die künftigen Redner vor der Schranke oder sonst im öffentlichen Leben auszubilden.

Die Schüler lebten und wohnten in der Schule. Die vornehmeren hatten jeder sein geräumiges Zimmer. Der kleine Arouet scheint die Stube mit vier anderen geteilt und tagsüber unter der Aufsicht derselben Lehrer gestanden zu haben wie sie, hatte aber nachts seine eigene Zelle.

Der aufgeweckte Junge war nicht bloß wie alle lebhaften Kinder fragelustig bis zum äußersten, sondern ganz ungewöhnlich frühreif, überdies mutwillig, unbändig, ein wahrer Eulenspiegel. Er verstand auch ein kaum halbgesungenes Lied zu deuten. Sein Geist war tätig, beweglich, spottsüchtig, voll unvorhergesehener Einfälle, nimmermüde und stets verwegen, ebenso bereit zu Angriffen wie zu kecken Antworten, necklustig und reizend, die Schwächen der Mitschüler und Lehrer unbarmherzig treffend. Zugleich aber war er warmherzig als Freund und als Schüler und früh einschmeichelnd durch eine höfliche und höfische Art, die zeitlebens fast jeden Brief und jedweden Vers dieses Wesens kennzeichnete, das vor allem anderen die Kunst verstand zu gefallen. Er zerstreute und sammelte sich abwechselnd; es war »Tumult in seinen Ideen«, wie er es noch im Alter nannte, aber dieser Tumult schloß niemals ein beharrliches Streben nach Klarheit aus.

VI

Einen einzigen der Lehrer konnte der kleine François nicht leiden: Vater Lejay. Lejay sprach langsam und mit Schwierigkeit, unterrichtete in Beredtsamkeit, war aber selbst so wenig beredt wie möglich. Spöttisch und necklustig wie der Knabe war, sagte er ihm Spitzigkeiten und bekam seinen Groll zu fühlen.

Es gibt nicht wenige Anekdoten, die erweisen sollen, wie frühzeitig sich der kritische Hang des kleinen Jungen gegenüber Dogmen und Theologie verriet. Dennoch erscheint Vater Lejays Ausbruch gegenüber dem Schüler Châteauneufs, dem emanzipierten Sohn Madame Arouets, nach irgendeiner mißfälligen Aeußerung des halberwachsenen Burschen recht wenig glaubhaft: »Unglücklicher! du wirst einmal die Standarte des Deismus in Frankreich werden!«

Im übrigen ist es auffallend, mit welcher Wärme er seine Lehrer wie seine Kameraden umfaßte.

Was die Lehrer betrifft, so liegen zahlreiche Zeugnisse dauernder Anhänglichkeit von seiten des ehemaligen Schülers vor, einer Anhänglichkeit, die wohl nicht ohne gelegentliche Kritik, aber dennoch ehrlich und tief war, obwohl es nicht an Leuten gefehlt hat, die in ihr, weil es ja zahlreiche Stellen in Voltaires Schriften gibt, in denen unter den Männern der Kirche besonders die Jesuiten in ein äußerst unvorteilhaftes Licht gestellt werden, bloß eine berechnete Heuchelei sehen wollten.

Dennoch läßt sich hieraus kein ungünstiger Schluß auf Voltaires Ehrlichkeit ziehen. Der Grundgedanke der Jesuiten, die vollständige Aufopferung des einzelnen für ein System, das die Freiheit des Gedankens und der Persönlichkeit ausschließt und nach Möglichkeit vernichtet, und die Praxis des Jesuitismus in vielen Fällen mußten Voltaires Haß hervorrufen. Dennoch war die humane Morallehre des Jesuitismus ihm lieber als der Rigorismus Pascals und der Jansenisten.

Und so gewiß es ist, daß es unter den Jesuiten, nicht weniger als unter anderen Männern der römischen Kirche und außerhalb derselben, unleidliche und fanatische Persönlichkeiten gibt, so sind die kriegerisch lärmenden doch am seltensten unter ihnen anzutreffen. Niemand, der mit Jesuiten aus den verschiedenen Gemeinden in Europa, mit englischen, französischen, polnischen, italienischen, in Berührung gekommen ist, wird umhingekonnt haben, sich von ihrer Selbstlosigkeit, ihrer Wohlerzogenheit, dem Ernst und der Feinheit ihres Wesens angezogen zu fühlen. Als Lehrer haben sie sich in der Regel von ihrer besten Seite gezeigt; frei von Pedanterie, befähigt, das Interesse der Kinder zu erwecken, und kenntnisreich genug, um auf vielen Gebieten die Wißbegierde, die sie erregt hatten, zu befriedigen.

Vergleicht man Jesuiten als Erzieher mit lutherischen Theologen, so sinkt die Wagschale tief zugunsten der ersteren.

Es kann kein Zweifel herrschen, daß Voltaire die Anziehung empfunden hat, die jesuitische Gewissenhaftigkeit, Sanftmut und Grazie sehr häufig auf den Unparteiischen ausüben, und er hat seine Dankbarkeit für die ihm zuteil gewordene Erziehung in starken Worten geäußert. Er schreibt, fünfzig Jahr alt, in einem Briefe vom 7. Februar 1746 an Vater de Latour:

Ich bin sieben Jahre bei Männern erzogen worden, die sich ungelohnte und unermüdliche Mühe gaben, Geist und Sitten der Jugend zu bilden. Kann jemand meinen, daß man seinen Lehrern gegenüber keine Erkenntlichkeit hegen sollte? Wie? Es sollte dem Menschen natürlich sein, beim Anblick des Hauses, in dem er geboren wurde, oder des Dorfes, wo er die Pflege einer dafür bezahlten Frau empfing, Vergnügen zu fühlen, und es sollte nicht ein Bedürfnis für unser Herz sein, die zu lieben, die edelmütig Sorge für unsere ersten Jahre trugen? Wenn die Jesuiten auf den Malabarinseln einen Prozeß mit einem Kapuziner hängen haben, was kümmert das mich? Ist es ein Grund für mich, undankbar gegen den zu sein, der mir Sinn für die schöne Literatur eingegeben, der Gefühle erweckt hat, die bis zum Grabe der Trost meines Lebens sein werden? Nichts kann aus meinem Herzen die Erinnerung an Vater Porée löschen, der allen, die unter ihm studiert haben, gleich teuer ist. Niemals hat jemanden das Studium durch gute Eigenschaften liebenswürdiger gemacht. Seine Stunden waren für uns genußreich, und ich möchte, daß es Sitte in Paris wie in Athen gewesen wäre, in jedem Alter an solchen Unterrichtsstunden teilnehmen zu können; dann wäre ich oft zurückgekehrt, um aus ihnen Nutzen zu ziehen. Ich habe das Glück gehabt, von mehr als einem Jesuiten von Vater Porées Charakter ausgebildet zu werden, und ich weiß, daß er seiner würdige Nachfolger hat. Wenn man endlich fragt, was ich in den sieben Jahren, da ich im Hause der Jesuiten lebte, bei ihnen gesehen habe, so kann ich nur antworten: das arbeitsamste, dürftigste, regelmäßigste Leben; alle Stunden eingeteilt zwischen der Sorgfalt, die sie uns widmeten, und den Übungen, die ihr strenges Glaubensbekenntnis mit sich brachte. Ich fordere zu Zeugen dessen die Tausende von Menschen, die von ihnen erzogen wurden wie ich; es gibt nicht einen, der meine Worte zuschanden machen würde.

Man kann beobachten, wie Voltaire sein lebelang fortfuhr, den Lehrern seiner ersten Jugend seine Anhänglichkeit und Dankbarkeit zu beweisen. 1738 schreibt er an Vater Tournemine:

Mein sehr lieber und höchstehrwürdiger Vater, ist es wahr, daß Mérope Ihnen gefallen hat? Haben Sie darin einige der edelmütigen Empfindungen wiedergefunden, die Sie mir in meiner Kindheit einpflanzten? Si placet, tuum est (Wenn das Stück Ihnen gefällt, ist es das Ihre). Ich sage das immer, wenn ich von Ihnen und Vater Porée spreche.

Anläßlich seiner Tragödie Mérope schreibt er im folgenden Jahre aus Cirey an den Freund Thiériot, der seine Freundschaft im Grunde so wenig verdiente:

Eile in Gottes Namen zu Vater Brumoy; versuche einige dieser Väter, meine einstigen Lehrer, zu sprechen; sie dürfen niemals meine Feinde werden. Sprich mit Zärtlichkeit, mit Kraft! Vater Brumoy hat Mérope gelesen, er ist damit zufrieden; Vater Tournemine ist begeistert davon. Gebe Gott, daß ich ihr Lob verdiente! Versichere sie meiner unverbrüchlichen Ergebenheit; ich schulde sie ihnen; sie haben mich erzogen. Der ist ein Ungeheuer, der nicht die liebt, die seinen Geist befruchtet haben.

1729 sendet er Père Porée seine Henriade mit einem Briefe, der beginnt:

Wenn Sie, mein ehrwürdiger Vater, sich noch eines Mannes erinnern, der sein ganzes Leben lang Ihrer mit der zärtlichsten Dankbarkeit und vollkommensten Achtung gedenken wird, empfangen Sie dieses Werk mit einiger Nachsicht und betrachten Sie mich als einen Sohn, der nach mehrjähriger Abwesenheit seinem Vater die Frucht seiner Arbeit in einer Kunst darbringt, die er einst von ihm gelernt hat. Sie werden aus der Vorrede ersehen, welches Schicksal dieses Werk hatte, und ich will aus Ihrem Urteil lernen, welches Schicksal es verdient.

Unter anderem fragt Voltaire, ob er hier von der Religion gesprochen hat, »wie er es sollte«. Ebenso warm schreibt er in dem Briefe von 1738 an Vater Tournemine über dieselbe Frage – in seiner Unruhe, seine alten Wohltäter zu verletzen und zu betrüben:

Wenn es in etlichen anderen Werken, die ich meiner Jugendhitze unachtsam entschlüpfen ließ und die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, Werke, die beschnitten und verfälscht wurden und die ich nie als gültig erklärt habe, wenn es in solchen Werken Äußerungen gibt, über die man sich beklagen kann, so ist meine Antwort kurzgefaßt: ich bin bereit, unbarmherzig alles auszumerzen, was Ärgernis zu erregen vermag, so unschuldig es auch gemeint sei. Es kostet mich nichts, mich und meine Werke zu bessern.

Selbst wenn man Voltaire hier nicht beim Wort nehmen dürfte, kann doch kein Zweifel darüber sein, daß das Gefühl für seine Jugenderzieher ihm heilig gewesen ist.

In seinem zarten Alter war es Vater Tarteron, der dem Kinde zuerst Horaz und Juvenal zu lesen gab, wohlgemerkt in sorgfältig gereinigten Ausgaben. Père de Tournemine war einer der gelehrtesten Lehrer des Instituts, ebensosehr heimisch in Mathematik wie in Philosophie, ebenso bewandert in Griechisch wie in Hebräisch. Er war Voltaires erster Führer in der Literatur, und wir haben gesehen, wie geschmeichelt und beglückt er sich später von der Bewunderung seines alten Lehrers für Mérope fühlt. Tournemine vereinte eine lebhafte Einbildungskraft mit der Seelenreinheit eines Kindes. Er bewunderte frühzeitig die glänzenden Eigenschaften und den feurigen Geist seines Schülers, wünschte nur, ihm »Trense anlegen zu können«. Wie nahe der junge Voltaire ihm gestanden hat, zeigt sich, wenn er während der naiven Liebesepisode seiner frühen Jugend an seine geliebte Olympe in Holland schreibt: »Das erste, was ich tun will, wenn ich nach Paris komme, ist, Vater Tournemine für Ihre Sache zu gewinnen.«

Vater Paullou war der Beichtvater des Knaben und genoß, wie Briefe aus der Schulzeit zeigen, die innige Liebe seines Schülers. Unter den vielen, mehr oder minder verläßlichen Äußerungen über den jungen François ist folgende des Vaters Paullou von vielen Seiten bestätigt worden: »Dieses Kind wird von dem Durst nach Ruhm verzehrt« (Cet enfant est dévoré de la soif de la célébrité).

Der jüngste der Lehrer und zugleich der, dem Voltaire eine solche Anhänglichkeit bewahrte, daß ihm sein ganzes Leben lang niemals ein herabsetzendes Wort über ihn entschlüpfte, war der feingebildete Vater Thoulié, der seinen Namen durch ein Anagramm änderte und unter dem Namen Abbé Olivet berühmt wurde. Er übersetzte Demosthenes und Cicero, wurde ein einflußreiches Mitglied der Französischen Akademie und schrieb deren Geschichte. Voltaire hegte eine förmliche Zärtlichkeit für ihn, welche lebhaft erwidert wurde. Für Voltaire ist Olivet der wiedergeborene Quintilian, und Olivet seinerseits versäumt nicht, die Partei seines ehemaligen Schülers in dessen zahlreichen, oft recht grimmigen Fehden (wie denen mit J. B. Rousseau, mit Desfontaines usw.) zu ergreifen. Es waren derbe Elemente, es war sogar eine gewisse Barschheit in Olivets Natur; dennoch redet Voltaire ihn, wenn er an ihn schreibt, stets so an: Elegans et sapiens Olivete, vir doctissime! Vale, dilige tuum amicum, tuum discipulum!

Am teuersten von allen Lehrern war und blieb jedoch dem berühmtesten Schüler der Anstalt, wie wir sahen, Vater Porée. Porée war der geborene Erzieher, ein so sicherer Physiognomiker, daß er sich über Charakter und Fähigkeiten jedes einzelnen Schülers klar war, jedem daher genau den Unterricht erteilte, dessen er bedurfte. Seine Laune war gleichmäßig, sein Wesen ein Lächeln. Er besaß eine freimütige, ansteckende Heiterkeit, war nachsichtig und liebenswürdig. Der Frieden seines Innern spiegelte sich in seinen Zügen. Er liebte die schöne Literatur mit Leidenschaft und teilte diese Leidenschaft seinem Lieblingsschüler mit.

Der junge François lebte nicht wie die vornehmen Eleven der Schule, sondern führte ein bescheidenes und nachdenkliches Dasein. Er arbeitete rastlos, nicht wie die anderen Knaben mit dem an das Buch gebundenen Fleiß der mittelmäßigen Köpfe, sondern mehr in den Freistunden als beim Unterricht, nahm nicht an den Spielen und Tändeleien der Kameraden teil, fragte aber die Lehrer leidenschaftlich aus, erging sich in endlosen Gesprächen mit ihnen, um sich von seiner angeborenen Unwissenheit zu befreien. Er forschte nach allem möglichen, ließ sich über Philosophie, Religion, Literatur, Geschichte, Staatenlehre, Naturwissenschaft belehren. Selbst was sonst über dem Horizont eines Schuldiszipels liegt, lag nicht über dem seinen: die damaligen Begebenheiten, die Politik, die Regierungen in Frankreich und anderwärts. Über alles wollte er Bescheid haben. Wie Vater Porée über ihn geschrieben hat: »Er wog gern Europas Interessen auf seiner kleinen Waage.«

Schon als Knabe hielt er auf gutes Essen und guten Wein, auf schöne Kleider und auf eine gewisse persönliche Eleganz. Er war niemals ein Arbeitsroß und niemals ein Asket. Da er außerordentlich zart war, fürchtete er besonders die Kälte sehr.

Es war Brauch in der Schule, die Freistunden im Hofe zu verbringen, solange nicht das Wasser im Weihkessel der Kapelle gefroren war. Da die Tür zur Kapelle tagsüber offenstand, legte Voltaire, so oft er eine Gelegenheit ersehen konnte, Eis in den Kessel, um seinen Ofenwinkel nicht verlassen zu müssen,

Jede Klasse hatte ihre Ehrenbank, die den besten Schülern vorbehalten war, und auf dieser Bank war der begehrteste Platz nicht der erste, sondern im Winter der, der dem Kachelofen am nächsten war. Um diesen entbrannten oft harte Kämpfe. Während der frierende Voltaire eines Tages einen Kameraden von diesem Platz fortzupuffen suchte, rief er aus: »Fort mit dir, oder es setzt einen Stoß, daß du dich bei Pluto wärmen kannst.« – »Warum sagst du nicht: in der Hölle?« – »Bah, das eine ist nicht sicherer als das andere!«

Es ist dies eine jener Anekdoten, die als Beispiel der frühzeitigen Freidenkerei des Knaben gern angeführt werden. Es gibt eine der eben erwähnten entsprechende Äußerung über das Himmelreich, die von seinem Biographen Paillet de Warey (1824) stammt. Einer seiner Nebenmänner im Refektorium behauptete, Voltaire habe ihm das Glas versteckt. Ein anderer rief: Arouet, gib es ihm zurück, du bist ein Störenfried, der nie in den Himmel kommt. – Was sagt er da von seinem Himmel? erwiderte der Knabe. Der Himmel, das ist der große Schlafsaal der Welt.

Sicherlich werden nur von sehr berühmten Männern derartige harmlos scherzhafte Äußerungen aufbewahrt.

VII

Der junge Arouet kam durch seine Schulzeit, ohne je demütigenden Strafen ausgesetzt worden zu sein. Seine Mitschüler waren nicht immer so glücklich. Der Marquis von Argenson erzählt in seinen Erinnerungen daß er und der junge Herzog von Boufflers, Oberst des seinen Namen tragenden Regiments und erbberechtigter Gouverneur über Flandern, als Strafe für den unbedeutenden Jungenstreich, durch ein Blasrohr Erbsen auf Père Lejay gepustet zu haben, in Gegenwart der ganzen Klasse mitten auf dem Schulhofplatz gepeitscht wurden. Der Maréchal de Boufflers beklagte sich beim König darüber und nahm seinen Sohn aus der Schule. Der Marquis von Argenson berichtet, wie peinlich es für ihn und seinen Bruder, die beiden nachmaligen Minister, war, die ärmliche, schwarze Schüleruniform zu tragen. Sie hatten vor ihrem Eintritt in das Kollegium das damalige Leben junger Herren geführt, Schauspiele, Gesellschaften, Restaurants und Frauen besucht. Er wandte die Augen ab, als während einer Schulkomödie, der er in seiner Schüleruniform im Amphitheater als Zuschauer beiwohnte, sein intimer Freund, der junge Prinz von Soubise, in seinem strahlenden Rock den Saal betrat.

Bei einer Prämienverteilung 1710 sahen der junge Arouet und Jean Baptiste Rousseau einander zum erstenmal. Rousseau hörte, wie Arouet zweimal vorgerufen wurde, und fragte, wer der junge Mensch sei, den man so vor seinen Kameraden auszeichne. Père Tarteron erwiderte, es sei ein kleiner Junge, der ein erstaunliches Talent für die Dichtkunst besitze, und schlug vor, ihn vorzustellen, was auch geschah. Rousseau fand seine Physiognomie unangenehm – allerdings wurde dies erst zu Papier gebracht, nachdem zwischen dem älteren und dem jüngeren Poeten eine bittere Feindschaft entstanden war –, den Blick aber lebhaft und aufgeweckt und die Haltung des jungen Menschen äußerst höflich.

Unter den Bekanntschaften aus der Schulzeit, die fürs Leben aufrechterhalten blieben und von größter Bedeutung für Voltaire wurden, ist zu nennen die mit dem kleinen Herzog von Fronsac – später so berühmt als Herzog und Maréchal von Richelieu, am berühmtesten jedoch durch seine Eroberergabe und Treulosigkeit gegenüber dem schönen Geschlecht. Kaum der Herzog von Lauzun (obwohl sein Name in dieser Beziehung sprichwörtlich geworden ist) genoß solch einen Ruf der Unwiderstehlichkeit, wie dieser Mann, der, fünfzehn Jahre alt, die Schule verließ, um die junge Herzogin von Noailles zu ehelichen, und in demselben Jahre für einige Zeit in die Bastille kam, weil er der Herzogin von Bourgogne ein paar Küsse geraubt hatte. Und Richelieu bewahrte (sowie Lauzun) seine Anziehungskraft auf die Frauen bis zu seinem Tode. (Er wurde zweiundneunzig Jahre alt, Lauzun einundneunzig, und in seinem letzten Lebensjahre bewies dieser dem Hofe seine Kunstfertigkeit im Zureiten junger Pferde.)

Richelieu war den Frauen der Abgott. Nur mit ihm zusammen genannt zu werden, galt als eine Ehre. Alle zeigten sich ihm gegenüber nachgiebig, die koketten wie die ehrbaren, Prinzessinnen wie Bürgersfrauen. Sie kämpften um seine Gunst, mitunter sogar mit Schießwaffen, wie Madame de Polignac und die Marquise von Nesle, die seinethalben im Bois de Boulogne Pistolenschüsse wechselten. Die Verehrerinnen, die für ihn anderen Frauen Botschaften überbrachten, küßten ihm dafür die Hand; die er fortjagte, kamen wieder. Er wußte nicht mehr, von welchen unter ihnen er jede der Haarlocken und Ringe erhalten hatte, die in Mengen seine Schubladen füllten. Jeden Morgen wurde ihm ein Pack Liebesbriefe überbracht; oft fand er nicht Zeit, sie zu lesen, öffnete sie nicht einmal, schrieb mit Bleistift auf die Adresse: Briefe, die ich nicht Zeit hatte zu lesen. Bei seinem Tode fand man auf seinem Tische, noch versiegelt, nicht weniger als fünf Billetts von vornehmen Damen vor, die an einem und demselben Tage um »eine Stunde seiner Nacht« flehten. Er war damals zweiundneunzig Jahr alt.

In der Schule konnte Voltaires Bekanntschaft mit dem Herzog, der ja die Anstalt frühzeitig verließ, sich nicht intim gestalten, aber während der Jugendzeit trafen sie einander oft: bei dem Kardinal von Auvergne, dem Herzog von Sully, dem Marschall von Villard und bei Lord Bolingbroke – solange dieser in Frankreich in La Source lebte. Schadete diese Freundschaft Voltaire auch in der Regentschaftszeit, als Richelieu an der klerikalen Verschwörung gegen den Regenten teilnahm, ja sich im Jahre 1718 sogar anbot, Bayonne Philipp dem Fünften von Spanien auszuliefern, so gereichte sie ihm späterhin zu Nutzen; offenbar haben diese beiden glänzenden, bezaubernden und anmaßenden Persönlichkeiten eine starke Anziehung aufeinander ausgeübt. Sie waren gleich elegant und gleich impertinent. Nicht einmal der Umstand, daß Marschall von Richelieu in einer flüchtigen Verbindung mit der Marquise von Châtelet gestanden hatte, ehe Voltaire sie kennen lernte, konnte dieser Freundschaft den geringsten Abbruch tun. Und man glaube nicht Voltaires modernen Hassern, nicht Faguet, wenn er den Anschein erwecken will, als sei Voltaire in dieser Verbindung der Untertänige gewesen. Im Gegenteil, kam es zu Reibungen, so stellte er sich zu Richelieu als Macht gegen Macht. Im Jahre 1722, also etwas über ein Jahrzehnt nach Auflösung der Schulkameradschaft, schreibt Voltaire an seinen Vertrauten, Thiériot:

Ich bin sehr erstaunt über Herrn de Richelieus Zorn; ich achte ihn zu sehr, um zu glauben, er könnte zu Ihnen mit Mißvergnügen von mir gesprochen haben, als hätte ich ihm versagt, was ich ihm schulde. Ich schulde ihm nur Freundschaft und nicht Unterwerfung, und verlangte er dergleichen, so schuldete ich ihm nichts ... Ich rate Ihnen nicht, ihn wiederzusehen, falls Sie erwarten, von ihm an meine Adresse gerichtete Vorwürfe zu hören; es würde ihn ebenso schlecht kleiden, einen Verweis zu versuchen, wie es mich kleiden würde, mich in einen solchen zu finden.

Die zahlreichen Gedichte und noch zahlreicheren Briefe an den Herzog, die sich über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren erstrecken, zeugen von der Festigkeit der Freundschaft. Ein Brief der Marquise von Châtelet an den Herzog, zu einem Zeitpunkt, da sie ganz in Voltaire aufging und da der Herzog schon zum zweitenmal verheiratet war, enthält einen Passus, der ihm und ihr Ehre macht. Sie schreibt:

Ich glaube, ich habe wirklich einigen Wert, seit ich darauf bauen kann, daß Sie eine wahre Freundschaft für mich hegen ... Sie kennen mein Herz; Sie wissen, wie ganz es erfüllt ist; ich bin glücklich, in Ihnen den Freund meines Geliebten zu lieben ... Diese Empfindung würde die Freude, die Ihre Freundschaft mir bereitet, noch erhöhen, wenn ich selbst sie nicht vergiftet hätte; ich kann mir nicht verzeihen, flüchtige Gefühle für Sie genährt zu haben, wie leicht sie auch waren; nun muß der Charakter meiner Freundschaft trachten, diesen Fehler gutzumachen und, falls es dieser Fehler ist, dem ich Ihre Freundschaft verdanke, will ich trotz all meiner Gewissensbisse sagen: Heiliges Verbrechen! ( O felix culpa!)

VIII

Doch zurück zu Voltaires vielen anderen wertvollen Bekanntschaften aus der Schulzeit! Stark sind die beiden Brüder d'Argenson hervorzuheben. Ihr Vater war Polizeichef Ludwigs des Vierzehnten für Paris und hierauf während der Regentschaft reaktionärer Großsiegelbewahrer (Justizminister). Beide Söhne stiegen zu hohen Posten empor. Der ältere, der Marquis von Argenson, mit Voltaire genau gleichaltrig, blieb bis zum letzten Tage seines Lebens dessen Freund. Er wurde Frankreichs Minister des Äußeren. Der jüngere, Graf von Argenson, mit dem Voltaire wohl weniger befreundet war, der ihn jedoch für eine kurze Zeit (1743-47) in diplomatischer Mission bei dem König von Preußen benutzte, wurde unter Ludwig dem Fünfzehnten Kriegsminister. Da er sich bei Hofe auf die Jesuiten stützte, war Voltaires Verhältnis zu ihm kühlerer Art, wenn er auch in Briefen an den Jüngeren ebenso wie an den Älteren gern die Erinnerungen aus der Schulzeit mit ihren gemeinsamen Spaziertouren in der »schwarzen Allee« zurückruft.

Mit keinem dieser Freunde jedoch verband Voltaire ein so inniges Verhältnis wie mit seinen eigentlichen Vertrauten unter den Schulkameraden. Da ist vor allem Fyot de la Marche (die Briefe an ihn wurden von Henri Beaune herausgegeben). In den Beziehungen zu ihm ist ebensoviel Respekt wie herzliche Anhänglichkeit. Da jedoch Fyot de la Marche gläubiger Katholik war, fehlt im Tone jenes Vertrauen, das auf voller Übereinstimmung beruht. Ganz herzlich und vertraulich war und blieb dagegen die Stimmung gegenüber Cideville, der Ratsherr am Parlament zu Rouen wurde und bis zuletzt Voltaires Vertrauter bei seinen Plänen und in seiner Arbeit blieb. Der letzte Brief an Cideville ist vom 30. August 1765 datiert. Er lebte noch fünfzehn Jahre, war aber bigott geworden.

Noch sind von den Freunden für Lebenszeit die beiden Brüder Fériol, Graf von Argental und Graf von Pont-de-Veyle, zu nennen. Voltaire hat sie geliebt. Etwas ferner stand ihm wohl der dicke Pont-de-Veyle, der gemächliche Epikuräer, der sich nur schwer von Paris loszureißen vermochte, um seinen Besuch in Ferney zu machen, und mehr hat Voltaire zweifellos an d'Argental gehangen, welcher in den Briefen stets nur: Mein Engel, mein geliebter Engel, angebeteter Engel, göttlicher Engel tituliert wird; schreibt er aber an beide Brüder, so heißt es beständig: Meine Engel! Briefe an Pont-de-Veyle sind von dem Zeitraum 1736-43, an d'Argental von 1734-78 aufbewahrt worden. D'Argental ist nicht bloß Voltaires beständiger Vertrauter, sondern nimmt auch, wo es gilt, wirksam seine Partei, z. B. gegenüber Baculard d'Arnauds Undankbarkeit und Verleumdung. In dem ersten Entwurf zu Voltaires Septième Discours de la Vraie Vertue sind unter anderem folgende Zeilen an ihn zu finden:

Tendre et fidèle ami, bienfaiteur généreux
Qui peut te refuser le nom de vertueux?
Jouis de ce grand titre, ô toi dont la sagesse
N'est point le triste fruit d'une austère rudesse,
Toi qui, malgré l'éclat dont tu blesses les yeux,
Peux compter plus d'amis que tu as d'envieux.

Zu den innigstgeliebten Jugendfreunden aus jenen ersten Zeiten gehört endlich Jean René de Longeuil, Marquis de Maisons, der nur zweiunddreißig Jahre alt wurde. Sein Großvater war Anna von Österreichs Kanzler gewesen. Er war fünf Jahre jünger als Voltaire und wie dieser äußerst früh entwickelt; mit zwölf Jahren schon las er mit Genuß die römischen Dichter; mit vierzehn warf er sich in ungestümer Leidenschaft auf das Studium der Physik, versäumte aber darüber nicht die juridischen Studien, deren Pflege ein väterliches Erbteil ihm auferlegte. Als er noch als Knabe seinen Vater verlor, erwies Ludwig der Vierzehnte ihm das Vertrauen, ihm dessen Stellung als Präsident des Parlaments in Paris zu versprechen, »in der Hoffnung, er werde dem Könige mit derselben Treue dienen, wie seine Väter es getan hatten«. Als Maisons achtzehn Jahre geworden, erteilte der Regent ihm das Recht, den Vorsitz des Parlaments einzunehmen und die Verhandlungen zu leiten. Er entledigte sich seiner Aufgabe zu allgemeiner Zufriedenheit. Insbesondere aber glänzte er als Literaturfreund und wissenschaftlicher Forscher. Er war ein hervorragender Techniker und hatte ein Berliner Blau (Bleu de Prusse) erfunden, das jedes andere übertraf. Sein Garten enthielt nur die seltensten Pflanzen; hier wurden die ersten Kaffeefrüchte Frankreichs zur Reife gebracht.

Da die Mutter Maisons die ältere Schwester der Marschallin von Villars war, hat Voltaire unzweifelhaft durch die Familie Maisons den großen Marschall, besonders aber dessen Frau, die Herzogin, kennen gelernt, für die ihn als Jüngling einige Zeit eine so verzweifelte und unerwiderte Leidenschaft verzehrte. Es ereignete sich im Jahre 1723, daß Voltaire während eines Besuches im Schlosse Maisons von den Pocken ergriffen wurde, die eben da in Paris wüteten. Sein Wirt und seine Wirtin erwiesen ihm eine rührende Güte; Adrienne Lecouvreur, die große und seltene Schauspielerin, kam zu ihm und saß trotz der Ansteckungsgefahr an seinem Bette. Der vertriebene englische Staatsmann Bolingbroke besuchte ihn. Der Arzt Gervasi rettete nach der Meinung des Patienten dessen Leben (siehe Voltaires Epître XXV A Mr. de Gervasi). Kaum hatte der Dichter (am 1. Dezember 1723) das Schloß verlassen, als durch einen für ihn schmerzlichen Zufall in dem Zimmer, wo er krank gelegen, Feuer ausbrach; man zeigt noch heute die Spuren der Feuersbrunst. In dem Gedicht, in dem Voltaire seine Freude ausdrückt, dem Leben wiedergeschenkt zu sein, heißt es:

Je reverrai Maisons, dont les soins bienfesants
Viennent d'adoucir ma souffrance
Maisons, en qui l'esprit tient lieu d'expérience
Et donc j'admire la prudence
Dans l'âge des égarements.

Maisons war ihm wie ein älterer Bruder, ein ehrlicher und strenger, bisweilen scharfer Kritiker seiner Arbeiten ( Eryphile, sogar Jules-César), und als er starb, legte Voltaire in einem Brief an Cideville (27. September 1731) all seinen Schmerz über diesen Todesfall nieder. Der Brief beginnt: »Mein lieber Freund, der Tod des Herrn de Maisons hat mich in eine Verzweiflung gestürzt, die an Stumpfheit grenzt. Ich habe meinen Freund, meine Stütze, meinen Vater verloren. Er ist in meinen Armen gestorben, nicht infolge der Unwissenheit der Ärzte, sondern infolge ihrer Versäumnis. Ich werde mich in meinem ganzen Leben nicht über diesen Verlust trösten können, noch über die grausame Art, auf die er mich getroffen hat.« Noch in demselben Jahre stellte er dem Freunde ein bleibendes Denkmal in seinem Gedicht Le Temple du Goût, in dem er seinen Schatten nach dem Tode erblickt. Die Stelle beginnt:

O transports? ô plaisirs? ô moments pleins de charmes!
Cher Maisons! m'écriai-je en l'arrosant de larmes,
C'est toi que j'ai perdu, c'est toi que le trépas,
A la fleur de tes ans, vint frapper dans mes bras.
La mort, l'affreuse mort, fut sourde à ma prière,
Ah! puisque le destin nous voulait séparer,
C'était à toi de vivre, à moi d'expirer.

Wenn nun so zahlreiche vornehme Bekanntschaften und Freundschaften, die, in der Schulzeit begründet, später aufrechterhalten blieben, genannt werden, ist bemerkenswert, daß Voltaires Verhältnis zu Freunden des einfachen Bürgerstandes nicht minder innig war. Es genügt, Thiériot zu nennen. Und es erhöht die Achtung für den Dichter, daß, wenn er in seiner späteren Lebenszeit, sogar nach Verlauf von dreißig Jahren, den ersten besten seiner Schulkameraden, dem es nicht eben gut ergangen war, wiedersah, das alte kameradschaftliche Gefühl bewegten Ausdruck fand. So gegenüber Le Coq, einem unbekannten Bohémien, der sich eines Tages präsentierte, zum Skelett abgemagert, mit eingefallenen Wangen, ungeordnetem Bart und schmutziger Wäsche, den aber Voltaire unter seinen Lumpen erkannte und dessen er sich gerührten Herzens annahm (Brief an Cideville vom 28. Oktober 1741).


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