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Der junge Arouet ging in sein siebzehntes Jahr. Um das Jahr 1711 hatten seine besten und intimsten Freunde die Schule verlassen; er brachte es fast nicht über sich, in die Zimmer zu blicken, die sie bewohnt hatten. Die Vögel waren ausgeflogen, die Bauer leer. Er sehnte sich nach ihnen und sehnte sich, auszufliegen wie sie. Er war satt und überdrüssig des klösterlichen Lebens im College, des Latein und Griechisch. Jener verzweifelte Trübsinn kam über ihn, der allen gemeinsam ist, die der Schule entwachsen sind und für die sie nicht mehr Entwicklung, sondern Gefängnisleben bedeutet.
Aber sein Vater verlangte von ihm, daß er zuerst sein Abgangsexamen machen müsse; er absolviert es im Mai 1711. Nun wurde von ihm nur noch die Prüfung gefordert, die ihm den Grad maître ès arts verlieh. Sie war, wenn auch nicht notwendig, so doch nützlich als Einleitung für das Rechtsstudium. Er saß den Sommer über und quälte sich mit den Skeptikern, mit Aristoteles und der Ethik, ohne das Examen zu bestehen, bis er sich eine solche Migräne zulegte, daß es den Vater rührte und er den Sohn freiließ.
In den Ferien führte der Freund Fyot ihn bei seinem Verwandten, dem Marquis von Mimeure, ein und legte hierdurch den Grund zu der Freundschaft zwischen dem Dichter und der geistreichen Marquise von Mimeure, die seine Beschützerin wurde. Herr de Mimeure war den Literaten ein liebenswürdiger Mäzen, und der gute Empfang, der Arouet in dessen Hause zuteil wurde, erhöhte seine Leidenschaft für ein geistiges Freiluftleben ohne Bande und Pflichten.
Das Arbeitsjahr begann. Der Augenblick war gekommen, eine Lebensstellung zu wählen. Auf die Erklärung des jungen Menschen, daß er nichts anderes als Schriftsteller (homme de lettres) werden wolle, erwiderte der Vater, dieses würde dasselbe heißen wie: unnütz für die Gesellschaft, den Verwandten eine Last, dem Hungertod ausgesetzt.
Im höchsten Grade widerstrebend, begann denn der junge François sein Jus zu studieren, Vorlesungen zu hören. Sie wurden in einer großen Scheune abgehalten, denn die Juristen der damaligen Zeit waren nicht verwöhnt; aber die langweilige Art, auf welche die Kenntnisse vermittelt wurden, wie besonders all das Unnütze, mit dem man sein Gehirn überlasten wollte, brachte ihn so sehr auf, daß er sich nur um so heftiger zur Literatur gezogen fühlte. Er dachte mehr an Racine und Chaulieu als an die Pandekten, lieber an Madame de Mimeure als an das barbarische Universitätslatein. Für das Feierliche war er ja nicht veranlagt, und an Geduld fehlte es ihm ganz und gar. Er führte denn auch seine juridischen Studien nicht zu Ende. Sein Vater erbot sich, ihm eine Stellung als königlicher Advokat in Paris zu kaufen, aber er wies es ab.
Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn wurde immer gespannter. »Sagen Sie meinem Vater,« erwiderte er einem Manne, der freundschaftlich zwischen ihnen vermitteln wollte, »daß mir an geachteten Stellungen, die käuflich sind, nichts liegt; ich werde mir ein Ansehen zu verschaffen wissen, das nichts kostet.« Am 22. Juni 1739 schrieb er an den Marquis von Argenson: »Da ich bei meinem Eintritt in das Leben nicht besonders wohlhabend war, war ich unverschämt genug, zu meinen, ich könnte mir so gut wie andere eine Stellung schaffen, falls sie durch Willen und Arbeit, zu erreichen sei. Ich warf mich auf die schönen Künste, die immer eine gewisse Geringschätzung mit sich bringen, weil man mit ihrer Hilfe nicht königlicher Ratsherr werden kann. Läßt man sichs etwas kosten, so kann man ja Staatsratsreferent für die Bittschriften werden; aber man kann nicht mit Hilfe des Geldes ein Gedicht schreiben, und ich schrieb eines.« Er war fest entschlossen, keinem Korps anzugehören, und so leidenschaftlich er sich von der Süßigkeit und dem Glanz der Macht, von dem Licht des Wissens, den Fanfaren des Ruhms und den wohltuenden Wirkungen verfeinerter Genüsse auf Körper und Seele angezogen fühlte, er zog frühzeitig und für immer seine Unabhängigkeit jedem anderen Gute vor.
Der Hof Ludwigs des Vierzehnten, einst der prachtliebendste in Europa, war in den letzten Lebensjahren des Königs der Hof geworden, an dem die finsterste Eintönigkeit herrschte. Noch umgab die Person des Monarchen ein Glanz, trotz der Niederlagen, die seine Heere und Flotten erlitten hatten, trotz der erhöhten Steuern, des verringerten Geldschatzes, der steigenden Anleihen, des allgemeinen Volkselends. Aber unter der Herrschaft der Madame de Maintenon war der König gottesfürchtig, und sittlich so streng geworden, daß es am Hof kein Fest und keine Schauspiele, nur einzelne steife Empfänge gab. Das letztemal, da ein Ballett vor dem König getanzt wurde, war im Jahre 1681, das letztemal, da man in Versailles eine Oper aufführte, 1694.
Um das Jahr 1711 zeigte der König sich fast nie mehr; denn Madame de Maintenon verließ nicht mehr ihre Gemächer, in denen sie die Zeit mit zwei oder drei Hofdamen verbrachte, die fromm waren wie sie selbst. Der König besuchte sie täglich einige Male und arbeitete mit seinen Ministern bei ihr. Es schien fast nicht glaublich, daß dieser Hof einstmals – vor vierzig Jahren – die Heimstätte der Jugend und der Galanterie gewesen war. Ein ungeheurer Druck ging von ihm aus und legte sich bleischwer auf die Bevölkerung.
Als Opposition gegen die tödliche Langeweile bei Hofe, gegen dessen feierlichen Ernst und korrekte Sitten, erwachte nun die Stimmung, die unter der Regentschaft zum Ausbruch kommen sollte; jene in ihren Formen dezente Zügellosigkeit, freigelassene Genußsucht, die verfeinerte und verderbte Eleganz.
Ein Zufluchtsort für die Zwanglosigkeit guter Köpfe und anakreontischer Lebemänner war in Paris noch Le Temple, wo der Großprior von Vendôme residierte, von wo er jedoch, infolge seiner herausfordernden Ausschweifungen, von 1706-1714 ausgewiesen wurde. Es währte also noch zwei bis drei Jahre, ehe der junge Arouet ihn kennenlernen konnte. Er war, wie oben erwähnt, ein jüngerer Bruder des als Feldherr berühmten Duc de Vendôme, von dessen erschreckendem Zynismus Saint-Simon ein lebendiges Bild entwirft und dessen Ruhm sogar Holbergs politischen Kannegießer erreicht hat, welcher ihn beschuldigt, »allerorten in seinem eigenen Land« geschändet und gesengt zu haben.
Noch sammelten des Großpriors Freunde und Genossen sich in seinem Hause oder im Hotel de Boisboudrand um den leichtlebigen, lyrisch-geselligen Poeten Abbé de Chaulieu als führenden Geist. Chaulieu wohnte in le Temple selbst.
Hier war der jetzt der Schule und der Universität entkommene Jüngling schon im Alter von zwölf Jahren von seinem (zwei Jahre später verstorbenen) Paten, dem Abbé von Châteauneuf, eingeführt worden. Hier traf er ständig nicht bloß Chaulieu, sondern auch Abbé Servien, der von einem Geistlichen nichts anderes als die Tracht besaß, den Onkel der jungen Herzöge von Sully. Hier traf er ferner Caumartin, den Abbé von Bussi, Sohn des berühmten Roger de Rabotin-Bussi und nach Voltaires Urteil witziger und natürlicher als jener; den Marquis von La Fare, der durch einige gute Verse bekanntgeworden war; den Herzog von Aremberg; den Präsidenten Hénault, Madame de Deffands späteren vieljährigen Freund; Maximilien Henri de Béthune-Sully, der Voltaire anfänglich so nahe wie nur irgendeiner stand, bis seine Gleichgültigkeit anläßlich einer für das Leben des Freundes verhängnisvollen Kränkung der Verbindung ein Ende machte.
Die Abendgesellschaften in diesem Kreise waren geistreiche Orgien, in denen Bacchus herrschte, während die Grazien es nicht allzugenau nahmen, und wo der magere Jüngling mit dem brennenden und sarkastischen Blick sich geschmeichelt fühlte, zwischen höchst erfahrenen Herren und nicht unerfahrenen Damen seinen Platz zu haben. Da saß er, der eben aus der Schule Entlassene, unter Prinzen und Männern aus Frankreichs höchstem Adel, bezauberte sie durch seinen regen Geist, seine burlesken Einfälle, seine unverwüstliche Heiterkeit, seine Schelmerei, dessen Anmut keiner unter ihnen zu erreichen vermochte, und behandelte sie vom ersten Tage an als seinesgleichen. Gleichwie fast hundert Jahre später Napoleon und dessen Brüder ihren Platz auf den europäischen Thronen so natürlich einnahmen, als wären sie hierzu geboren und als hätte niemand jemals ihr Recht bezweifelt, so behandelte Voltaire, kaum erwachsen, in jenen Zeiten des Kastenwesens Männer aus den ersten Familien Frankreichs, als sei er ohne Frage mindestens so vornehm wie sie.
Ab und zu gab es wohl auch Mißgunst und Rivalität zu überwinden und zu beschwichtigen, so zum Beispiel gegenüber Chaulieu, dem Führer selbst. Voltaires erstes Auftreten als satirischer Poet hatte ihn entzückt und er belohnte den Jüngling für das Gedicht Le Bourbier mit einem kleinen Poem, das so beginnt:
Que j'aime ta noble audace,
Arouet, qui d'un plein saut
Escalades le Parnasse,
Et tout à coup, près d'Horace,
Sur le sommet le plus haut
Brigues la première place.
Als Voltaire jedoch später auch als dramatischer Dichter Beifall erwarb, schärfte er ein bekanntes Epigramm gegen den jungen Mann. Nichtsdestoweniger kann man in Voltaires eigenen Werken verfolgen, mit welcher Gewandtheit und Kunst er sie alle gewann.
Man lese zum Beispiel den aus Vers und Prosa gemischten langen Brief an den Abbé de Chaulieu vom 15. Juli 1716, der mit dem kleinen Vers beginnt:
A vous, l'Anacréon du Temple;
A vous, le sage si vanté
Qui nous prêchez la volupté
Par vos vers et par votre exemple,
Vous dont le luth délicieux,
Quand la goutte au lit vous condamne,
Rend des sons aussi gracieux
Que quand vous chantez la tocane,
Assis à la table des dieux.
Dieser Brief, der drei große Druckseiten einnimmt und dessen Drittel aus Versen besteht, aus vor Abgang der Post hingekritzelten schönen, fließenden Versen, hat eine unvergleichlich einschmeichelnde Grazie, die um so bemerkenswerter ist, als er nicht für andere Augen berechnet war, als für die eines siebenundsiebzigjährigen, alten Mannes.
Man beachte auch in Voltaires Le Temple du Goût (fünfzehn Jahre später geschrieben) die Schelmerei, Feinheit und Sicherheit, mit der er die leichtsinnigen Meister seiner Jugend kennzeichnet.
So vorerst Chaulieu:
Je vis arriver en ce lieu
Le brillant abbé de Chaulieu
Qui chantait en sortant du table,
Il osait caresser le dieu
D'un air familier, mais aimable.
Sa vive imagination
Prodiguait, dans sa douce ivresse,
Des beautés sans correction.
Von Bussi heißt es nach einigen herabsetzenden Worten über den Vater:
Mais sons fils, son aimable fils
Dans le temple est toujours admis,
Lui qui, sans flatter, sans médire,
Toujours d'un aimable entretien,
Sans le croire, parle aussi bien
Que son pere croyait écrire.
Mit drolliger Nachlässigkeit ergeht er sich weiter höchst treffend über La Fare:
La Fare, avec plus de mollesse,
En baissant sa lyre d'un ton,
Chantait auprès de sa maîtresse
Quelques vers sans précision,
Que le plaisir et la paresse
Dictaient sans l'aide d'Apollon.
Man lese auch die scherzhaften, aber freundlichen Verse, mit denen Voltaire in seiner Epître à M. le duc de Sully (1720) dem alten gichtbrüchigen Chaulieu unmittelbar nach dessen Tode ein Denkmal setzt:
L'éternel abbé de Chaulieu
Paraîtra bientot devant Dieu,
Et si d'une muse féconde
Les vers aimables et polis
Sauvent une âme en l'autre monde,
Il ira droit en paradis.
Dieser ganze Kreis bestärkte den jungen Voltaire in seinem angeborenen Abscheu gegen alles Vernunftwidrige und in seiner Abneigung gegen die Askese, seiner Freude am Sichswohlseinlassen. Er teilte nicht von Natur aus den Hang dieser Clique zum Genuß. Die alten Herren, die sich ursprünglich in le Temple um den Prinzen von Vendôme gesammelt hatten, gehörten noch der Zeit an, da es guter Ton war, den hellen und sprudelnden Vin d'Aï zu trinken, bis man unter den Tisch rollte. Es erschien ihnen als keine Schande, jeden Abend betrunken zu Bett zu gehen. Sie zählten zu dem fröhlichen, leichtfertigen Gefolge des Weingottes, waren Bacchanten, Silene, Satyre.
Voltaire, der unter ihnen saß und von ihnen die Weihe im schäumenden Champagner empfing, die dem Geist und dem Übermut seines eigenen mutwilligen Jugendwesens entsprach, repräsentierte unter ihnen eine jüngere Generation, die ihre Inspiration nicht mehr im Wein suchte, nicht zum Wein Zuflucht nahm, um ihre Gedanken zu klären oder zu stärken. Sein Trunk war nicht der Wein, sondern der Kaffee, jener nüchterne Saft, der das Gehirn klarer macht, statt es zu umnebeln, der Kaffee, der nicht unbestimmte Träumereien erzeugt, sondern das Hellsehen, vor dessen Blick die Wahrheit funkelt.
Die Alten, die Altmodischen, sangen noch bei ihrem Wein. Mit ihm begann die feine Kunst des Gespräches, das Knistern der Einfälle, wie es zu jenem Zeitpunkt zum erstenmal in den neugegründeten Cafés hörbar wurde.
Die Cafés waren in England im Jahre 1669, in Frankreich im Jahre 1671 geöffnet worden, aber während sie auf britischem Boden niemals gediehen, gab es schon 1720 in Paris deren dreihundert und verhältnismäßig ebensoviele in den Provinzstädten. Das Café schlug das altmodische Wirtshaus, in dem man sich betrank und sich raufte, tot.
Beim Kaffee gedieh der Witz, der verstandesklare, und das Lachen, nicht das lärmende Wiehern des Halbbezechten, sondern der Ausdruck geistiger Überlegenheit, der traf, erschlug, ansteckte.
Man hat von Voltaire gesagt, daß er von fünfzig Tassen Kaffee täglich lebte und an diesen täglichen fünfzig Tassen Kaffee starb. Wahrscheinlich stammt das Wort aus der Lobrede, die Friedrich der Große nach Voltaires Tode auf ihn hielt und in der er davon spricht, welche Mühe der Dichter an seine letzte Tragödie wandte. »Er verbrachte ganze Nächte, sein Werk umzugießen, und geschah es nun, um nicht vom Schlaf überwältigt zu werden oder um seine Sinne zu beleben, genug, er machte einen unmäßigen Gebrauch von Kaffee. Fünfzig Tassen täglich genügten ihm kaum!«
Friedrichs Irrtum leitet sich aus dem nebensächlichen Umstand her, daß Voltaire, als er kurz vor seinem Tode der französischen Akademie den Plan zu einem Wörterbuch vortrug, fünfmal je zwei und eine halbe Tasse Kaffee trank.
Aber sicher ist, daß Kaffee das Getränk ist, das Voltaire symbolisiert; nicht Wein, noch weniger Bier.
Es läßt sich leicht vorstellen, was der brave und würdige Vater Arouet, ehemaliger Notar und gegenwärtiger hoher Beamter, zu diesem müßigen und planlosen Leben seines jüngeren Sohnes, zu dieser Gesellschaft von Poeten und Fürsten sagte. Statt sein Jus zu pflegen und seine Zukunft vorzubereiten, verließ der Ungeratene vormittags das Haus und kehrte nicht vor den Morgenstunden heim.
In allem und jedem betrug er sich wie der verlorene Sohn. An einer Anekdote, die als Ganzes unverläßlich ist, scheint so viel wahr zu sein, daß der junge Mensch, als er, unbestimmt wie, als Belohnung für eine literarische Arbeit einmal in den Besitz von hundert Louisdors gekommen war (in seinen Augen damals ein Vermögen) und auf seinem Weg durch die Rue Saint Denis bei einer Auktion eine Kutsche, zwei Pferde und einige Livreen feilbieten sah, das Ganze kaufte, Diener mietete, die er in die Livreen steckte, anspannen ließ, umherfuhr, sich in seiner Herrlichkeit allen seinen Freunden zeigte und einen seligen Tag verbrachte, bis der Kutscher den Wagen gegen Abend bei der Rue du Long-Pont umschmiß. Am nächsten Tage mußte er seine Lakaien verabschieden und Wagen und Pferde einem Lohnkutscher um die Hälfte der Summe verkaufen, die er tags zuvor für das Ganze gegeben hatte.
Eine andere, sicher vollständig glaubhafte Anekdote berichtet, wie sein Vater, erbittert über die Nachtschwärmerei des Sohnes, eines Tages befahl, die Haustüre des Abends zu sperren, und sich den Schlüssel überbringen ließ. Der junge Arouet kehrt um die Morgenstunde aus lustiger Gesellschaft heim und findet die Türe verschlossen und versperrt. Der Portier kann ihm keinen anderen und besseren Rat geben, als in einer Portechaise, die im Hofe steht, Unterkunft zu suchen. Er tut es, installiert sich, so gut es geht, auf den Wagenkissen und schlummert ein. Des Morgens kommen zwei ganz junge Ratsherren aus dem Parlament vorbei, bemerken den jungen Voltaire, den sie kennen, und lassen ihn spaßeshalber von zwei Trägern nach dem Café La Croix de Malte bringen, wo die schlechten Witze der Diener und der Gäste ihn wecken.
Es ist nicht zu wundern, daß der alte Herr zuletzt keinen anderen Ausweg sah, den Sohn all diesem Jugendleichtsinn zu entreißen, als indem er ihn aus Paris entfernte. Er bat denn den obengenannten Marquis von Châteauneuf, seinen alten Bekannten (Bruder des damals bereits verstorbenen Abbé), der eben im Begriffe stand, eine Sendung nach den Generalstaaten im Haag anzutreten, den Jüngling als Page oder als eine Art Attaché mitzunehmen. Schon zuvor hatte er versuchsweise seinen schwer zu behandelnden Sohn nach Caen in der Normandie geschickt, wo dessen Ruf als junger Poet ihm sogleich einen Weg in die beste Gesellschaft der Stadt bahnte. Nach mehrmonatigem Aufenthalt daselbst befand der Achtzehnjährige sich auf dem Wege nach dem Haag.
Hier wimmelte es von französischen Flüchtlingen, die, um den Religionsverfolgungen zu entgehen, als Huguenotten über die Grenze gezogen waren. Unter ihnen war eine Madame Dunoyer, welche mit ihren beiden Töchtern ihren Gatten verlassen, nachdem sie ihm durch ihre Torheiten seine Stellung vernichtet hatte – er war Kapitän in der Armee, Ratsherr, Ständedeputierter, zuletzt Großmeister über die dem Staate gehörigen Flüsse und Waldungen in Languedoc. Madame Dunoyer war, wiewohl nicht schön, darum nicht minder erotisch, die echte Abenteurerin, gescheit, unternehmend und frech. Sie hatte zuvor einige Zeit in England von Unterstützungen gelebt, die sie sich erbettelte; jetzt in Holland war sie bestrebt, ihren Unterhalt durch Herausgabe einer periodischen Flugschrift La Quintessence zu verdienen, die eine sogenannte Chronique über Paris und den Hof brachte, in welcher es allerdings kaum ein wahres Wort, dagegen aber allerlei amüsante Anekdoten, Getratsch und Skandälchen zu lesen gab. Ihre ältere Tochter hatte sie, noch blutjung, mit einem alten Manne verheiratet. Die jüngere, Olympe, genannt Pimpette, hatte sie noch bei sich.
Olympe hatte eine gescheiterte Verlobung hinter sich. Einer der Führer des Aufstandes in den Cevennes, Jean Cavalier, von dem Marschall von Villars besiegt, war bei seiner Ankunft in London glänzend empfangen und von Madame Dunoyer eingefangen worden. Als es sich zeigte, daß er nicht bloß mittellos, sondern tief verschuldet war, setzte sie ihn durch den Verkauf von Diamanten, die sie mitgenommen, als sie ihren Mann verließ, in den Stand, den Offizieren seines Regiments das ihm geliehene Geld zurückzuzahlen. Er verlobte sich mit Olympe und übergab der Mutter ein unterzeichnetes Ehegelöbnis. Nachdem aber die Verlobung zwei Jahre gedauert hatte, verschwand er eines schönen Tages nach England, wo ihn eine bessere Partie erwartete.
Der junge Arouet wurde bald nach seiner Ankunft im Haag in Madame Dunoyers recht offenem Hause eingeführt und verliebte sich hier zum ersten Male heftig. Olympe und er entflammten in derselben Stunde für einander, und sie ließ ihren jungen Anbeter nicht vergebens schmachten. Sie sahen einander täglich und fühlten sich beide sehr glücklich.
Die praktische Mutter, die sofort begriff, daß der neunzehnjährige Arouet, ohne Stellung und ohne Einkünfte, kein Gatte für ihre Pimpette sei und sie bloß kompromittieren sowie ihre spätere Eheschließung erschweren könnte, ging, sobald sie dem Einverständnis der beiden jungen Leute auf die Spur gekommen war, schnurstracks zu dem Gesandten und bat ihn, dem Tort, den die allzuhäufigen Besuche des jungen Pagen dem Rufe ihrer Tochter bereiten müßten, ein rasches Ende zu machen.
Der Marquis von Châteauneuf beschloß denn auch, die Sache allsogleich zu erledigen, teils weil er Skandalgeschichten in La Quintessence fürchtete, teils weil er besorgte, die Generalstaaten könnten in dem Eifer seines katholischen Pagen, eine Protestantin an sich zu fesseln, eine unbefugte Bekehrungssucht erblicken; dies um so mehr, als bekannt war, daß Herr Dunoyer es sich angelegen sein ließ, seine Tochter zur römischen Kirche zurückzubekehren.
Als der junge François Arouet am Abend desselben Tages heimkam, sagte man ihm, der Gesandte wünsche sogleich mit ihm zu sprechen, und er empfing, gänzlich unvorbereitet, die Donnerbotschaft, daß er ohne Aufschub nach Frankreich heimzureisen habe. Mit Mühe erwirkte er einen eintägigen Aufschub, jedoch nur unter der Bedingung, daß er keinen Fuß mehr aus dem Hause setze.
Trotz des Schreckens faßte sein fruchtbares Hirn sogleich den Entschluß, nicht nachzugeben. Die ganze Nacht grübelte er über einen Plan und fand keinen besseren als den, Pimpette schriftlich eine Entführung und gemeinsame Flucht zu Herrn Dunoyer in Frankreich vorzuschlagen. Vor allem aber galt es, sich für die den Liebenden übrigbleibende kurze Zeit die Möglichkeit zu einem Briefwechsel zu sichern.
Durch einen merkwürdigen Zufall besitzen wir noch vierzehn der Briefe, die der junge Arouet an Olympe Dunoyer schrieb – vielleicht alle, die er überhaupt schrieb –, und zwar trotz der in diesen Briefen enthaltenen inständigen Aufforderung, sie zu verbrennen. Dies erklärt sich so, daß Olympes rührige und unverzagte Mutter, nachdem sie alles getan, was in ihrer Macht stand, um die Verbindung zwischen den beiden jungen Leuten aufzulösen, und nachdem sie die Briefe in ihre Gewalt bekommen hatte, aus ihnen Nutzen zu ziehen beschloß und sie im Jahre 1720, also sieben Jahre danach, in dem fünften Bande ihrer Sammlung Lettres historiques et galantes herausgab, bloß mit Hinweglassung der Ausdrücke, die der junge Voltaire in seiner Erbitterung und Verachtung über ihre eigene Person gebrauchte. Wenn man bedenkt, daß der Ausgangspunkt dieser ganzen Härte in der Behandlung des kaum neunzehnjährigen Jünglings die Unruhe war, die der Gesandte vor der giftigen Feder dieser Mutter empfand, von der er einen die französische Ambassade kompromittierenden Skandal befürchtete, so muß zugegeben werden, daß sie jede Besorgnis in dieser Beziehung tatsächlich vollauf gerechtfertigt hat.
Es ist ein Glück, daß diese Briefe uns erhalten blieben. Hier, und hier allein, lernen wir den jungen Voltaire als Liebenden kennen, und überdies als so jung und naiv in seiner Liebe, daß er nicht den geringsten Zweifel an der zeitlebens dauernden Kraft dieser Liebe hegt. Was überdies rührt, ist, daß das junge Weib, zu dem er sich mit solcher Leidenschaft hingezogen fühlt, ebenso verliebt wie er und ebenso verzweifelt ob der Trennung ist, die ihnen droht. Was bedeutet es uns, daß diese junge Leidenschaft ein erzwungenes Getrenntsein nicht zu überleben vermochte!
Diese Briefe sind um so interessanter, als sie die einzigen uns erhaltenen Liebesbriefe Voltaires sind. Madame du Châtelet hatte seinerzeit nicht weniger als acht Quartbände mit Briefen Voltaires an sie aufgestellt. Nach Mitteilungen des Abbé de Voisenon ( Œuvres IV, 181) kann nicht leicht ein Zweifel herrschen, daß Saint-Lambert in posthumer Eifersucht diese Briefe nach ihrem Tode verbrannt hat – so wie er später die Briefe Jean Jacques Rousseaus verbrannte.
Wir können verfolgen, wie es 1713 in jener ersten Nacht der Unglücksbotschaft in dem Hirn des jungen Liebhabers siedet. Er muß und will drei Empfehlungsbriefe von Olympe haben, einen an ihren Vater, einen an ihren Onkel, einen an ihre verheiratete Schwester; besonders der an die Schwester ist unbedingt notwendig. Überbringer dieser Briefe solle der Schuhmacher des Hauses sein und er müsse einen Leisten in der Hand haben, um sein Kommen zu erklären, als gälte es eine Reparatur an den Schuhen des jungen Menschen. Außerdem müsse der Mann ihm ein Billet von ihr bringen und schließlich ihr Porträt; sie müsse ihre Mutter bewegen, dieses zu verabfolgen; es sei in seinen Händen besser aufgehoben als in denen der feindlich gesinnten Mutter. Der Diener, den er ihr sende, sei ihm unbedingt ergeben; er werde sich ihrer Mutter gegenüber, um eingelassen zu werden, für einen Fabrikanten von Tabaksdosen ausgeben; er sei aus der Normandie und werde seine Rolle vorzüglich spielen. Als François ihr nun notgedrungen Lebewohl sagt, schwört er ihr zugleich all die Zärtlichkeit, die sie verdient. Er weiß wohl, daß selbst die wenigsttreuen Liebhaber so sprechen; aber deren Liebe ist eben nicht wie die seine auf eine vollkommene Achtung gegründet ...
»Nochmals lebe wohl, meine teure Geliebte! Denken Sie ein wenig an Ihren unglücklichen Liebsten, aber denken Sie nicht so, daß Sie traurig werden; erhalten Sie Ihre Gesundheit, wenn Sie meine erhalten wollen. Seien Sie besonders sehr vorsichtig, verbrennen Sie meine Briefe und alle die Briefe, die Sie künftighin von mir empfangen werden; es ist besser, weniger Zärtlichkeit für mich und mehr Fürsorge für sich selbst zu haben. Trösten wir uns mit der Hoffnung auf baldiges Wiedersehen und lieben wir einander das ganze Leben lang!«
Die Reise wird ein wenig hinausgeschoben; man hat nicht sofort einen passenden Begleiter und eine passende Aufsicht für den jungen Menschen; aber er ist in der Gesandtschaft Gefangener im Namen des Königs. Am nächsten Tag will er versuchen, sie zu sehen. Man kann ihm das Leben rauben, nicht aber die Liebe, die er für sie empfindet. »Ja, meine anbetenswerte Geliebte, ich will Sie heute abend sehen, sollte ich auch mein Haupt auf den Block legen.« Er will sich incognito aus dem Hause schleichen, er will einen Wagen nehmen, er will sie treffen, wenn der Mond scheint, und wie ein Sturmwind wollen sie nach Scheveling (Scheveningen) fahren.
Es wurde nichts daraus. Beide Teile waren allzu sorgfältig bewacht. Aber am nächsten Tage ein neuer Plan: Er wird um Mitternacht aus seinem Fenster steigen; sie möge gleichzeitig unter dem Vorwand eines natürlichen Dranges zur Einsamkeit ihrer Mutter Bett verlassen (die Unglückliche schlief im selben Bett mit der Mutter) und selbst das Stelldichein bestimmen. – Auch daraus wurde nichts.
Aber tags darauf hat er abermals einen neuen und noch besseren Plan geschmiedet. Sie soll ihm um drei Uhr Lisette schicken. Er wird bis dahin ein Paket vorbereitet haben, das einen Männeranzug enthält. Wenn sie dann einem armen Gefangenen, der sie anbetet, die Gnade gewähren will, sie sehen zu dürfen, so wird sie in der Dämmerung nach dem Botschaftspalais kommen und er darf hoffen, sie in seiner kleinen Wohnung zu empfangen. Das Glück, ihr Sklave zu sein, wird ihn dann seine Gefangenschaft vergessen machen. Und er hat an alles gedacht; da man seine Kleider kennt, dürfen diese nicht zu sehen sein, und er legt einen Mantel bei, unter dem sie seinen enganschließenden Rock und ihr Gesicht verbergen kann. Sie soll allen mißtrauen, auch ihrer Mutter, ja sich selbst; aber auf ihn soll sie sich verlassen ohne das geringste Wanken und Schwanken; er wird sie aus dem Abgrund emporziehen, in dem sie sich befindet usw.
Diesmal gelang der Plan, und in dem nächsten Brief stürmt ein Jubel, ein Entzücken, ein Mutwille, wie in einem Shakespeare'schen Lustspiel nach einer Begegnung der beiden Liebenden. Sie beide vergessen die Gefahren und die bevorstehende Trennung über dem Glück, nach Herzenslust und in tiefster Heimlichkeit einander küssen und herzen zu können.
»Ich weiß nicht, ob ich Sie Monsieur oder Mademoiselle nennen soll; sind Sie entzückend in Frauentracht, so sind Sie meiner Treu ein höchst liebenswürdiger Kavalier, und unser Portier, der nicht in Sie verliebt ist, hat gefunden, Sie seien ein reizender Junge. Wenn Sie nächstes Mal wiederkommen, wird er Ihnen einen ausgezeichneten Empfang bereiten. Sie hatten übrigens eine ebenso schreckeneinflößende wie liebenswürdige Miene aufgesetzt, und ich fürchte beinahe, Sie haben auf der Straße Ihren Degen gezogen, um es zu einem richtigen jungen Mann an nichts fehlen zu lassen.« Das erinnert an die verkleidete Viola im Twelfthnight. Und in der Freude schlägt der glückliche Liebhaber in halb mythologische Verse über, nach damaliger Sitte:
Enfin je vous ai vu, charmant objet que j'aime,
En cavalier déguisé dans ce jour;
J'ai cru voir Vénus elle-même
Sous la figure de l'Amour.
L'Amour et vous, vous êtes du même âge,
Et sa mère a moins de beauté;
Mais malgré ce double avantage
J'ai reconnu bientot la vérité.
Olympe, vous êtes trop sage
Pour être une divinité.
Und er sagt viel Schlimmes über Götter und Göttinnen, bloß um zu zeigen, wie hoch sie über ihnen steht.
An diesem Abend will er aus dem Fenster springen und sich in der Dämmerung an dem verabredeten Ort einfinden. Sein Diener wird um vier Uhr kommen und seine Kleider holen. »Erwarten Sie mich um fünf Uhr unten. Bin ich nicht da, so bin ich absolut verhindert zu kommen.«
Aber nein, er überwand alle Hindernisse, er kam und sie sahen einander noch einmal.
Der Brief vom nächsten Tage enthält jedoch die bittere Vermutung, daß man dem vortägigen Zusammentreffen auf die Spur gekommen sei. Herr de La Bruyère ist bei ihrer Mutter gewesen und hat aus der Schule geplappert. Und nun ist es ihm aus Besorgnis um ihren Ruf unmöglich, sie noch vor der Abreise zu sehen. Es bleibt ihnen nichts mehr als ihr Briefwechsel. Er wird unter einer Deckadresse mit jeder Post an sie schreiben; seine eigene Adresse ist: A Mr. Arouet, le cadet, chez M. Arouet, Trésorier de la chambre des comptes, cour du Palais, à Paris. Und es folgt eine Reihe von Ratschlägen, wie sie ihre Megäre von Mutter behandeln solle: sie zu besänftigen versuchen, niemals seinen Namen nennen, sie in Ruhe wiegen, bis der Tag der Befreiung komme: »Meine teure Pimpette, folge ein einziges Mal meinem Rat und entschädige dich dafür für den ganzen Rest meines Lebens, ich gelobe, dir stets zu gehorchen.«
Aber noch ist nicht jede Hoffnung zu Ende. François Arouet ist falsch unterrichtet worden. Das erfahren wir aus dem einzigen Brief seiner Freundin, der uns erhalten geblieben ist:
In der Ungewißheit, in der ich schwebe, ob ich das Vergnügen haben werde dich heute abend zu sehen, teile ich dir mit, daß es nicht Herr de La Bruyère gewesen, der gestern bei uns war. Es war ein Irrtum der Schuhmacherfrau, die uns höchst ungelegen und ohne Grund alarmierte. Meine Mutter weiß nicht, daß ich mit dir gesprochen habe, und glaubt – dem Himmel sei Dank! – du seist schon abgereist. Ich will nicht von meiner Gesundheit mit dir sprechen; die bekümmert mich am wenigsten, und ich denke viel zu viel an dich, um Zeit zu haben, an mich selbst zu denken. Ich versichere dir, mein liebes Herz, zweifelte ich an deiner Zärtlichkeit, so würde ich mich freuen, krank zu sein, ja mein liebes Kind, das Leben wäre mir eine Last, wenn ich nicht die süße Hoffnung hätte, von dem geliebt zu werden, der mir das Teuerste auf der Welt ist.
Tu, was du kannst, daß ich dich heute abend sehen kann. Du brauchst bloß in die Küche des Schuhmachers hinabzugehen und ich bürge dir dafür, daß du nichts zu fürchten hast; denn unsere Quintessenz-Fabrikantin glaubt dich ja schon auf halbem Weg nach Paris. Wenn du also willst, habe ich das Vergnügen, dich heute Abend zu sehen; und sollte es sich nicht machen lassen, so erlaube mir, in das Gesandtschaftshotel zur Messe zu gehen. Ich will dann Herrn de La Bruyère bitten, mir die Kapelle zu zeigen; Neugierde ist den Frauen erlaubt. Und dann will ich ihn ganz unbefangen fragen, ob man noch nichts von dir gehört habe und wann du abgereist seist. Verweigere mir diese Gnade nicht, mein teurer Arouet; ich bitte dich darum im Namen der höchsten Zärtlichkeit, also im Namen der Liebe, die ich für dich empfinde. Lebe wohl, liebenswürdiges Kind! ich bete dich an, und ich schwöre dir, daß meine Liebe so lange dauern wird wie mein Leben.
Dunoyer.
Wie man sieht, spricht Olympe, als sei sie die ältere von den beiden, was jedoch nicht der Fall war, und ihre Äußerungen zeugen für ihre kühne Entschlossenheit und aufrichtige Verliebtheit.
Es finden sich noch eine Reihe an Pimpette gerichtete, heiße Briefe von der Reise und aus Paris vor und wir können die zahlreichen Schritte verfolgen, die der junge Voltaire in Paris unternahm, um es Olympe zu ermöglichen, ihre Mutter zu verlassen und sich mit ihrem Vater zu vereinigen. Aber wie wenig vermag ein junger abhängiger Mensch von neunzehn Jahren! Und wie wenig vermochte er unter der damaligen väterlichen Autorität und unter den Rechtszuständen dieser Zeit!
Kaum in Paris angekommen, erfuhr der junge François, daß vor ihm ein Brief des Marquis von Châteauneuf eingetroffen sei, in einem so aufgebrachten Ton geschrieben, »als handle es sich um einen Verbrecher«. François' Vater, für den dies der Tropfen war, der den Becher zum Überlaufen brachte, erwirkte eine Verhaftungsorder (lettre de cachet) gegen den Sohn. Er mußte sich einen Schlupfwinkel suchen, bis es seinen Freunden gelang, den ersten Ansturm des väterlichen Zornes zu stillen. Er schreibt an Olympe, daß der Vater ihn zuerst nach den Inseln (den Antillen) schicken wolle, dann allerdings seinen Entschluß ändere; daß es den Freunden aber unmöglich sei, den Wütenden von dem Vorsatz abzubringen, seinen Sohn zu enterben. Für Olympe jedoch bleibe nur eines zu tun: abzureisen, sobald sie den Befehl ihres Vaters empfinge: »Sie lieben mich, meine teure Olympe, und Sie wissen, wie innig ich Sie liebe; sicherlich verdient meine Liebe Gegenliebe ... Wenn Sie unmenschlich genug wären, mich die Frucht all meiner Mißgeschicke einbüßen zu lassen, indem Sie hartnäckig in Holland bleiben, so verspreche ich Ihnen, bei der ersten Botschaft hiervon meinem Leben unweigerlich ein Ende zu machen.«
Der strenge Vater machte kurzen Prozeß und brachte seinen poetischen und verliebten Sohn ohne weiteres in dem Bureau eines Rechtsanwalts unter. Maître Alains Bureau befand sich in der Rue Pavée-Saint-Bernard nahe dem Place Maubert. Unterdessen unterschlug der alte Arouet die Briefe Olympes, die erboste Mutter im Haag die von François. Die beiden jungen Leute wechselten noch durch einige Monate beständig ihre Deckadressen. Dann endete von Seiten des jungen Mädchens die große Passion mit einem Knall. Sie verliebte sich in einen blutjungen, erst siebzehnjährigen Franzosen im Haag, Guyot de Merville, der volle zwanzig Jahre später in rückwirkender Eifersucht einer von Voltaires heftigsten Angreifern wurde.
Merville war indessen ebensowenig als künftiger Ehemann annehmbar wie Arouet; Madame Dunoyer legte sich nun kräftig ins Zeug, um eine Heirat und Versorgung ihrer Tochter in die Wege zu leiten. Es gelang ihr auch binnen kurzer Zeit, eine Ehe zustande zu bringen, die Olympe zur Gräfin Winterfeld machte. Da aber nur der Mutter Ehrgeiz, nicht der Tochter Herz einen Anteil an dieser Verbindung hatte, verließ die junge Gräfin bald ihren Mann und kehrte, da sie keine andere Zufluchtsstätte hatte, zu ihrer Mutter zurück. Die Mutter starb kurz darauf (1719), worauf Gräfin Winterfeld Holland verließ und ihre Verwandten in Frankreich aufsuchte.
Voltaire war so weit davon entfernt, seiner treulosen Jugendgeliebten irgendwelchen Groll nachzutragen, daß er schon 1721, als er erfuhr, sie sei in Geldverlegenheiten, ihr in aller Stille heraushalf. Wo immer er ihrer später in seinen Briefen erwähnt, geschieht es immer mit Achtung und Wärme.
Ihre Lebensbedingungen besserten sich. Ihr Vater hinterließ ihr zwar nur Schulden, aber ihr Onkel war sehr reich, und als er starb, erbte sie sein schönes Haus im Faubourg St. Antoine und kaufte sich überdies ein Landgut.
Im Supplement zum Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten schreibt Voltaire, anläßlich der Verleumdungen La Beaumelles, über sie: »Sie genießt eine Pension vom König und lebt gewöhnlich auf ihrem Landgut, wo sie für die Armen der Umgegend Sorge trägt. Ihr Alter, ihr verdienstvolles Leben, ihre Tugenden, die angesehene und zahlreiche Familie, der sie angehört, die Personen hohen Ranges, mit denen sie verwandt ist, sollten sie vor der unverschämten Verleumdung eines törichten Verbrechers schützen.«
Zum letztenmal kommt ihr Name bei Voltaire in Briefen aus Cirey vom 16. und 30. Juli 1736 vor, in denen er seinen Vertrauten, den Abbé Moussinot, bittet, einen kleinen Schreibtisch mit Schirm zu kaufen und in seinem Namen zu Madame de Winterfeld, Rue Platrière, nahe von St. Agnes' Nonnen, bringen zu lassen.
So suchte der zweiundvierzigjährige Mann durch eine kleine Aufmerksamkeit sich in die Erinnerung der Dame zurückzurufen, die er als feuriger achtzehnjähriger Jüngling geliebt und angebetet hatte.
Vermutlich ist der Aufenthalt in einem Rechtsanwaltsbureau, so langweilig er für den jungen Poeten war, keine verlorene Zeit für ihn gewesen. Er lernte hier mit seinem guten Kopf ohne sonderliche Anstrengung eine Menge juridische Methoden, auch juristische Kunststücke und Kniffe kennen, deren Unkenntnis für den künftigen Geschäftsmann abträglich gewesen wäre. Wenn er sich später mit solcher Schnelligkeit und Sicherheit ein sehr bedeutendes Vermögen erwarb und es stetig vermehrte, so verdankte er dies wohl dieser so frühzeitig erworbenen Vertrautheit mit jeder Art juridischer Praxis.
In dem Bureau des Rechtsanwalts hatte er einen jungen Mann als Genossen, mit dem er das ganze Leben hindurch, bis zu dessen Tode 1772, in dauernder Verbindung blieb. Der Name des jungen Menschen war Nicolas Claude Thiériot (ein Name, der von Voltaire stets Thiriot geschrieben wird), und er blieb Voltaires intimster und vertrautester Freund; in vielen Jugendverhältnissen sein erprobter Helfer. Er mag wohl etwas Liebenswürdiges und Vertraueneinflößendes an sich gehabt haben. Gewiß ist, daß er sich für uns Späterlebende anders ausnimmt. Er verstand es wie wenige, seine Freundschaft mit dem berühmten Manne auszunutzen. Voltaires Briefe an ihn erstreckten sich von 1721 bis 1772, und in dieser ganzen Zeit hat er sich als träge, unzuverlässig, unredlich, als Verräter, ja sogar als Betrüger erwiesen und sich für jeden Dienst auf mannigfache Art bezahlt gemacht. Noch 1769, fünfundfünfzig Jahre nach Beginn ihrer Bekanntschaft, wandte er sich an Voltaire mit der inständigen Bitte um pekuniäre Unterstützung. Der Nachwelt ist sein Name allerdings unauflöslich mit dem des berühmten Freundes verknüpft.
In diese Zeit fällt Voltaires erste Berührung mit dem Theater und mit Bühnenmenschen. Er hatte den frühesten Entwurf zu seiner Tragödie Œdipe geschrieben, einer für einen so jungen Dichter höchst merkwürdigen Arbeit, und es handelte sich für ihn darum, das Stück am Théâtre Français angenommen zu sehen. Der Weg hierzu war in erster Reihe der, sich bei den Schauspielern und Schauspielerinnen des Theaters einzuschmeicheln, von welchen die letzteren die stärkere Anziehungskraft ausübten und wohl auch in der Regel den größeren Einfluß besaßen. Da er aber mit seiner Kenntnis der altgriechischen Tragödie und aus einer gesunden dichterischen und kritischen Abneigung, in den antiken Stoff eine moderne Verliebtheit einzulegen, sich bestrebt hatte, das Thema ohne Hineinmengung von Erotik zu seinem Recht kommen zu lassen, wurde sein Stück von den Schauspielern abgelehnt, die sich nicht darein finden wollten, daß man einem feststehenden Herkommen trotzte.
Sein Versuch, die eine der jungen Primadonnen des Theaters, Mademoiselle Duclos, für sich zu gewinnen, scheiterte vollständig; sie zog den Grafen von Uzès ihm vor, und es blieb ihm kein anderer Ausweg übrig, als nach Brauch des achtzehnten Jahrhunderts diese Niederlage leicht zu nehmen und in dem frivolen und anzüglichen Ton der damaligen Zeit darüber zu scherzen.
In seiner Epistel an Madame Montbran-Villafranche aus dem Jahre 1714 heißt es:
Nous semons pour autrui. J'ose bien vous le dire,
Mon cœur de la Duclos fut quelque temps charmé;
L'amour en sa faveur avait monté ma lyre;
Je chantais la Duclos; d'Uzès en fut aimé;
C'était bien la peine d'écrire.
In seinem Briefe vom Juli 1715 heißt es dreister: »Da ich schon von Theaterdamen spreche, muß ich berichten, daß die Duclos fast nicht mehr spielt, daß sie jeden Morgen einige Prisen Senf und Zimt, jeden Abend mehrere Prisen Graf d'Uzès nimmt.« Seiner Gewohnheit nach konnte er es nicht unterlassen, eine boshafte Anspielung auf den bedenklichen Gesundheitszustand der schönen Dame zu machen. Es geschah mit nicht geringem Witz in folgendem Couplet:
Belle Duclos,
Vous charmez toute la nature!
Belle Duclos,
Vous avez les dieux pour rivaux;
Et Mars tendrait l'aventure,
S'il ne craignait le dieu Mercure,
Belle Duclos.
Die schöne und edle Adrienne Lecouvreur löste die Duclos als Gegenstand seiner Verehrung ab und wurde ihm, wie schon berührt, für kurze Zeit mehr als eine Freundin.
Ihr widmete er dann die älteste seiner Contes en vers, die zuerst der Duclos gehören sollte, l'Anti-Giton, eine speziell gegen einen bestimmten vornehmen Herrn, Marquis de Courcillon, gerichtete Satire auf die Homosexuellen. Diese bildeten später eine recht einflußreiche Hofgruppe, ebenso wie um das Jahr 1900 in Deutschland. Der Lecouvreur widmete er auch seine 29. Epistel, die sie als Schauspielerin verherrlicht; er läßt Melpomene ihr Geschmack, Empfindung, Pathos und Feinheit mitteilen, Venus ihr die Gabe, zu gefallen, schenken, Amor aber sie der Fähigkeit, zu lieben, teilhaftig werden, und mit dieser Fähigkeit erst wird sie als Künstlerin vollkommen. An sie richtete er ferner 1719 das kleine Gedicht, ein Lebewohl, das eine Andeutung auf ihre Leidenschaft für einen anderen zu enthalten scheint, und dies auf eine Art, die Voltaire und ihr gleichviel Ehre macht:
Faites le bien d'un seul et le désir de tous;
Et puissent vos amours égaler la durée
De la pure amitié que mon cœur a pour vous!
Endlich schrieb er 1730 das ergreifende Gedicht La Mort de Mlle Lecouvreur, in welchem er seinen tiefen Groll über französisches Vorurteil und französische Roheit äußert, wie sie in der Verweigerung eines Grabes für die große Künstlerin zum Ausdruck kamen.
Außer der Ablehnung von Seiten des Théâtre Français und der Schauspielerin Duclos empfing der Zwanzigjährige an dritter Stelle eine Abweisung, und zwar eine, die ihm nahe ging. Es war die französische Akademie, die ihm zum ersten, nicht letzten, Male eine Niederlage zufügte.
L'Académie Française hatte im Jahre 1712 als Prämienaufgabe für lyrische Poesie eine Ode auf die Aufführung des Chors in der Pariser Notre Dame-Kirche ausgeschrieben, ein von Ludwig dem Dreizehnten gegebenes und von Ludwig dem Vierzehnten eingelöstes Versprechen. Man kann diese Aufgabe nicht eben verlockend nennen; sie erforderte eine Verherrlichung der Gottesfurcht des Königs; poetischen Anreiz besaß sie also nicht. Und man kann gewiß nicht behaupten, daß dem jungen Arouet, den sein Ehrgeiz bewog, um den Preis zu kämpfen, dieses Thema lag.
Er hatte zuvor eine einzige Ode auf Französisch geschrieben. Es war, da er als Fünfzehnjähriger die Aufgabe löste, eine lateinische Hymne seines verhaßten Lehrers Vater Lejay an die heilige Geneviève in französische Verse zu übersetzen. Seltsam genug, hat er später diese kleine Arbeit verleugnen wollen, die doch seiner Verskunst alle Ehre macht. Die Ode, die er nun zu Ehren der beiden Ludwige über den Chor in Notre Dame schrieb, ist in demselben hochfliegenden Stil, den Jean Baptiste Rousseau in seinen nicht minder kalten und pompösen religiösen Hymnen eingeführt hatte.
Durch ihren Schwung wie durch den Klang und Fall der Rhythmen greift diese letzte Ode dem Stil und Flug in Victor Hugos ersten frommen Odes et Ballades vor, nur daß bei Voltaire im Geist des achtzehnten Jahrhunderts die bösen Allegorien, die auch in der Skulptur des Jahrhunderts langweilen – Allegorien wie Friede, Frömmigkeit, Glaube, Bosheit, Frechheit und Aufruhr –, der Darstellung, wie melodisch sie auch ist, ans Leben gehen.
Man kann dessenungeachtet ohne Übertreibung sagen, daß diese Ode eines Achtzehnjährigen so gut ist, wie in jener Zeit Oden überhaupt gemacht wurden. Sie entspricht dem, was in Goethes Leben das Gedicht Gedanken über Jesu Christi Höllenfahrt bedeutet.
Es vergingen zwei volle Jahre, ehe das Urteil fiel. Und im Jahre 1714 erfuhr der junge Dichter, daß die Prämie von dem bekannten Akademiker Herrn de la Motte-Houdart an den alten Abbé Dujarry vergeben worden war, dessen Verse sicherlich denen Arouets nicht das Wasser reichten. Sie waren prosaisch platt und wurden, wo sie sich zu höherem Flug erheben wollten, lächerlich, wie da, wo der Abbé, dessen Fach die Geographie offenbar nicht gewesen ist, behauptet, daß der Südpol so glühend, wie der Nordpol kalt sei:
Poles glacés, brûlants, où sa gloire connue
Jusqu'aux bornes du monde est chez vous parvenue.
Wiewohl Voltaire in scherzhaftem Ton von seiner Niederlage sprach und nicht einräumen wollte, daß er sie sich nahegehen ließ, liegt der unwiderlegliche Beweis hierfür in seiner ältesten aufgeregten und übertriebenen Satire Le Bourbier vor, in der er seinen Richter La Motte mit einer Wut durchhechelt, die er später anläßlich dessen würdigen und nachsichtigen Auftretens ihm gegenüber zu bereuen Anlaß bekam. Die höhnische Erbitterung in dieser Satire gleicht der Byrons in den fast ein Jahrhundert später (1809) geschriebenen English bards and scotch reviewers, die ebenso weit über das Ziel schoß und über die gleichfalls die Angegriffenen später nachsichtig hinweggingen.
Die paar Verserzählungen, die Arouet in diesen ersten Jünglingsjahren (1714-16) schrieb, die genannte L'Anti-Giton, ferner Le Cadenas und Le Cocuage, sind nach unseren heutigen Begriffen stark anstößig, schon durch die Beschaffenheit ihrer Vorwürfe. Ebenso wird der leichtfertige, nachlässige Weltton heutzutage viele Leser abstoßen. Nach den Begriffen der damaligen Zeit jedoch ging der Scherz darin nicht über das erlaubte Maß hinaus. Diese Erzählungen entsprechen ganz genau den Gedichten, die der achtzehnjährige Goethe etwas über fünfzig Jahre später in der Sammlung Annette schrieb. Nur daß Voltaires Gedichte unanständige Dinge in der anständigsten Sprache behandeln, während die Goethes, offener sensuell und auf mehr doktrinäre Weise die Leichtfertigkeit als Regel oder Pflicht verkünden. Aber fanden diese Gedichte auch vor den Augen der leichtlebigen guten Gesellschaft Gnade, so ist es nur natürlich, daß sie Vater Arouet noch ungünstiger einem Sohne gegenüber stimmten, den er allmählich als entschieden entartet betrachten zu müssen meinte.
Unter diesen Umständen fand sich glücklicherweise ein Beschützer für das junge Genie. Es war der obengenannte ausgezeichnete und hochbegabte Louis Urbain de Caumartin, der sich von dem Vater die Erlaubnis erbat, den Jüngling nach seinem in der Nähe von Fontainebleau gelegenen Schlosse Sainte-Ange zu entführen. Hier bewegte sich François in der besten Gesellschaft jener Zeit und hier schrieb er einige seiner ersten, kühnen Episteln in Versen, in denen er Frankreichs vornehmste Männer nonchalant als seine Kameraden behandelt, ihnen zugleich schmeichelt und die unglaublichsten Dinge ins Gesicht sagt, obwohl sie ein halbes Jahrhundert älter waren als er. So stammt aus Sainte-Ange die Epistel an den Prinzen von Vendôme, in der er schildert, wie der galante König Franz der Erste, der sich seinerzeit in diesem Garten mit Diane de Poitiers oder mit la belle Ferronière unterhielt, sich ihm offenbart hat, mit Lorbeer und Myrthe und ohne andere Krone als die, welche eine von der Venus stammende Krankheit verleiht:
Quelque lauriers sur sa personne,
Deux brins de myrte dans ses mains
Etaient ses atours les plus vains,
Et de vérole quelques grains
Composaient toute sa couronne.
Was hier überrascht, ist die Schilderung, die der junge Arouet Franz den Ersten von dem Großprior von Vendôme entwerfen läßt: wie der König diesen ausnahmslos in allen Punkten auf das Gemeinsame zwischen ihnen aufmerksam macht: Liebe zu den schönen Künsten, Abscheu vor Bigotterie, Zuverlässigkeit auf jedem Gebiet außer auf dem erotischen, und endlich die Krankheit, von der er nur hofft, daß sie dem Prinzen nicht den Tod bringe, wie sie es bei ihm getan, sondern einigen Unzen Quecksilber weichen werde:
Il aime comme moi les arts
Et les beaux vers par préférence;
Il sait de la dévote engeance
Comme moi faire peu de cas;
Hors en amour, en tous les cas
Il tient, comme moi, sa parole;
Mais enfin, ce qu'il ne sait pas,
Il a, comme moi, la vérole.
Die jungen Herzöge von Sully hatten, wie erwähnt, einen Oheim, Abbé Servien, der zu den Veteranen des epikuräischen Kreises gehörte und augenscheinlich seiner Lebenslust, Grazie, Freisinnigkeit und Freidenkerei wegen von Voltaire aufrichtig bewundert wurde, ohne daß der junge Mann sich von den zu Lastern gewordenen, heftigen und mitunter unnatürlichen Leidenschaften des Alten abgestoßen fühlte. Servien hatte einen gewissen Trotz bekundet, indem er in der Oper, in der er, Hände und Nase in seinen Muff vergraben, ständiger Gast war, bei einem Prolog zu Ehren des alten Ludwig des Vierzehnten laut gegen die allzu widerliche Schmeichelei protestiert hatte. Die Folge war eine lettre de cachet, die ihn aus Paris verwies. Wieder in den Besitz seiner Freiheit gelangt, traf ihn bald abermals eine lettre de cachet und sandte ihn diesmal nach dem Gefängnis zu Vincennes, wo man ihn zwanzig Monate sitzen ließ. Die Ursache ist unbekannt, war aber zweifellos irgendeine garstige geschlechtliche Ausschweifung. Er wurde erst auf freien Fuß gesetzt, als nach dem Tode des Königs der Regent die Regierung übernahm und dem jungen Herzog von Sully, der ihm seine Huldigung zu überbringen kam, sogleich zurief: »Ich habe nicht den Abbé vergessen.«
Es gibt aus dieser Zeit zwei Voltairesche Gedichte an Servien. Die große Epistel tröstet ihn auf die reizendste Art über seine Einsperrung und empfiehlt ihm eine tapfere Lebensphilosophie: »Der Philosoph ist frei, sogar in Ketten.« Auffallend ist hier, daß der junge Dichter Fouquet zu rühmen wagt, die ihrer Unterschleife wegen gestürzte Finanzgröße; er betrachtete ihn damals noch als Märtyrer der unberechenbaren Launen der Alleinherrschaft. Das zweite Gedicht A M. l'abbé de ... worunter Serviens Namen zu verstehen ist, hat in der Überschrift den Zusatz: »der den Tod seiner Geliebten beweinte«.
Es enthält in einem leichtsatirischen und scherzhaften Ton den dem geistlichen Epikuräer mit dem dreifachen Kinn erteilten Rat, sich den Tod der Geliebten nicht so überaus zu Herzen zu nehmen, daß er selbst darüber in die Grube führe, und es bringt die nicht hochfliegende, aber ehrliche Lebensphilosophie der Anakreontiker zum Ausdruck:
Voilà comme on doit sans cesse
Faire tête au sort irrité;
Et la véritable sagesse
Est de savoir fuir la tristesse
Dans les bras de la volupté.
Dem Abbé wurde nicht viel Gelegenheit, diesen familiären Ratschlägen zu folgen: er starb im folgenden Jahre, 1716. Aber er war eine typische Figur unter diesen Stammgästen le Temple's, von denen so viele, von dem Großprior angefangen über Chaulieu bis zu dem Abbé von Servien Libertiner in den beiden damaligen Bedeutungen des Wortes waren, Wollüstlinge und Freidenker, aber geistliche Freidenker, die, weit entfernt, die Kirche abgeschafft zu wünschen, ihre Einkünfte von ihr bezogen, jeder seine kirchliche Sinekure hatte und, dem Zeitgeist folgend, dank der Religion, mit der sie bei jeder Gelegenheit ihren Spaß trieben, mit dem allerbesten Gewissen gar flott draufloslebten.
Man hat gesagt, daß le Temple schon vor der Regentschaft der Geist der Regentschaftszeit gewesen sei, indem Stil und Haltung des Regenten von dort ausgegangen wären. Dies würde jedoch eine allzu enge Auffassung der neuen Zeit bedeuten.
Ludwig der Vierzehnte starb am 1. September 1715. Dieser König, dessen Name gefeiert worden war wie kein zweiter französischer Name, übte am Schlusse seiner Regierungszeit nach allgemeiner Anschauung solch einen Druck auf das Land, daß man die Todesnachricht mit Jubel begrüßte und seine Beerdigung Anlaß zu anstößigen Szenen gab. Er hinterließ ein von den Pfaffen übel zugerichtetes, entkräftetes Reich mit einer Staatsschuld von 2000 Millionen und einer äußeren Politik, die zu Niederlagen, einer inneren, die zur Hilflosigkeit geführt hatte.
Der Regent, Philippe von Orléans, der (als Vormund des fünfjährigen Thronerben) ihm folgte, der Sohn von Monsieur, Ludwigs des Vierzehnten lasterhaftem Bruder, und der bayrischen Prinzessin Elisabeth Charlotte, war von Beginn an sehr befähigt, hatte in seiner frühesten Jugend während des Krieges in den Niederlanden ungewöhnlichen Mut an den Tag gelegt, während des spanischen Erbfolgekriegs den Oberbefehl in Italien, in den Jahren 1707 und 1708 das Kommando in Spanien gehabt, aber dieses verloren, als es den Anschein erhielt, daß er die spanische Krone für sich selbst erstrebte. Trotz der Übergehung im Testament Ludwigs des Vierzehnten wurde er vom Parlament als Regent mit der vollen königlichen Macht anerkannt.
Sollte aber Frankreich wieder auf die Beine geholfen werden, so bedurfte es von Grund aus einer Umwälzung, der die höheren Klassen sich mit allen Mitteln widersetzten und die das Volk, von Elend geschwächt und von den steuerfreien Ständen unterdrückt, nicht zu unterstützen vermochte.
Das erste, was notgetan hätte, war, die vertriebenen Protestanten zurückzurufen; sie waren arbeitsam, vernünftig, begütert, hätten einen Strom Goldes mit sich gebracht, und was, wie Michelet sagt, besser wäre: einen Strom jungen Blutes. Aber es erwies sich als unmöglich. Keiner aus der Umgebung des Regenten wollte als Beschützer der Ketzerei gelten und den allgemeinen Haß auf sich laden. Nicht einmal die von den Jesuiten verdrängten und von der früheren Regierung unterdrückten Jansenisten zeigten die geringste Sympathie für die Protestanten. Sogar ein so heller Kopf wie der Herzog von Saint-Simon, der sich dem Regenten nahe anschloß, hatte, mit konservativen und katholischen Vorurteilen gepanzert, wie er war, für die vertriebenen Huguenotten nichts anderes übrig als Verdammung.
Ebensowenig erwies irgendeine hinreichende Finanzreform sich als durchführbar. Schon Colbert hatte eine progressive Einkommensteuer (la taille proportionelle) vorgeschlagen. Der bloße Gedanke jedoch, Adel und Geistlichkeit zu besteuern, erschien so haarsträubend frech, daß sogar das unwissende Volk sich von den Privilegierten dagegen aufhetzen ließ.
Man beschloß dann in seiner Not, die früher gemachten Anleihen einer strengen Untersuchung zu unterziehen. Der Premierminister, Herzog von Noailles, errichtete eine Chambre de Justice. Diesem Richterstuhl eingebrachte Angebereien erwiesen, daß die Finanzmänner mit dem verstorbenen König Geschäfte gemacht hatten, wie Wucherer es mit jungen Herren aus guter Familie tun. Sie hatten ihm Summen zu vierhundert Prozenten geliehen; aber nicht genug damit, die Abrechnungen waren so schlecht geführt worden, daß es eine Menge von doppelten Posten, doppelten Rechnungen und Dokumenten gab; die Steuereinnehmer selbst enthielten dem Steueramt, unter dem Vorwand von Auslagen und dergleichen, ihre Gelder vor und spielten mit den eingetriebenen Steuern auf der Börse.
Die Forderung des Regenten, mindestens den Soldaten ihre Löhnung auszuzahlen, versprach man zu erfüllen, hielt jedoch nicht Wort und als die Regierung endlich die Geduld verlor und mit Tortur und Schafott drohte, zeigte es sich, daß eine Menge großer Herren und feiner Damen sich lebhaft für die Finanzpächter interessierten. Die Damen insbesondere zeigten sich eifrig, und der Regent mußte nachgeben.
Mehr Glück hatte eine große Revision (le grand visa) von Wertpapieren, zinsentragenden Papieren usw.; sie wurde von vier kühnen Geldmännern, den Brüdern Pâris, durchgeführt, deren Namen oft in der Geschichte jener Zeit, besonders häufig bei Voltaire, vorkommen.
Der alte Pâris hatte am Fuße der Alpen ein Wirtshaus A la Montagne gehabt, bei dessen Führung ihm seine vier kräftigen Söhne an die Hand gingen. Als im Jahre 1710 ein Proviantmeister einen raschen Übergang über die Alpen suchte, um dem Herzog von Vendôme nach Italien hinab Lebensmittel zu bringen, sagte ihm der Vater, seine Söhne kennten jeden Bergpaß und würden die Zufuhren an den Bestimmungsort befördern. So geschah es, und sie erhielten zum Lohn eine Anstellung bei der Verproviantierung. Da sie angeborenes Geschäftstalent hatten, tätig und einig waren und (wie hundert Jahre später die Brüder Rothschild) in Übereinstimmung nach einem gemeinsamen Plan handelten, hatten sie Erfolg.
Eine Zeitlang wurden sie von John Law vollständig verdrängt. Aber nach seinem Sturz kamen sie wieder empor. 1722 wurde der Älteste, der sich Pâris-Duverney nannte, zum königlichen Schatzmeister (garde du Trésor royal) ernannt. Er war ein hervorragender Bankmann. Da er jedoch unter dem Ministerium des Herzogs von Bourbon sein Schicksal an diesen und dessen Geliebte, Madame de Prie, knüpfte, fiel er samt seinen Brüdern mit dem Herzog in Ungnade. Sie gewannen im Jahre 1730 die königliche Gunst wieder. Der älteste Bruder wurde Gründer der Militärschule zu Paris und der jüngste, Pâris de Montmartel, Schatzmeister und Hofbankier und hierdurch ein so mächtiger Mann, daß er im nächsten Menschenalter die Finanzen des Königreichs ganz allein leitete und man ohne seine Zustimmung nicht einmal einen Finanzbeamten anstellen und absetzen konnte.
Aber wir haben dem Gang der Ereignisse stark vorgegriffen.
Es war den Brüdern zu jenem Zeitpunkt gelungen, die Staatsschuld auf die Hälfte zurückzuführen. Gleichzeitig hatte der grundverderbte, aber gewandte Abbé Dubois die Gefahr eines Krieges mit England glücklich abgewendet; Frankreich gab es auf, den Prätendenten zu stützen, und im November 1716 gingen Frankreich und England ein Bündnis ein, dem sich einen Monat später Holland anschloß. Dubois erstrebte und erhielt als Lohn den Kardinalshut.
Er ging gleichzeitig noch eine – bald weitbekannte – Allianz mit dem Schottländer John Law ein, dem Finanzgenie des Zeitalters, einer von der Hand der Natur überreich ausgestatteten Mischung von Zauberkünstler und Spieler. Er hatte das erfindsame Gehirn, das einfache und doch überraschende Auswege findet. Liebenswürdig, gewinnend, außergewöhnlich hübsch, von einer fast weiblichen Schönheit, glaubte er voll und ganz an sich selbst. Eine bloß achtzehnmonatige Regentschaftszeit hatte die Reformlust Philippe von Orléans' erschöpft und verbraucht; aber John Law besaß Willenskraft für sie beide.
Er schuf eine Bank, die von den Aktionären nur ein Viertel in Gold beanspruchte; für das übrige nahm sie das armselige Papiergeld, die billets d'Etat, an, das von der Ausgabe an nur ganz geringen Wert besessen hatte. Industrie und Handel begannen nun Hoffnung zu fassen. Die Scheine, die seine Bank ausstellte, erreichten einen festen Wert, waren nicht denselben vernichtenden Variationen ausgesetzt, wie das sonstige französische Geld. Und die Aktionäre selbst leiteten die Bank republikanisch. Es wurden in zwei Jahren nicht mehr als 50 Millionen Scheine ausgegeben.
Im August 1717 suchte der Staat direkte Hilfe bei dieser Bank, äußerte den Wunsch, sie zu übernehmen. Der Regent rief Law um Beistand an, träumte von Brandschatzungen, Zwangsausschreibungen, Beschlaglegungen, gleich denen, zu denen die österreichische Regierung gegriffen hatte, um ihre Staatsbank zu errichten. Law wollte von dergleichen nichts hören; er plante statt dessen, das neue Frankreich, Kanada, Louisiana auszunützen, und gründete La Compagnie d'Occident. Aber obwohl diese Gesellschaft mit einem nominellen Kapital von hundert Millionen geschaffen wurde, erhielt sie diese in so schlechten Staatspapieren ausbezahlt, daß sie nur fünfundzwanzig Millionen wert waren. Und nicht einmal diese fünfundzwanzig erhielt er, sondern eine jährliche Rente von vier Millionen, und diese bloß im ersten Jahr. Im zweiten sollten diese vier Millionen zwischen den Aktionären geteilt werden.
Es war an diesem Börsenpropheten, diesem »Ossian der Bank«, merkwürdig, daß er zuinnerst verläßlich und gesund war; er glaubte nicht an Geld oder Papiere; er wußte es zur Genüge und äußerte es beständig, daß der Reichtum eines Landes auf der Natur und dem Menschen, auf der Bevölkerung und deren Arbeit beruhe. Er wollte praktisch und langsam zu Werke gehen. Aber alle Maßnahmen, die er vorschlug und unternahm, zu deren Ausführung Zeit erforderlich war, wurden wegen der verzweifelten finanziellen Lage des Landes überstürzt. Er selbst wurde ausgeraubt, als die Mitglieder des Hauses Condé von dem Regenten geradezu schwindelnde Summen forderten und ausgezahlt erhielten. 1600 heimste das Haus Condé jährlich 12 000 Livres, 1700 schon 1 800 000 Livres ein, im Jahre 1718 erhielt es überdies ungeheure jährliche Pensionen.
Law wurde bei mehreren Anlässen geradezu verraten, so damals, als der Minister d'Argenson (der Vater der beiden Zeitgenossen Voltaires), der als Laws Freund auftrat und hierfür galt, zu dessen Feinden überging und sich mit einer Handelsgesellschaft verband, welche mit der Laws rivalisierte. D'Argenson machte nicht bloß als Minister auf eigene Faust Geschäfte, sondern übertrug unter dem Namen seines Kammerdieners Finanzpacht und Salzsteuern (Fermes et gabelles) an sich selbst.
Es blieb nur noch der eine Schritt übrig: daß die königliche Macht Laws Bank vollends übernahm. Der König selbst machte sich zum Bankier, um das Land mit Papiergeld zu überschwemmen, das der Bevölkerung aufgenötigt wurde, sowie man ihr später unter der Revolution Assignaten aufzwang. Das geschah im Dezember 1718.
Law hatte seinen Traum gehabt: Abschaffung des entsetzlichen Steuersystems und der Finanzpächter, die mit den Staatseinkünften Geschäfte machten, Abschaffung von zumindest vierzigtausend überflüssigen Beamten, endlich Übernahme der Staatsschuld in der Form, daß er dem Staate 1500 Millionen zu drei Prozent leihen und dessen Gläubiger mit seinen Aktien bezahlen wollte; denn diese stiegen immer noch und hätten, nach Monatsfrist verkauft, einen sehr bedeutenden Überschuß ergeben. Kaum war er zum Generalkontrolleur ernannt, als er den Staatsrat einen Plan prüfen ließ: durch Zwang die Geistlichkeit dahinzubringen, alles zu verkaufen, was sie im Laufe der letzten hundertundzwanzig Jahre erworben hatte. Diese Idee war eine ganze Revolution, war ein um siebzig Jahre verfrühtes 1789.
Man begreift, welche Kräfte in Bewegung gesetzt wurden, um ihn zu stürzen, und welch geringe Kraft vonnöten war, um dieses Kartenhaus umzuwerfen. Ein Run auf die Bank, wo die Leute in Wartereihe die ganze lange Rue de Richelieu hinab standen, ein Run auf Law, dem der unheimliche Herzog von Bourbon, Frankreichs künftiger Herr, in einem Monat zwanzig Millionen für seine Freundin, Madame de Prie, abpreßte. Keine Stütze bei dem Regenten zu finden, der zerstreut, stumpf nach allabendlichem Rausch und nach einem überstandenen apoplektischen Anfall sich willenlos erwies, sogar den geldgierigen Weibern gegenüber, die er bisher all seinen Ausschweifungen zu Trotz abgewiesen hatte.
Noch immer aber hielt Law sich aufrecht und stiftete Nutzen, indem er beispielsweise alle inneren Zollgrenzen innerhalb Frankreichs Provinzen abschaffte. Korn und Waren zirkulierten frei, das Getreide faulte nicht mehr in einer Provinz, während in einer anderen Hungersnot herrschte. Und der Arbeiter durfte sich niederlassen, wo er wollte. Ein Tischler aus Lyon durfte fortan auch in Paris tischlern.
Aber was nutzte dergleichen, wenn die Erde unter ihm glitt und stürzte, wenn diese Aktien, für die eine künstliche Dividende ausgezahlt wurde, an Wert sanken und sanken! Alle die Todfeinde, die er sich geschaffen hatte, die Frommen, für die er der Antichrist war, die Parlamentsmitglieder, die ihn verabscheuten, weil er gegen die Käuflichkeit der Ämter und gegen jenes souveräne Recht über Leben und Tod, das sich vererbt und feil war, gesprochen hatte, alle diese erhoben einen Sturm des Hasses gegen Law, den man schuldig nannte an Frankreichs Ruin. Man wollte ihn hängen, ihn in Stücke reißen. Uneigennützig, wie er immer gewesen, hatte er nur seiner Gattin eine Rente gesichert, die Rente jener Summe, die er nach Frankreich mitgebracht, als er kam, hatte nicht das geringste für sich selbst zurückgelegt. In Armut flüchtete er 1720, um sein Leben zu retten, und in Armut starb er sechs Jahre danach in Venedig.
Stark verbunden mit allen Feinden Laws und des Regenten, mußte Voltaire den Schotten und das, was er dessen System nannte, mit ungünstigen Augen betrachten. Zahlreiche Zeugnisse davon liegen sowohl in Versen wie in Prosa vor.
In der Epistel an den Herzog von Sully vom Jahre 1720 heißt es:
Je me fais un plaisir extrême
De parler, sur la fin du jour,
De vers, de musique et d'amour,
Et pas un seul mot du système,
De ce système tant vanté,
Par qui nos héros de finance
Emboursent l'argent de la France,
Et le tout par pure bonté!
In einem 1725 geschriebenen Briefe an Thiériot führt Voltaire eine Reihe von Versen an, die er über den Herzog von Orléans und über Law verfaßt hat und in den sechsten Gesang seiner Henriade einzuflechten gedenkt (wo sie jedoch niemals hinkamen). Darin folgende Zeilen:
Philippe, garde-toi des prodiges pompeux
Qu'on offre à ton esprit trop plein du merveilleux,
Un Ecossais arrive et promet l'abondance;
Il parle, il fait changer la face de la France,
Des trésors inconnus se forment sous ses mains,
L'or devient méprisable aux avides humains,
Le pauvre qui s'endort au sein de l'indigence,
Des rois, à son réveil, égale l'opulence,
Le riche en un moment voit fuir devant ses yeux
Tous les biens qu'en naissant il eut de ses aïeux.
Im dritten Gesang der Pucelle gedenkt Voltaire abermals Laws mit Spott.
Noch als alter Mann (1769) spricht er in der Epistel an Boileau mit förmlichem Haß von dem schottischen Finanzmann:
Un maudit Ecossais, chassé de son pays,
Vint changer tout en France, et gâta nos esprits.
In seinem Précis du siècle de Louis XV schildert er, wie Law durch das Erwecken der Geldgier die Geister von der Politik ablenkte und auf diese Art die Opposition gegen den Regenten brach. Die Spielsucht verdrängte den Ehrgeiz. Law wurde der Retter des Regenten. Und Law stiftete wirklich Nutzen; wiewohl ganz chimärisch, schuf sein System große Handelsunternehmungen und bewirkte die Wiedergeburt der ehemals von Colbert gegründeten und später durch den Krieg zerstörten überseeischen Handelsgesellschaft. Wenn auch viele private Unternehmungen zugrunde gingen, so faßte die Nation doch mehr Mut zum Großhandel und vermehrte hierdurch ihre Reichtümer.
Voltaire stellt hier leidenschaftslos dar, wie Law seine Bank gründete und die Mississippi-Gesellschaft mit ihr vereinigte, wie das Publikum, von der Aussicht auf raschen Gewinn gepackt, mit Leidenschaft diese Aktien kaufte, die ungeheuer stiegen, und wie Frankreich durch Kredit reich wurde. In allen Lebensstellungen wußte man einen gewissen Luxus zu erreichen. Als der König die Bank übernahm, stiegen die Aktien vollends auf das Zwanzigfache ihres Wertes. Aber berauscht von seinem System und dem Erfolg, der ihm beschieden war, stellte Law so viele Scheine aus, daß der eingebildete Wert der Aktien 1719 all das in Frankreich im Umlauf befindliche Geld um das Achtzigfache überstieg. Er selbst war unterdessen aus einem Schotten ein Franzose, aus einem Abenteurer ein mächtiger Gutsbesitzer, aus einem Bankier ein Staatsminister geworden. »Ich selbst habe,« sagt Voltaire, »ihn in die Säle des Palais Royal treten sehen, begleitet von Herzögen und Pairs, von Bischöfen und Marschällen von Frankreich. In dem gleichen Jahre war er gezwungen, aus dem Lande zu flüchten.«
Und nun preist Voltaire auf Kosten Laws die vier Brüder Pâris, die nach seinem Verschwinden Ordnung in Frankreichs Finanzen brachten.
Der Großprior von Vendôme war nach Paris zurückgekehrt, schon bevor ihm die Erlaubnis dazu erteilt war. So sicher war er ihrer; er reiste ab, sobald er den Tod Ludwigs des Vierzehnten erfuhr. Gleich darauf war er wieder der Mittelpunkt seines alten Kreises. Zuerst sandte er sein Abendbrot zu dem Abbé von Chaulieu; dann versammelte er alle Freunde und Trinkbrüder in le Temple um sich. Es waren mit Ausnahme ganz weniger, darunter des jungen Arouet, der rasch mit dem Prinzen intime Bekanntschaft schloß, lauter alte Männer; aber die Jahre hatten bei diesen Organismen aus Eisen und Feuer nichts zu sagen. Es waren Athleten der Ausschweifungen, störrische Wortführer der Freigeisterei, die hier zusammentraten, wiewohl die meisten unter ihnen einen geistlichen Titel oder Posten besaßen und von dem Altar lebten, dem sie nicht dienten. Sie konnten die ganze Nacht hindurch trinken und Witze reißen, ohne daß es ihrer Gesundheit schadete. Und sie vermochten während der ausgelassenen Unterhaltung, der Trinkgelage, im Gespräch über Literatur und Poesie die feinste Urteilskraft und den sichersten Geschmack an den Tag zu legen.
Voltaire, der schon seit zwei Jahren an seiner Tragödie Oedipe arbeitete, las sie beim Abendtisch diesen Herren vor und zog aus ihrer Kritik Nutzen. Er schreibt am 20. Juni 1716 an Chaulieu:
Ich erinnere mich sehr wohl der kritischen Einwände, die der Großprior und Sie während einer gewissen Abendmahlzeit bei dem Abbé von Bussi vorbrachten. Diese Abendmahlzeit wurde für meine Tragödie zu großem Vorteil, und ich glaube, es wäre hinreichend für mich, vier oder fünfmal mit Ihnen zu trinken, um ein wohlgelungenes Werk zu schaffen.
Auch der junge Prinz von Conti erteilte ihm gute Winke und erhielt sein Lob hierfür in dem fünften der Briefe, die Oedipe einleiten:
Ich muß gestehen, daß Monseigneur le prince de Conti derjenige ist, dem ich die scharfsinnigste und feinste Kritik verdanke. Wäre er ein bloßer Privatmann, würde ich mich begnügen, sein Urteil zu bewundern; da er aber durch seinen Witz ebenso hoch wie durch seinen Rang über den anderen steht, wage ich die Bitte an ihn, er möge die Literatur beschützen.
Es war an der Tafel eben dieses Prinzen, der nette Verse schrieb, daß der junge Arouet, welcher nicht vergaß, seine Gleichgestelltheit zu betonen, in die bekannten Worte ausbrach: Sind wir hier alle Prinzen oder sämtlich Poeten?
Die Jüngeren des Kreises avancierten rasch im Rang; 1712 wurde der junge Herzog von Sully Erbe der Familiengüter. Gleichzeitig wurde der Abbé von Bussi, »der keinen anderen Mangel hatte als den, nicht an Gott zu glauben«, zum Bischof ernannt.
Der Regent war ein freier Geist und mit ihm begann eine neue Gesinnung sich geltend zu machen, ein Kampf gegen die grausame und dummfromme Inquisition der früheren Regierung. Er hegte den Wunsch, das Grundmenschliche zu seinem Recht zu bringen, und er führte als Herrscher anfangs eine edle Sprache, wollte sich nicht an Untertanen wenden, die bloß zu gehorchen hatten, sondern an denkende Wesen, denen er in seinen Ordonnanzen die Beweggründe zu seinen Bestimmungen erklärte, denen er bewies, daß diese gerecht und notwendig waren. Was zuinnerst in ihm lebte, war bester französischer Geist. Dieser lasterhafte Mensch mit seiner nur allzugroßen Schwäche gegenüber Weibern und Wein, war von dem Stamme, der Montaigne und Molière hervorgebracht hatte.
Seine Herrschaft bezeichnet die Abschaffung der Heuchelei und die Thronbesteigung des Libertinertums in der doppelten Bedeutung des Wortes. All jene leichtsinnige oder leichtfertige Erotik, die man bisher verheimlicht, in les petites maisons bei Kerzenschein versteckt gehalten hatte, pflegte man nun an hellichtem Tage in seinem eigenen Hause und stellte sie, weit entfernt, sich ihrer zu schämen, offen zur Schau. Der verstorbene König hatte einmal Philippe von Orléans fanfaron de vice genannt (der sich schlimmer macht, als er ist).
Es kann der Wahrheit gemäß gesagt werden, daß er in seinen Ausschweifungen über den Männern und Frauen höchsten Ranges stand, die ihn, um ihre egoistischen Ziele zu erreichen, bald mit schönen erfahrenen Sirenen, bald mit unschuldigen und anmutigen jungen Mädchen zu verkuppeln suchten. Er wies die ersteren mit einem gewissen Grauen ab und er weigerte sich irgendwelche Gunst zu empfangen, die ihm nicht von dem jungen Geschöpf selbst mit voller Freiheit und aus voller Initiative angeboten wurde.
Ludwig der Vierzehnte hatte Philippe von Orléans eine seiner unehelichen Töchter, die Herzogin von Blois, als Gemahlin aufgezwungen. Es war unmöglich, dem König etwas abzuschlagen; er wollte seine weiblichen Bastarde fürstlich vermählt sehen. Als aber der Herzog die Sache seiner Mutter, Madame, der in Deutschland unter dem Kosenamen Liselotte bekannten Elisabeth Charlotte mitteilte, verabreichte sie ihm in ihrer Entrüstung über den vermeintlichen Schimpf eine derartige Maulschelle, daß die Möbel zitterten und man es in den anderen Sälen des Versailler Schlosses hörte. Und diese Gattin wurde die Qual seines Lebens. Immer mit seinen Feinden, mit der Gegenpartei verbündet, tat sie für Madame de Maintenon Spionendienste und lieferte, wo sie konnte, seine Geheimnisse aus.
Die Geliebten des Herzogs, die einander rasch folgten, die liebenswürdige und uneigennützige Schauspielerin Mlle Desmares, die Herzogin von Mouchy, die Gräfin von Parabère usw. erweckten bei ihm Sinnlichkeit, Zärtlichkeit, Ergebenheit, aber keine Leidenschaft. Leidenschaftlich hat er in seinem ganzen Leben nur ein einziges Weib geliebt und das war – tragisch genug – seine eigene Tochter.
In der disharmonischsten Ehe geboren, war die junge Herzogin von Berri schön, bestrickend und halbverrückt. Es hat sich bei ihrem Tode gezeigt, daß ihr Hirn abnorm war. Sie hatte von ihrem Großvater, Monsieur, dem Sodomiten, etwas Perverses in ihrem Blute, von ihrer Großmutter, die, selbst gesund und grob, dem Hause Bayern angehörte, das soviel Geisteskrankheit aufwies, einen Hochmut geerbt, welcher fast an Wahnsinn grenzte. Dabei war sie unbändig sinnlich, höchst sensibel und leicht zu Tränen geneigt. Von einem verderbten Kammermädchen erzogen, verabscheute sie ihre Mutter und lebte immer dem Vater nahe. Dieser studierte, radierte (eine Reihe wollüstiger Radierungen, Daphnis und Chloe), empfing Goldmacher, Finanzmänner, Staatsmänner, schöne Weiber und war empfindlich wie sie. Wenn er sich in seiner Ehe allzu unglücklich fühlte, weinten und tranken sie einträchtig zusammen. Sie war seine einzige Freundin und sein einziger Kamerad. Als sie, die Frühreife, vierzehn Jahre, und er, der frühzeitig Übersättigte, fünfunddreißig war, scheint die Leidenschaft wie eine Flamme zwischen ihnen emporgeschlagen zu haben. Er blieb für immer ihr Untergebener, ihr Leibeigener, und als Ludwig der Vierzehnte starb, fühlte sie sich als Königin. So toll sie war, so begabt war sie, und so reich an Witz sie war, so toll war sie, nahm einen Liebhaber nach dem anderen, zuerst ihren Stallmeister, dann ihren Gardekapitän Riom, den sie – trotz des ungeheuren Abstandes an Stand und Rang – mit Gewalt heiraten wollte. Diese beiden Liebhaber waren Dummköpfe; Riom eine dicke, eingebildete, bartlose Puppe, der mit Einwilligung der Herzogin als offizieller Geliebter auftrat – Ehemann in allem bis auf den Namen –, den aber der Regent, um ihm Geduld beizubringen, zum Gouverneur in Cognac machte und mit dem schönsten Regiment des Heeres beschenkte; Riom war jedoch Neffe von Lauzun. Und hatte nicht Lauzun trotz Ludwigs des Vierzehnten Widerstand die große Mademoiselle geheiratet? Der Herzogin galt Riom wohl soviel wie Lauzun, und sie ließ ihn auf ihrem Schloß La Muette als Herrn des Hauses auftreten.
Zur Ausschmückung dieses Schlosses gab der Regent ihr das Beste, was er besaß und was Frankreich besaß: Watteau, der 1717 zum Maler des Königs ernannt wurde und dessen offizieller Titel peintre des fêtes galantes lautete. Mit seinen reizvollen Liebesgärten und seinen feinen, hingehauchten Gestalten, die sich nach Cythère einschifften, sollte er dieses kleine Schlößchen nahe von Paris zu einem würdigen Götzentempel für die Tochter des Regenten machen. Aus Watteaus Bildern lernen wir unter anderem die Trachten jener Tage kennen. Das alte steife enge Futteral, in das man in der Zeit des großen Königs die Frauengestalt oben zusammenschnürte, während sie unten im Reifrock verschwand, war von losen und leichten, rasch abwerfbaren Gewändern abgelöst worden.
Die Seele in allen gegen den Regenten gerichteten Intrigen und Angriffen war die Herzogin von Maine, Enkelin des großen Condé, die den Sohn Ludwigs des Vierzehnten mit Madame de Montespan geheiratet hatte – eine witzige und boshafte kleine Dame, Zeit ihres Lebens Voltaires Beschützerin, aber von dem heftigsten Haß gegen den Herzog von Orléans erfüllt, zu dessen Gunsten ihr Gatte, der in Ludwigs des Vierzehnten Testament zum Regenten ausersehen war, von dem Parlament beiseite geschoben worden. Zu ihrem Kreise gehörte der Marschall von Villars, dessen Frau bald einen allzu tiefen Eindruck auf den jungen Poeten machen sollte.
Aller Wahrscheinlichkeit nach geschah es, um die Damen des kleinen Hofes zu Sceaux und im Schlosse Villars bei Melun zu befriedigen, daß der junge Arouet seine ersten witzigen und giftigen Verse gegen den Regenten und dessen Tochter schrieb. Denn die Herzogin von Maine war unermüdlich, Pamphlete, Zeichnungen, Karikaturen und Gassenhauer in Umlauf zu setzen, um den Rivalen und seine Tochter in Dreck zu ertränken. Von ihrem Kreise entflossen Les Philippiques der Feder Lagrange-Chancels, die sich wütend über den vermuteten Inzest warfen. Am schlimmsten wurde das Geklatsch, als die Herzogin von Berri im Jahre 1718 guter Hoffnung ward. Nicht bloß in Sceaux, sondern ringsum in Europa glaubte und versicherte man, daß, wenn auch Riom als Vater gelte, er doch nur der nominelle sei. Unterdessen war der Hochmut der jungen Herzogin zu einem leichten Größenwahn angewachsen. Sie vermehrte ihren Hausstand auf 800 verschiedene Offiziere und Domestiken. Sie ließ sich in Luxembourg einen Thron errichteten, drei Stufen hoch, auf welchem sie die fremden Botschafter empfangen wollte.
Voltaires erstes Epigramm, welchem man anmerkt, daß er bei der Ausarbeitung seines Oedipe den Regenten und die Herzogin vor Augen gehabt, lautete folgendermaßen:
Ce n'est point le fils, c'est le père;
C'est la fille, et non point la mère;
A cela près tout va de mieux.
Ils ont déjà fait Etéocle;
S'il vient à perdre les deux yeux,
C'est le vrai sujet de Sophocle.
Hier ist dem Gang der Begebenheiten vorgegriffen, denn die Herzogin hatte im Jahre 1716 noch kein Kind geboren; und als endlich eines zur Welt kam, war es nicht männlichen Geschlechts, so daß der Name Eteokles nicht paßt. Dagegen ist es nicht aus der Luft gegriffen, daß das Augenlicht des Regenten bedroht war. Er konnte mit dem einen Auge kaum sehen, und während einer recht häßlichen erotischen Szene, die sich nicht wiedergeben läßt, an der er selbst übrigens ohne Schuld gewesen zu sein scheint, hatte die junge fromme Madame d'Arpajon, die ausgestreckt vor ihm lag, ihn mit ihrer Ferse ins Auge getroffen.
Das andere an die Herzogin von Berri gerichtete Epigramm lautete:
Enfin votre esprit est guéri
Des craintes du vulgaire;
Belle duchesse de Berri,
Achevez le mystère!
Un nouveau Lot vous sert d'époux,
Mère des Moabites:
Puisse bientôt naître de vous
Un peuple d'Ammonites.
Es versteht sich von selbst, daß diese Epigramme anonym waren und daß Voltaire sich niemals als Urheber ausgegeben hat, so zweifellos er es auch war. Er hat sogar ganz ausdrücklich, in einem impertinenten Vers an den Regenten selbst, diese Spottgedichte abgeleugnet.
Indessen, sie waren unter seinem Namen in Umlauf, und solche Beleidigungen verdienten eine Züchtigung. Der Regent selbst war gegenüber übler Nachrede und Verurteilungen seiner Person so gleichgültig, daß er Schmähschriften am liebsten straffrei ausgehen ließ; er griff nur dann ein, wenn seine Polizei ihm die Notwendigkeit nachwies, die Feinde nicht allzusehr zu ermuntern. Er beschränkte sich also darauf, den Poeten aus Paris zu verweisen. Als Verbannungsort war zunächst eine langweilige kleine Stadt, Tulle, ausersehen; aber auf Fürbitte des alten Arouet wurde François nach Sully-sur-Loire geschickt, wo die Familie einige Verwandte hatte, die, wie der Vater hoffte, dem unbändigen jungen Menschen etwas Aufsicht angedeihen lassen würden. Er wurde hier jedoch sogleich der Gast seines Freundes, Maximilien de Sully, und lebte auf dessen Familienschloß, umgeben von dem ganzen ihm vertrauten Kreise von Epikuräern und Spöttern, der sich in diesem schönen Heim niedergelassen und es zu einem verzauberten und bezaubernden Feenpalast gemacht hatte. Die Namen der Gäste waren Roussay, Lespar, Périgny, Guiche, der Herzog von La Vallière, Madame de Gondrin, geborene Noailles, die künftige Gräfin von Toulouse und Madame de Vrillière, Venus selbst in Person.
Man lese unter Voltaires Poesien das schöne kleine Gedicht an Madame de Gondrin (als sie auf der Loire in Lebensgefahr geraten war), in welchem die ganze Schloßgesellschaft gekennzeichnet ist, und das zweite kleine Gedicht » Schlaflose Nacht in Sully« (Nuit blanche de Sully), das des Dichters Freude zum Ausdruck bringt, auf ein so schönes Schloß und in eine so entzückende Gesellschaft verbannt worden zu sein. Man unterhielt sich; man schnitt die Cour; man ging auf die Jagd, und der junge Poet fühlte sich sehr glücklich und dennoch zugleich sehr unruhig, daß man draußen nichts von seinem Glück erführe, da man sich in diesem Falle vielleicht nicht veranlaßt sehen würde, das Exil aufzuheben. Der einzige Fehler an diesem Aufenthalt war seine Erzwungenheit. Er sandte dem Regenten, um seine Unschuld zu beweisen folgenden frechen Vers:
Non, Monseigneur, en vérité,
Ma muse n'a jamais chanté
Ammonites ni Moabites;
Brancas vous répondra de moi,
Un rimeur, sorti des jésuites,
Des peuples de l'ancienne loi
Ne connaît que les Sodomites.
Der hier genannte Brancas ist der Herzog Louis Antoine de Brancas-Villars, dem Voltaire aus Sully einen artigen Brief sandte, um sich seinen Schutz zu erbitten und ihn um den Dienst zu ersuchen, die große Epître à Monsieur le duc d'Orléans zu übermitteln, in welcher er sich mit Würde und Klugheit bei dem Regenten in das beste Licht zu stellen versuchte.
Die Epistel beginnt damit, dem Herzog vorzustellen, daß dieser sich trotz seiner großen Eigenschaften keine Hoffnung auf allgemeine Anerkennung machen möge:
Prince, chéri des dieux, toi qui sers aujourd'hui
De père à ton monarque, à son peuple d'appui;
Toi qui, de tout l'état portant le poids immense,
Immoles ton repos à celui de la France;
Philippe, ne crois point, dans ces jours ténébreux,
Plaire à tous les Français que tu veux rendre heureux.
Aux princes les plus grands, comme aux plus beaux ouvrages,
Dans leur gloire naissante il manque des suffrages.
Wie der Regent sich nicht von gehässigen Kritikern abschrecken lassen möge, so sollten auch die platten Schmeichler ihn nicht gewinnen; er möge sie durchschauen und wissen, daß sein Ruhm weder von ihnen abhänge noch von den Künstlern, die ihn verherrlichten. Voltaire selbst schilderte des Regenten Vorzüge und unterbricht dann die Schilderung mit der Frage, warum der Herzog, der gegen alle gerecht, allein ihm gegenüber streng sei und sich habe überreden lassen, das Ärgste von ihm zu glauben. Hier, aus dieser Epistel könne der Fürst ersehen, wie er denke und schreibe. Wie könne er glauben, Voltaires Stil in groben Versen wiederzufinden, die die gewandte Verleumdung seiner Rivalen ihm zugeschrieben habe?
Er erhielt zu Ende des Jahres 1716 seine Freiheit zurück.
Der Gebrauch, den er von ihr machte, war kein vernünftiger. In seiner Epistel an den Regenten hatte er sich die Miene gegeben, dessen Verehrer zu sein; in Wirklichkeit jedoch hatte die immerhin unbedeutende und recht angenehme Strafe, die er erlitten, ihn mit einer Erbitterung erfüllt, daß er den Namen des Regenten nicht mehr zu nennen vermochte, ohne zu schäumen. Auch dies wäre gleichgültig gewesen, wenn er zumindest überlegt hätte, zu wem er sprach; aber er war zu jung, um nicht schwatzhaft zu sein, und zu unerfahren, um zu begreifen, daß er von Spionen umgeben sei.
Ohne es zu ahnen, ließ er sich mit einem sehr durchtriebenen und gefährlichen Polizeispion ein und schüttete ihm sein Herz aus. Es war ein Offizier namens Beauregard, den er in seinem Café getroffen hatte, der aber übrigens auch in der guten Gesellschaft öfters geladen war. Mit knabenhafter Eitelkeit rühmte Voltaire sich ihm gegenüber nicht bloß der satirischen Verse, die er wirklich geschrieben, sondern bezeichnete sich auch, wie aus dem Polizeirapport, den wir noch haben, hervorgeht, als Urheber verschiedener anderer beißender Pasquille auf Französisch und Latein, von denen er tatsächlich bloß eines verfaßt hatte. Es war um so glaubhafter, daß er der Autor eines größeren Schmähgedichts sei, als er Beauregard auf die Frage, was der Herzog von Orléans ihm eigentlich angetan habe, daß er ihn so sehr hasse, eines Morgens erwiderte: »Wie? Sie wissen nicht, was dieser Flegel mir angetan hat? Er hat mich aus Paris verbannt, weil ich das Publikum wissen ließ, daß die Messalina, seine Tochter, eine Dirne ist.«
Das satirische Gedicht, das ihm infolge seiner unvorsichtigen Äußerungen zugeschrieben wurde, trug den Titel Les J'ai vu und hatte in Wirklichkeit einen gewissen Antoine Louis Lebrun, der vierzehn Jahre älter war als Voltaire, zum Verfasser. Der Dichter erzählt darin, er habe das Allertraurigste erlebt und gesehen; alle Gefängnisse voll von braven Bürgern, die Freiheit geraubt, die Vernunft verfolgt, das Volk in Ketten gelegt, die Soldaten vor Hunger und Wut verzweifelnd, die Obrigkeit Städte quälend und mißhandelnd, einen Teufel in Weiberkleidern (Madame de Maintenon) Gesetze gebend usw. Daß der Verfasser Jansenist war, verriet seine grenzenlose Entrüstung über die Demolierung des Klosters Port-Royal:
J'ai vu le lieu saint avili,
J'ai vu Port-Royal démoli,
J'ai vu l'action la plus noire
Qui puisse jamais arriver;
L'eau de tout l'Océan ne pourrait la laver,
Et nos derniers neveux auront peine à la croire.
Es offenbarte sich noch deutlicher in seinem Haß auf die Jesuiten:
J'ai vu l'hypocrite honoré,
J'ai vu, c'est dire tout, le jésuite adoré.
Das Gedicht schließt: »Ich habe diese Übel gesehen und ich bin noch nicht zwanzig Jahre alt.« Voltaire war damals wohl 22 Jahre und der wirkliche Urheber 36; aber man betrachtete es als unzweifelhaft, daß das Gedicht von ihm sei und desgleichen die kleine lateinische Inschrift Regnante puero. Sie ist mit ehrlichem und giftigem Haß, aber ohne Kunst geschrieben und sie stammt zweifellos von Voltaire.
Regnante puero,
Veneno et incestis famoso
Administrante,
Ignaris et instabilibus conciliis,
Instabiliore religione
Ærario exhausto,
Violata fide publica usw.
Als ein Knabe König und als der
Regent wegen Giftmords und Blutschande
berüchtigt war, als der
Rat unwissend und unbeständig,
die Religion noch schwankender,
die Schatzkammer leer, das öffentliche
Vertrauen verletzt war usw.
Es scheint, daß insbesondere das Gedicht J'ai vu den Regenten höchlichst erbittert hat, obwohl es ja nur die frühere Staatsverwaltung geißelte, für die er selbst keine Verantwortung trug. Als eines Tages bei seinem Spaziergang im Garten des Palais Royal der junge Arouet seinen Weg kreuzte, rief er ihn zu sich und sagte: Monsieur Arouet, ich wette, daß ich Sie ein Ding sehen lasse, das Sie nie zuvor gesehen haben. – Welches? fragte der junge Mensch. – Die Bastille. – Monseigneur, ich betrachte es, als hätte ich sie gesehen. –
Tags darauf schrieb Philipp von Orléans an Herrn de la Vrillière:
Es ist die Verfügung Seiner kgl. Hoheit, daß Sieur Arouet fils verhaftet und nach der Bastille geführt werde.
Diesen 16. Mai 1717.
Philippe d'Orléans.
Des Morgens, es war der Pfingsttag, füllte Voltaires Schlafkammer sich mit Polizei, die ihn nach der Batille eskortierte, wie er selbst es humoristisch in dem Gedicht La Bastille beschrieben hat:
Man pries ihm die Vorzüge des Logis: nie drängen die Sonnenstrahlen belästigend hier ein; diese zehn Fuß dicken Mauern seien Bürgen einer angenehmen Kühle. Man hieß ihn bewundern, wie solid alles mit dreifachen Türen und dreifachen Schlössern, mit Riegeln und Eisenstangen versperrt sei; »Es geschieht dies zu Ihrer Sicherheit«. Als die Uhr zwölf schlug, brachte man ihm warme Eiersuppe, ein Gericht, das ihn nicht eben reizte. Aber man sagte: »Speisen Sie in Ruhe; hier wird niemand Sie zur Eile antreiben.«
Es nützte nichts, daß er am selben Tage an den Herzog von Sully schrieb: »Meine Unschuld sichert mir Ihren Schutz.« Er war verhaftet und wußte nicht weshalb. Es war der Vater seiner beiden Kameraden d'Argenson, der Polizeimeister von Paris, der ihn arretieren ließ, aber dieser hatte bloß der Ordre zu gehorchen.
Das erste, was Arouet, der sehr reinlich war, im Gefängnis vermißte, waren seine Toilettesachen, das zweite die Bücher, in denen er immer las. Schon fünf Tage nach der Verhaftung erbittet er sich die Zustellung von zwei Bänden Homer, auf Latein und auf Griechisch, zwei Spitzentaschentücher, eine kleine Kappe, zwei Kragen, eine Nachtmütze und ein Fläschchen Nelkenessenz.
Es blieb ihm nichts übrig, als zu versuchen, sich die Zeit durch Arbeit zu vertreiben. Was Herr de Caumartin ihm erzählt, hatte ihm die Idee zu einer historischen und nationalen Dichtung gegeben, deren Held Heinrich der Vierte sein sollte, und so schrieb er hier im Gefängnisse nicht weniger als die erste Hälfte der Dichtung, die später die Henriade, anfänglich La Ligue genannt wurde. War der Ort nicht eben zu poetischem Schaffen ermunternd, so waren überdies die Verhältnisse so ungünstig wie möglich: Man bewilligte dem Gefangenen während der elf Monate seiner Haft in der Bastille weder Feder noch Tinte. So schrieb er denn in dem Turm, der tour de la Basinière genannt wurde, mit Bleistift seine Dichtung zwischen die Zeilen eines gedruckten Buches.
Erst am 11. April 1718 öffneten sich ihm die Tore der Bastille, und da dem Staatsgefängnis stets Verbannung folgte, wurde er nach Châtenay geschickt, wo sein Vater ein Besitztum hatte und sich erbot, ihn zu beaufsichtigen. Kaum freigeworden, schrieb er an den Minister Maurepas und bat ihn, den Regenten seiner Unschuld zu versichern; er sei nicht der Verfasser jener abscheulichen Inschrift, habe sie nicht einmal gesehen. Er ahnte nicht, daß man sein eigenes Eingeständnis an Beauregard besaß, und meinte, auf einen bloßen, leicht zu entkräftigenden Verdacht hin verhaftet worden zu sein. Zugleich suchte er um Erlaubnis nach, einige Tage in Paris verbringen zu dürfen, insbesondere um seine Schuldlosigkeit zu erweisen.
Baron Louis de Breteuil (aus der berühmten Adelsfamilie), der – am 17. Dezember 1706 – Vater der »göttlichen Emilie« geworden war, nahm es auf sich, die Bittschrift zu überreichen. Der mehrtägige Aufenthalt in Paris, um den der junge Arouet nachgesucht hatte, wurde ihm bewilligt; allmählich dehnte man die Dauer dieses Aufenthalts auf einen Monat aus, und am 12. Oktober 1718 ward ihm gestattet, zu leben, wo er wolle.
In Voltaires Dichtung La Bastille heißt es:
Me voici donc en ce lieu de détresse
Embastillé, logé fort à l'étroit,
Ne dormant point, buvant chaud, mangeant froid,
Trahi de tous, même de ma maîtresse.
Die Stelle ist im Jahre 1717 in der Bitterkeit seines Herzens geschrieben.
Er hatte, während er bei dem Herzog von Sully auf dem Lande lebte, ein junges Mädchen aus guter Familie kennengelernt, deren Oheim, ein sehr vornehmer Herr, erblicher Bürgermeister der Stadt Sully war und mit dem Schlosse in Verbindung stand. Der lange Name des jungen Mädchens war Suzanne Cathérine Gravet de Corsembleu de Livry; kurzgefaßt wurde sie Fräulein de Livry genannt.
Im ersten Stockwerk des Schlosses war ein Theater, und die zwanzigjährige, auffallend schöne Suzanne mit ihrem Schwanenhals und ihrer herrlichen Hautfarbe hatte den glühenden Wunsch, auf der Bühne aufzutreten. Der junge Arouet war wie zu ihrem Instruktor geschaffen, er, der sein lebelang Schauspieler und Schauspielerinnen unterrichtete und selbst so viele Rollen spielte. Bald jedoch entwickelte sich das Verhältnis zwischen Lehrer und Schülerin zu einem anderen, einem flammenden und gegenseitigen. Der glückliche Liebhaber ließ sich von Largillière für Suzanne malen – das später berühmte Jugendporträt.
Die bekannte Epistel Les Vous et les Tu schildert die weitere Entwicklung dieser Beziehungen in Paris. Die beiden Glücklichen fuhren in einem einfachen Fiaker, nahmen gemeinsam ein dürftiges Abendbrot ein, das Suzannes Gegenwart zu Ambrosia verwandelte. Mitunter waren sie auch zu dritt. Voltaire hatte einen teuren und bewunderten Freund, den jungen Lefèvre de la Faluère de Genonville, welcher an den Mahlzeiten des jungen Paares teilnahm, dessen Freuden teilte, dessen Liedern lauschte.
Während Voltaire in der Bastille saß, fügte es sich höchst natürlich, daß der Freund ihn ersetzte, und vermutlich ist dieser auch schon früher öfters Supplement gewesen. Wie es in der Epistel Les Vous et les Tu heißt:
Contente d'un mauvais souper
Que tu changeais en ambrosie,
Tu te livrais, dans ta folie,
A l'amant heureux et trompé
Qui t'avait consacré sa vie.
Wie immer, wenn er von einem geliebten Weibe zugunsten eines gemeinsamen Freundes zurückgesetzt wurde, lag es Voltaire auch in diesem Fall am Herzen, den Freund nicht zu verlieren. Seine Regungen waren stets die folgenden: zuerst Groll, Zorn, Trauer, Wut; dann Verzeihung, Versöhnung, dauernde Freundschaft. In Epistel XVII an Genonville heißt es:
Tu sais combien l'amour m'a fait verser de larmes,
Fripon, tu le sais trop bien,
Toi dont l'amoureuse adresse
M'ôta mon unique bien;
Toi dont la délicatesse
Par un sentiment fort humain
Aima mieux ravir ma maîtresse
Que de la tenir de ma main.
Tu me vis sans scrupule en proie de ma tristesse
Mais je t'aimai toujours tout ingrat et vaurien.
Später suchte er im Geist seiner Zeit das Ganze auf die leichte Achsel zu nehmen, die Untreue als Bagatelle zu behandeln, da ja eben Erotik nichts anderes ist.
So in der Epistel an den Herzog von Sully:
Je sais que par déloyauté
Le fripon naguère a tâté
De la maîtresse tant jolie
Dont j'étais si fort entêté.
Il rit de cette perfidie
Et j'aurais pu m'en courroucer;
Mais je sais qu'il faut se passer
Des bagatelles dans la vie.
Er hat sich augenscheinlich bald mit Suzanne versöhnt. In dem obenerwähnten Gedicht an den Arzt M. de Gervasi schildert er, wie ihr Bild ihm vorgeschwebt hat, als er seinen Tod nahe wähnte.
Hélas! en descendant sur le sombre rivage
Dans mon cœur expirant je portais son image;
Ses amours, ses vertus, ses grâces, ses appas,
Les plaisirs que cent fois j'ai goûtés dans ses bras
A ces derniers moments flattaient encore mon âme.
Aber noch herzlicher hat er sich mit Genonville versöhnt, dessen früher Tod ihn wie ein Schlag traf. In dem Gedicht an den Arzt Gervasi trauert er darüber, daß die ärztliche Kunst dem liebenswürdigen Genonville nicht habe helfen und seinen Freunden sein Leben erhalten können. In seinem Gedicht Aux mânes de M. de Genonville erinnert er sich sogar mit wehmutgemischter Freude seines gleichzeitigen Verkehrs mit ihm und mit Suzanne:
Il te souvient du temps, où l'aimable Egérie
Dans les beaux jours de notre vie
Ecoutait nos chansons, partageait nos ardeurs,
Nous nous aimions tous trois. La raison, la folie,
L'amour, l'enchantement des plus tendres erreurs
Tout réunissait nos trois cœurs.
Que nous étions heureux! même cette indigence,
Triste compagne des beaux jours,
Ne put de notre joie empoisonner le cours.
Jeunes, gais, satisfaits, sans soins, sans prévoyance
Aux douceurs du présent bornant tous nos désirs,
Quel besoin avions-nous d'une vaine abondance:
Nous possédions bien mieux, nous avions les plaisirs.
Suzanne war es nicht zufrieden, auf dem kleinen Privattheaterchen des Herzogs von Sully geglänzt zu haben; sie wollte auf dem Théâtre français glänzen und rechnete darauf, daß Voltaire ihr den Weg dahin bahnen würde; denn endlich hatte die Bühne sich ihm geöffnet, und man hielt die Proben zu seinem Oedipe ab.
Sie wünschte als Jokaste, außerdem aber auch in Lustspielrollen aufzutreten; allein so häufig sie es auch versuchte, so hatte sie keinen Erfolg zu verzeichnen. Schließlich ging sie mit einer Truppe französischer Schauspieler nach England. Als auch diese kein Glück hatten und die armen Menschen sich genötigt sahen, jeder für sich sein Auskommen zu suchen, fand Suzanne eine Zuflucht in London, bei einem Franzosen, der ein Kaffeehaus eröffnet hatte. Es war ein braver Mann, der, ergriffen von dem würdig zurückhaltenden Wesen, der schönen Haltung und der ganzen traurigen Lage der armen Heimatlosen, Mitleid mit ihr empfand und seinen Gästen von ihr sprach. (Eben diese Situation hat Voltaire mit einer gewissen Wärme in seinem gegen Fréron gerichteten Schauspiel L'Ecossaise dargestellt, in welchem Lindane der Suzanne entspricht.)
Ein reicher und vornehmer Franzose, Marquis Charles Frédéric de la Tour du Pin de Gouvernet, sah Suzanne in diesem Hause und verliebte sich so leidenschaftlich in sie, daß er ihr seine Hand anbot. Sie lehnte als armes Mädchen in ihrem Stolz seine Werbung ab – man solle ihm nicht vorwerfen können, eine Mésalliance eingegangen zu sein. Sie wies die Geschenke zurück, die er ihr machen wollte. Das einzige, was sie anzunehmen sich bereit erklärte, waren ein paar Lose der Staatslotterie. Der Marquis ließ nach Ablauf einer kurzen Frist ritterlich eine falsche Liste drucken, auf welcher eine von Fräulein de Livrys Nummern mit einem ungeheuren Gewinn herausgekommen war. Alle ihre Freunde, darunter Voltaire, erfuhren mit Anteilnahme die gute Neuigkeit; sie selbst, in der Meinung, reich geworden zu sein, reichte dem Marquis die Hand und trat ein in ein Leben voll Glanz und Herrlichkeit. Die Hochzeit fand 1727 statt.
Als Voltaire sie später in ihrem Heim in Paris aufsuchte, wurde er von dem Schweizer abgewiesen und ihm überhaupt der Zutritt zu dem Hause verweigert. Der Gegensatz zwischen diesem Empfang und demjenigen, an den er einige Jahre zuvor gewohnt gewesen, gab ihm Anlaß zu der graziösen Epistel, in der die Ansprache Sie, die jetzt angewendet wird, mit dem Du abwechselt, das sich auf die ärmliche Vergangenheit der Marquise bezieht: die Diamanten und Perlen, die sie gegenwärtig trägt, wiegen nicht einen jener Küsse auf, die sie ihm in ihrer ersten Jugend schenkte.
In der Zeit zwischen 1721 und 1778 haben Voltaire und Suzanne einander nicht wiedergesehen. Sie war in der Zwischenzeit verwitwet, fromm und um siebenundfünfzig Jahre älter geworden. Als Voltaire, dreiundachtzig Jahre alt, nach Paris kam, galt sein erster Besuch seiner Jugendgeliebten, der Marquise von Gouvernet, die nun mit ihren vierundachtzig Jahren kein Bedenken mehr trug, ihn zu empfangen. Das Wiedersehen erfüllte ihn mit Entsetzen. »Oh meine Freunde,« sagte er bei seiner Rückkehr, »ich bin soeben von einem Ufer des Unterweltflusses zum anderen übergesetzt worden!«
Die Proben zu Oedipe nahmen ihren Verlauf. Die Herzogin von Maine und ihr Hof betrachteten diese Tragödie als einen gegen den Regenten und die Herzogin von Berri gerichteten Schlag und freuten sich bei dem Gedanken an die erste Aufführung, sahen ihr entgegen in der Hoffnung, daß der Herzog von Orléans und dessen Tochter der Vorstellung mit ähnlichen Gefühlen beiwohnen würden wie der König und die Königin in Hamlet dem Schauspiel, das der Prinz aufführen läßt.
Kaum aus dem Gefängnis entlassen, hatte Voltaire den Regenten unverzagt ersucht, ihm dieses sein Stück zueignen zu dürfen. Es war dies eine der Formen der Tollkühnheit seines Wesens. Wie er später dem Papst seinen Mahomet, das Schauspiel von dem Betrüger als Religionsstifter zueignete, so versuchte er dem Regenten seinen Œdipe, das Schauspiel von der Blutschande, zu widmen. Er mußte sich begnügen, es der Regentenmutter, Elisabeth Charlotte, zu dedizieren.
Diese Dedikation ist denkwürdig, nicht durch ihren Wortlaut, denn sie erhebt sich nicht über die damals pflichtschuldige Schmeichelei, sondern durch ihre Unterschrift: Madame, de votre altesse royale le très humble et très obéissant serviteur Arouet de Voltaire.
Zum erstenmal erscheint hier, im Jahre 1718, der Name, der den bisherigen – Arouet – bald ganz ablösen und den Voltaire noch sechzig Jahre tragen sollte. So wie Jean Louis Balzac seinen übellautenden Namen Guez und Molière seinen nicht wohlklingenden – Poquelin – verworfen hatten, so ließ Voltaire von nun an den Namen Arouet ganz fallen. Er duldet ihn nicht mehr und gibt (in Briefen an Jean Baptiste Rousseau) als Grund dieser Abneigung an, daß er häufig mit dem Namen eines schlechten und ihm feindlich gesinnten Poeten, Roy, verwechselt werde. Dennoch bewahrt er ihn in seinem neugebildeten Namen, Voltaire, der ein Anagramm von Arouet le jeune (geschrieben l. i.) ist.
Voltaire war zu jener Zeit nur als ausgezeichneter Schüler der Jesuitenschule, als geistreicher junger Lebemann und Gassenjunge, als glänzender Poet und nicht minder glänzender Gesellschaftsmensch bekannt, den der Regent infolge seiner naseweisen Ausfälle ein Jahr in die Bastille hatte stecken müssen. Immerhin wußte man, daß die Gegner des Regenten, der alte Maréchal de Villars, dessen vierunddreißigjährige, sehr schöne Frau und der ganze kleine Hof in Sceaux sich viel von ihm erwarteten.
So erschienen am 18. November 1718 die Herren und Damen des Hofes in der Hoffnung auf einen kleinen Skandal, auf eine Verhöhnung, möglicherweise ein Auszischen des Regenten, vollzählig bei der Erstaufführung des Dramas.
Doch der Regent gewann das Publikum für sich, wie der Verfasser selbst es gewann.
Gutmütig, als wohlwollender Zuschauer saß Philippe von Orléans da; kurzsichtig, wie er war, vermochte er das Stück nur zu hören, kaum zu sehen. Mit seinen schwachen Augen glich er selbst dem blinden Ödipus.
Stolzer als irgendeine Königin fand die Herzogin von Berri sich ein – die leibhaftige Jokaste. Ihre üppige Schönheit sandte Strahlen aus. So jung sie war, so erschien sie stark in ihrer Pracht; ihre Schwangerschaft war schon ziemlich vorgeschritten. Sie trat mit einem Gefolge von dreißig Damen, mit ihrem Hofgesinde, ihrer Garde ein und füllte solcherart den größten Teil des Amphitheaters. Ja sie hatte, was man nie zuvor in einem französischen Theater gesehen hatte, einen Thronhimmel über ihrem Sitz errichten lassen.
Das Stück konnte beiden Parteien zusagen. Seine Komposition war mustergültig. Es war reichlich durchsetzt von Angriffen auf die Pfaffen; aber die Pfaffen behielten schließlich Recht. Die Geistlichen waren in dem Stücke der Königsmacht feindlich gesinnt; und einer von ihnen äußerte den Satz:
Tremblez, malheureux roi, votre règne est passé.
Was er sprach, war in dem Stücke Wahrheit. Die Angriffe auf den Glauben waren niemals in den Mund der Hauptperson gelegt, und der sie erhob, erhielt stets Unrecht. Eine Nebenperson, Araspes, warnte vor dem Glauben an Wunder. Eine andere Nebenperson, Philoktetes, hegte Argwohn gegen die Priester. Er sprach wie ein Franzose aus dem achtzehnten Jahrhundert, der den König von Frankreich gegen die päpstliche Macht stützte. Und er bot seinem Gegner und Rivalen, Ödipus, seinen Arm an:
Contre vos ennemis je vous offre mon bras;
Entre un pontife et vous je ne balance pas.
Un prêtre, quel qu'il soit, quelque Dieu qui l'inspire,
Doit prier pour ses rois, et non pas les maudire.
Die berühmteste Stelle in dem Stücke, die in Frankreich sprichwörtlich geworden ist, wird von Jokaste ausgesprochen, kurz bevor die übelgelittenen Priester und Weissager Recht behalten:
Nos prêtres ne sont point ce qu'un vain peuple pense,
Notre crédulité fait toute leur science.
Dies schloß aber nicht aus, daß Verse wie die angeführten einen Beifallssturm entfesselten, wie es ja auch keinem Zweifel unterliegt, daß Voltaire selbst die tiefste Befriedigung gefühlt hat, während er diese Zeilen schrieb, in denen die Grundleidenschaft seines Wesens sich Luft machte, obwohl sie mit dem Thema, mit dessen Poesie und Geheimnissen, nichts zu schaffen hatten.
Wie wenig ergriffen er selbst mit seiner Eulenspiegelnatur während der Aufführung war, zeigte sich darin, daß er aus purem Übermut zuletzt mitspielte, und zwar als der Page, der die Schleppe des Hohepriesters trug.
So wie das Stück beschaffen war und wie es gespielt wurde, gab es keinen Anlaß zur Abneigung gegen Ödipus oder gegen den, der von dem Publikum mit ihm verglichen wurde. Ödipus rührte die Herzen. War er schuldig, so war das Schicksal der wahrhaft Schuldige. Er war ein guter und harmloser Fürst, der in echter Regentenmilde das Beste seines Volkes wollte. Dufresne, ein sehr beliebter junger Schauspieler, stellte ihn dar. Und die entzückende Desmares, die, im Begriff, das Theater zu verlassen, noch ein letztesmal spielte, um dem Regenten Lebewohl zu sagen – sie hatte den Herzog uneigennützig, aus reiner Zärtlichkeit, geliebt –, gab die Jokaste anmutig und natürlich. Die schmerzliche Abschiedsszene zwischen Ödipus und Jokaste ergriff die Zuschauer tief. Und sie brachen in Tränen aus bei Jokastes letzten Worten an ihn, von diesem schönen Munde, mit dieser schönen Stimme gesprochen:
Si tant de maux ont de quoi te toucher,
Si ta main, sans frémir, peut encor m'approcher,
Aide-moi, soutiens-moi, prends pitié de ta reine!
Die Blutschande selbst vermochte im Grunde diese Zuschauer nicht zu entsetzen, wie schrecklich sie auch in der Tragödie bestraft wurde.
Man war durch allerlei Schriftsteller und mannigfache Lebensverhältnisse mit morgenländischen Sitten vertraut geworden.
Jedermann war es bekannt, daß der Bischof von Tencin ehelich mit seiner Schwester, Madame de Tencin (der Mutter von d'Alembert) lebte, und man wußte, daß die Könige im alten Ägypten desgleichen getan hatten.
Die fremden Herrschaften in Paris folgten dem Beispiel. Nach Saint-Simons Behauptung verheiratete der Prinz von Montbéliard seinen Sohn mit seiner Tochter. Laut Elisabeth Charlottes Memoiren hatte die Herzogin von Württemberg keinen anderen Liebhaber als ihren Sohn.
Das Stück riß also die Mehrzahl der Zuschauer hin. Als der Autor sich zuletzt in der Loge des Maréchal von Villars, zwischen ihm und seiner schönen Frau, zeigte, rief das Publikum der Marschallin im Chor zu: »Aber so küssen Sie ihn doch!« – Und sie tat es unter allgemeinem Jubel.
Jedoch auch der Regent wurde gefeiert; überlegen, nachsichtig und lasterhaft, wie er war. Mit seinem hellen Kopf und seiner feinen Auffassungsgabe verstand er selbstverständlich alles, was das Stück an Andeutungen auf die damalige Zeit und auf ihn enthielt. Aber er zuckte nicht mit den Wimpern, er fühlte sich nicht im mindesten getroffen oder peinlich berührt. Er lohnte das Stück mit Händeklatschen, ließ den Autor zu sich rufen und bewilligte ihm ein für damalige Verhältnisse bedeutendes Jahrgeld, zwölfhundert Livres, die einer Summe von reichlich sechstausend Francs heutzutage entsprechen.
Als Voltaire einige Tage danach zur Tafel geladen wurde, war der Herzog sehr liebenswürdig, und Voltaire sagte zu ihm: »Monseigneur, ich bin ungemein dankbar, daß Eure königliche Hoheit für meine Kost sorgen. Aber ich flehe Eure königliche Hoheit an, sich um mein Logis nicht mehr bekümmern zu wollen.«
Zum erstenmal hatte der junge Arouet die öffentliche Aufmerksamkeit erregt und einen Lohn geerntet, wie ihn derjenige verdiente, der auch unter Widerwärtigkeiten niemals Müdigkeit oder Entmutigung gefühlt, sondern stets rastlos und mit unstreitigem Talent gearbeitet hatte. Noch in späten Jahren, in einem Briefe vom 22. Oktober 1759 an d'Argental, schreibt er: »Ich bin schmiegsam wie ein Aal, lebendig wie eine Eidechse und unermüdlich wie ein Eichhörnchen.« Das galt von ihm von frühester Jugend an.
Oedipus hatte einen außergewöhnlichen Erfolg. Man spielte das Stück fünfundvierzigmal nacheinander, was zu jener Zeit etwas Unerhörtes war. Es befriedigte die Mitwelt ebensowohl bei der Lektüre wie bei der Aufführung. La Motte, der Zensor, von dem die Veröffentlichung des Stückes abhing, hatte sich, wiewohl in Le Bourbier gehässig angegriffen, nicht mit einer in trockenen Worten abgefaßten Gutheißung begnügt, sondern in seiner Zensur den Verfasser einen würdigen Nachfolger Corneilles und Racines genannt, was den alten Chaulieu ärgerte und ihm Anlaß zu obenerwähntem Epigramm lieferte.
Voltaire ließ das Stück jedoch nicht für sich selbst sprechen. Es erschien wie in einem siebenfachen Panzer; abgesehen von Vorwort und Widmung wurde es von nicht weniger als sieben an M. de Genonville gerichteten Briefen eingeleitet. Die ersten besagen, daß er nicht der Verfasser des Gedichtes J'ai vu sei, und enthalten den Dank an die Schauspieler; in den folgenden kritisiert er Sophokles' Oedipus, indem er auf die Unwahrscheinlichkeit hinweist, daß der König trotz aller Winke und Zeichen sein Schicksal so spät erkenne; hierauf geht er Corneilles Oedipus durch und bemängelt die langweilige Episode von Theseus' Liebschaft mit Dirke, die allmählich das Interesse an dem Schicksal des Ödipus selbst verdränge; endlich rezensiert er seine eigene Tragödie und macht sehr offen auf die Unwahrscheinlichkeiten aufmerksam, die das Thema mit sich gebracht und die er nur zu verschleiern, nicht auszumerzen imstande gewesen, betont auch die Schwäche, die in dem Verschwinden des Philoktetes nach dem dritten Akte liegt. Dagegen tritt er mit Wärme für die Möglichkeit einer wiederentfachten Leidenschaft ein, die Jokaste in Philoktetes erweckt. Er beweist die Unwahrscheinlichkeit der Annahme, daß Jokaste nach der damals üblichen Auffassung sechzig Jahre gewesen sein soll, setzt vielmehr ihr Alter sehr vernünftigerweise auf ungefähr fünfunddreißig fest und meint scherzhaft, aber wahr: »Die Frauen wären sehr unglücklich, wenn sie in diesem Alter keine Gefühle mehr zum Leben erwecken könnten.«
Unter den Männern, denen Voltaire seine Tragödie sandte, war auch Jean Baptiste Rousseau, der sich damals in Wien aufhielt und mit einem schönen und herzlichen Schreiben antwortete, das von Beifall überströmt und die neidlose Anerkennung des älteren Dichters für den jüngeren offenbart. Liest man diesen Brief, so bedauert man, daß durch beiderseitige Schuld das so schön eingeleitete freundschaftliche Verhältnis späterhin durch die bitterste häßlichste Feindschaft abgelöst wurde.
Eine Bekanntschaft von Bedeutung, die Voltaire zu jenem Zeitpunkt machte, war die mit dem zweifelhaft berühmten Baron Görtz, dem mächtigen Minister Karls des Zwölften. Er traf ihn bei dem sehr reichen schweizerischen Banquier Baron Hoguère, der in Paris ein großes Haus führte und der identisch sein muß mit dem bei Fryxell genannten Högger, der Karl dem Zwölften in der Türkei Geld lieh. So wunderlich es klingt, wenn man den Altersunterschied bedenkt, so wurden Görtz und Voltaire doch intime Freunde, ja das Gerücht fand Glauben, Görtz wolle den geistsprudelnden jungen Mann mit sich nach Schweden nehmen. Offenbar hat Görtz mit dem Abenteurerblut, das in ihm war, und mit der Gabe, Menschen zu behandeln, die ihm sogar dauernden Einfluß auf den sonst durchaus unlenksamen Karl den Zwölften verschaffte, in der blendenden Geistesüberlegenheit des jungen Voltaire etwas seinem eigenen Wesen Verwandtes gespürt. Merkwürdig ist, daß Voltaire, der sich Law gegenüber so schonungslos erwies, die Ähnlichkeit zwischen Law und Görtz nicht erkannte, eine Ähnlichkeit, die nicht allein darin bestand, daß beide schlechtes Geld prägten. Gerade damals nährte Görtz weitumfassende politische Pläne, Pläne, die dahin zielten, die Feindschaft zwischen Peter dem Großen und Karl durch eine für beide Teile vorteilhafte Allianz abzulösen, Pläne, die Europa umspannten, aber denen Karls des Zwölften Tod einen tragischen Ausgang bereitete. Zu Ende desselben Jahres, in welchem Voltaire und Görtz einander in Paris trafen, fiel Karl der Zwölfte bei Frederikshald und Görtz wurde nach Stockholm gebracht, um dort enthauptet zu werden.
Im übrigen besteht kein Zweifel, daß es das kurze Beisammensein mit Görtz war, das in Voltaire ein Interesse für den schwedischen Abenteurerhelden geweckt und die Keime gelegt hat, aus welchen ein Jahrzehnt später sein Werk Histoire de Charles Douze entstand.
Frühreif, wie Voltaire in geistiger Beziehung gewesen ist, war er es auch in seinen Bedürfnissen, in seinem Hang, Geld auszugeben und sich zu verschaffen, was zu der Existenzform erforderlich war, ohne die ihm das Leben nicht lebenswert schien. Schon in seiner allerersten Jugend war er, bei der Unzufriedenheit seines Vaters mit seiner Lebensführung und der Uneinträglichkeit seiner Kunst, auf Geldverleiher und Wucherer angewiesen, von welchen er auch da und dort eine humoristische Beschreibung geliefert hat. Wir sehen mit Verwunderung, wie er während seines Aufenthalts auf Sully 1719 wegen einer Schuldverschreibung von fünfhundert Francs, die er, erst dreizehn Jahre alt, einem Weibsbild namens Thomas ausgestellt hat, vorgeladen wird. Er weigert sich zu bezahlen, teils weil er noch unmündig ist (es fehlt ihm ein Monat zur Großjährigkeit), teils weil er behauptet, das Geld schon zurückerstattet und von der Vettel oftmals die Versicherung erhalten zu haben, sie habe die Verschreibung ins Feuer geworfen.
Er bewohnte zu jener Zeit ein bescheidenes Logis in der Rue de la Calandre und war beständig zu Mittag und Abend geladen; er wollte aber natürlich ein standesgemäßes Leben führen, und die zu jener Zeit so demütigende und abhängige Stellung der Literaten schreckte ihn ab und empörte ihn.
Im vorhergehenden Jahrhundert hatten die Schriftsteller entweder von Königs Gnaden, von den Wohltaten eines großen Herrn oder den Almosen eines Generalpächters gelebt. Corneille, der so arm war, daß er als älterer Mann bloß ein Paar Schuhe besaß, widmete seinen Cinna dem Finanzmann Montauron (der hundert Goldstücke für eine Widmung zahlte) und verglich ihn in der Zueignung mit Kaiser Augustus. Lafontaine mußte von Haus zu Haus gehen, von Bouillon zu Herwart und zu Madame de Sablière, um Essen, Obdach und Kleider zu erbitten. Colletet war so arm, daß er, wie Boileau sagt, »sein Brot von Küche zu Küche suchte«. Im achtzehnten Jahrhundert war Allainval, ein Dramatiker, dessen Stücke häufig aufgeführt wurden, so vollständig aller Mittel entblößt, daß er nicht einmal eine Unterkunft besaß. Die Schriftsteller lebten wie Schmarotzer. Wie bemitleidenswert war doch La Bruyère während seines Aufenthalts in Herzog Louis von Bourbons Hause, wo er zuerst Lehrer, dann Gesellschafter war, aber stets in tief untergeordneter Stellung lebte! Es sei auch unvergessen, wie der Dichter Santeuil, sein Mitbediensteter, starb: an einer Prise Tabak, die der Herzog mit dem überlegenen Scherz des großen Herrn ihm ins Glas geschüttet hatte.
Die obenerwähnte berüchtigte Madame de Tencin, eine im täglichen Leben liebenswürdige Dame, die niemanden zu demütigen beabsichtigte, war bekannt dafür, daß sie jedem der Literaten, der an ihrem Tische speiste, zum neuen Jahre zwei Ellen Samt für neue Beinkleider spendierte. Voltaire hatte hiervon gehört und beschloß, daß dies jedenfalls nicht sein Los im Leben werden solle. Er besaß Geschäftstalent und wollte selbständig sein.
Ja, mehr als dies: Er errang den Schriftstellern als Stand Unabhängigkeit, erwarb auch für die anderen das Recht, all das zu sagen, was Armut oder Erkenntlichkeit seine Vorgänger zu sagen gehindert hatte. Er trennte die beiden verwachsenen Begriffe Skribent und Schmarotzer.
Wie oben erwähnt, hatte Philippe von Orléans' Regierung im Jahre 1716 in ihrer Geldnot ein Chambre de justice genanntes Tribunal errichtet, im Stil des genau fünfzig Jahre vorher gegründeten Tribunals gleichen Namens. Es sollte die Art und Weise untersuchen, auf welche die großen Vermögen der Finanzmänner entstanden waren, und in freier Willkür die entsprechenden Abgaben bestimmen. Nicht weniger als 4410 Geldleute wurden beunruhigt, und es gelang, eine Gesamtsumme von hundertsechzig Millionen zu brandschatzen. Allerdings gelangten nicht mehr als siebzig Millionen davon in die Staatskasse. Der Rest ging in die Taschen der Umgebung des Regenten über, teils in die der Damen, teils in die derjenigen, die er scherzhaft seine roués nannte. Als z. B. Paparel, der Kassierer der Gendarmerie, seiner Betrügereien wegen zum Tode verurteilt und sein ganzes Vermögen eingezogen wurde, erreichte der Marquis de la Fare, Paparels Schwiegersohn, von dem Regenten, daß das ungeheure Vermögen auf ihn überging; nach der Begnadigung seines Schwiegervaters gab er diesem keinen Pfennig zurück.
Nicht immer geschah also der Gerechtigkeit Genüge, selbst wenn die Kammer der Gerechtigkeit ihr Bestes tat. Aber es versteht sich, daß die Wut der Finanzleute sich über diesen Gerichtshof ergoß und noch mehr über die Angeber und die Angeberei, die ihn mit Stoff für Anklagen versahen. Voltaire schrieb aus diesem Anlaß seine Ode La chambre de justice, die dieses Tribunal als infam bezeichnet. In Stil und Form ist diese von Jean Baptiste Rousseau beeinflußt, der sie jedoch nicht billigte, sondern übertrieben pathetisch fand. Sie spricht Entrüstung aus über die Forderung, daß die Familien selbst zu der Angabe verpflichtet sein sollten, woher ihre Vermögen stammten:
Une ordonnance criminelle
Veut qu'en public chacun révèle
Les opprobres de sa maison;
Et, pour couronner l'entreprise,
On fait d'un pays de franchise
Une immense et vaste prison.
Weiterhin zeigt die Ode eine berechtigte Verachtung gegen die von Eigennutz, Mißgunst und Haß geleiteten Angeber:
Le délateur, monstre exécrable,
Est orné d'un titre honorable
A la honte de notre nom;
L'esclave fait trembler son maître;
Enfin nous allons voir renaître
Les temps de Claude et de Néron.
Nach einem damals sehr verbreiteten Gerücht, zu dessen Sprachrohr sich Maurepas gemacht hatte, entstand diese Ode auf Aufforderung der beiden Finanzmänner Pâris und Héron, und Pâris hat sich gewiß zumindest in späterer Zukunft erkenntlich erzeigt; war er doch einer jener vier Brüder, denen Voltaire den größten Teil seines Vermögens verdanken sollte.
Bei seines Vaters Tode (am 1. Januar 1722) erbte er nicht viel. Der alte Arouet hatte, als er sein Amt übernahm, eine Garantiesumme von 240 000 Livres gestellt, die jedoch natürlich nicht sein ganzes Vermögen ausmachte. Seine Tochter, Madame Mignot, erhielt als Mitgift unter anderem zwei Häuser in Paris. Als der Bruder Armand, der das Amt erbte, nicht imstande war, die Hälfte der Garantiesumme auszubezahlen, und Voltaire sich mit den Zinsen nicht begnügen wollte, entstanden Zwistigkeiten zwischen den Brüdern, die mehrere Jahre dauerten. Immerhin scheint Voltaire 4250 Livres jährliche Einkünfte bezogen zu haben. Zu den 1200 Livres, die er von dem Herzog von Orléans hatte, kam auf dessen Empfehlung ein vom König ausgesetztes Jahrgeld von 2000 Livres.
Doch schon aus einem Schreiben, das er 1718 an Madame de Bernières, die Frau des Präsidenten, richtete, wird offenbar, daß er, erst vierundzwanzig Jahre alt, Geschäfte machte, die zur damaligen Zeit als ganz natürlich und berechtigt galten, heutzutage allerdings strenger beurteilt würden. Er schreibt, daß er in seinem Briefe von Leuten unterbrochen worden, die ihn an die Spitze einer neugebildeten Gesellschaft stellen wollten: »Ich, der ich keine mir liebere Gesellschaft kenne als die Ihre, Madame, und sie sogar der Indischen Gesellschaft vorziehe, in der ich doch einen guten Teil meines Vermögens stehen habe, ich versichere Ihnen, daß ich mehr an das Vergnügen denke, zu Ihnen aufs Land zu ziehen, als an die Geschäfte, die wir machen sollen.«
Er fungierte als Vermittler bei Abschlüssen von Lieferungen oder bei der Erneuerung von Pachtverträgen, und diese Stellung war einträglich. »Der Regent hat sein Wort gegeben,« schreibt er. »Und da die Person (offenbar eine Frau), die diese Zusage von ihm erhalten, mir auch ihrerseits ihr Wort gegeben hat, so hege ich keine Furcht, daß man einen anderen Kanal als mich benützen könnte; ja, ich kann behaupten, wenn es diesen Leuten einfallen sollte, um mich herum zu anderen zu gehen, daß mein bißchen Einfluß ausreichen würde, das ganze Unternehmen zu Fall zu bringen ... Sie sagen mir, wenn ich nicht Donnerstag in Paris sei, so sei die Sache für mich verloren. Bestellen Sie den Herren, die Sie kennen, nur sie könnten die Verlierenden sein, denn mir sei das Privilegium zugesagt worden, und wenn ich es habe, wähle ich mir, welche Gesellschaft immer mir behagt.« Im nächsten Brief erklärt er aufs neue, daß er eines anderen, noch größeren Geschäftes sicher sei: »Die Person, die Sie kennen, hat die wiederholte Zustimmung des Regenten zu dem größeren Geschäfte.«
Ein Jahrzehnt später gelang ihm mit einem Schlag ein überraschender Coup. Als er eines Abends bei Madame Dufay speiste, befand sich unter den Gästen ein glänzender Kopf: der etwas leichtfertige Lebemann La Condamine, der bei Tische über die Unwissenheit des Generalkontrolleurs Lepelletier-Desfort Witze riß: dieser hatte, um die Banknoten des Rathauses zu amortisieren, eine Lotterie eröffnet, in der man durch eine einfache Berechnung mit Sicherheit gewinnen konnte. Voltaire besaß solche Banknoten, und erstaunt über die Richtigkeit der Berechnung, die er alsbald prüfte, zog er Nutzen aus ihr und verdiente 500 000 Francs daran. Der über seine eigene geringe Voraussicht heftig erbitterte Kontrolleur verklagte ihn, verlor aber und wurde abgesetzt. Von diesem Tage an hatte Voltaire keine Geldsorgen mehr.
Die Herzogin von Villars war so bezaubert von Voltaires Oedipe, daß sie den jungen Dichter sofort einlud, bei dem Marschall und ihr auf Villars zu wohnen. Er nahm die Einladung an und – verliebte sich heftig. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, sie vierunddreißig, aber strahlend schön, von ihrem Kreise angebetet, desgleichen übrigens auch von ihrem Gatten, den diese seine Leidenschaft für die eigene Frau in den Augen seiner Zeitgenossen ein bißchen lächerlich machte, obwohl sein Ruf als Feldmarschall sonst die Leute blendete. Es war unmöglich, liebenswürdiger, fürsorglicher, einschmeichelnder zu sein, als die Herzogin es dem jungen Poeten gegenüber war; darüber hinaus aber nichts. Sie war Feuer und Flamme für seine Kunst; ihm selbst eine gute Freundin. Nicht daß sie gefühllos gewesen wäre; es war da ein Abbé de Vauréal, den sie in hohem Grade vorzog. Aber zum einzigen Mal in seinem Leben litt Voltaire so sehr unter seiner unerfüllt bleibenden Liebe, daß er – was bei ihm unerhört war – die Lust zur Arbeit verlor, das Vorgenommene versäumte und sich in einem ewigen unleidlichen Fieberzustand befand. –
Der Marschall brachte dem jungen Gast aufrichtige Zuneigung und eine starke Bewunderung entgegen. Wieder und wieder nennt er ihn Frankreichs ersten Dichter. Als der junge Mann, um seine Leidenschaft zu überwinden, sich ein wenig aus dem Schlosse zurückzog, schrieb der Marschall die reizendsten Briefe an ihn zu dem Zweck, seine Bedenken zu besiegen und die Vorwände abzuweisen, deren wahre Ursache er augenscheinlich nicht ahnte.
Seiner Vertrauten, Marquise de Mimeure, erklärt Voltaire des öfteren, er wolle nicht mehr nach Villars hinausfahren, was die Marquise sicherlich mit großer Befriedigung gebilligt hat. Aber immer wieder läßt er sich von seinem Vorsatz abbringen.
Erst als er erkennt, daß jegliche Arbeit ihm unmöglich wird, faßt er den festen Entschluß, sich loszureißen. Und er wendet denselben Kniff an, den er sein ganzes langes Leben hindurch gebraucht: er ist ein Sterbender, entsetzlich elend, und sein Arzt, diesmal Vinache, verbietet streng jeden Besuch. Als Beispiel von Stil und Ton eines großen Herrn und bedeutenden Feldherrn aus der damaligen Epoche seien einige Bruchstücke eines Briefes angeführt, den der Marschall aus diesem Anlaß Voltaire sandte. Man bedenke, daß es ein Herzog ist, der spricht, einundvierzig Jahre älter als der junge Mann, den er so eindringlich zu sich lädt:
Wenn Sie mir glauben wollen, so geben Sie sich nicht in Vinaches Hände, so sehr auch seine verführerische Rede, seine Kunst, den Einfluß der sieben Planeten mit den Mineralien und den sieben edleren Teilen unseres Körpers zu vereinen, Bewunderung erregt.
Kommen Sie zu uns und essen Sie zu regelmäßigen Zeiten gute Suppe, nehmen Sie nicht mehr als vier Mahlzeiten täglich zu sich und legen Sie sich zeitig zu Bett! Lassen Sie Papier, Tinte, Hazardspiel, Lanzknecht ungeschoren! Brettspiel erlaube ich Ihnen. Zwei Monate solcher Diät sind weit besser als Vinache.
Ich danke Ihnen tausendmal für das, was Sie uns berichtet haben. Der Marquis (sein Sohn) hat mit Schmerz unser Theater schließen sehen und darüber den Beschluß gefaßt, zu seinem Regiment zu gehen; mein Wagen, der ihn Samstag nach Paris fährt, wird Sie Sonntag zu uns bringen.
Wir haben nun ein Theater eröffnet. Die Marquise (seine Schwiegertochter) hat es mit einem Eifer übernommen, der ihres Vaters und ihrer Mutter würdig ist (sie war die Tochter des Maréchal de Noailles); sie hat es sich angelegen sein lassen, zwei Soldaten aus des Königs Regiment, die Pauline und Stratonice darstellen, zu schminken, und, obwohl sie ihnen mehr Farbe auflegte, als auf einer neuen Karosse ist, fand sie, daß es noch immer nicht genug sei.
Fräulein Ludière, die Verschämtheit in Person, war in großer Verlegenheit, als sie die nackten Lenden der beiden Grenadiere in Reifröcke hüllen sollte, weil ...
Was Sie erzählen, ist interessanter als alle Neuigkeiten, die wir mitzuteilen haben. Ein armes Dienstmädchen ist von Leidenschaft für einen Gärtner ergriffen worden. Ihre Mutter, ein ärgerer Drache als Madame Dumay und zum zweitenmal verheiratet, ist gegen die Ehe. Die Frau Maréchal hat sich in die Sache gemischt; aber sie hat es vorgezogen, die Mutter zu schelten, statt selbst die Mitgift zu bezahlen, was ja ihrer gewohnten Freigebigkeit nicht gleicht ...
Hier haben Sie, mein großer Dichter, alles, was ich Ihnen in schlechter Prosa als Dank für Ihre Verse sagen kann. Tausend Grüße an Herzog und Herzogin von Sully, denen ich gute Gesundheit wünsche, so daß Sie die Reise zu uns unternehmen können. Hier ist jetzt gute und zahlreiche Gesellschaft; wir sind zweiundzwanzig bei Tisch; aber ein großer Teil reist morgen ab.
Wie man sieht, ist dieser Brief im Zeitalter der Artigkeit geschrieben.
Voltaire war stark umworben. Er wohnte bald auf Richelieu bei dem Herzog, bald in Maisons bei seinem Freund, dem Präsidenten, bald halb widerstrebend in Villars, wo man zu jenem Zeitpunkt Fontenelles La Pluralité des Mondes studierte und sich lebhaft für die Vorgänge auf dem Saturn und Jupiter interessierte, die man in Ermangelung von einem besseren Instrument durch Operngucker beobachtete. Voltaire schildert dies humoristisch in seiner Epistel an den alten Schriftsteller und Weltmann:
Le soir, sur des lits de verdure,
Lits, que de ses mains la nature,
Dans ces jardins délicieux,
Forma pour une autre aventure,
Nous brouillons tout l'ordre des cieux:
Nous prenons Vénus pour Mercure,
Car vous saurez qu'ici l'on n'a
Pour examiner les planettes,
Au lieu de vos longues lunettes,
Que des lunettes d'opéra.
Eines der Häuser, in welchen der junge Dichter sich zu Hause fühlte, war das des Marquis von Mimeure. Der Marquis, der den Titel eines maréchal de champ (Brigadegeneral) trug, war Mitglied der Französischen Akademie, ein ausgezeichneter Kopf, rechtschaffen, sanftmütig und liebenswürdig; seine Frau, ehemals eine Schönheit, der nun, hoch in den Vierzigern, weder Vornehmheit noch Bildung fehlte, hatte von jeher die Neigung gehabt, ihr Haus zu einem Mittelpunkt für die literarische und künstlerische Welt in Paris zu machen. Seit dem Jahre 1714 war Voltaire in diesem Heim mit offenen Armen empfangen worden und er korrespondierte mit der Marquise als intimer Freund. Dessenungeachtet fiel es ihm schwer, sich in die verschiedenen Schöngeister zu finden, denen das Haus sich öffnete: Roy, den er verabscheute und der ihn haßte, hatte Zutritt; Piron, der gleich dem Herrn des Hauses aus Bourgogne stammte, wurde als der lustige, witzige Zigeuner, der er war, mit Auszeichnung empfangen. Er betrug sich anfänglich sehr aufmerksam gegen Voltaire, wurde aber allmählich, von dessen schroffer Haltung verletzt, sein erbitterter Feind und Verfolger.
Von dem Zeitpunkt an, da Voltaire sich von der schönen Frau des Präsidenten, Madame de Bernières, stark angezogen fühlte, und insbesondere von jenem Tage, da sie selbst ein ungemein eifersüchtiges Interesse für ihn zu bekunden anfing, zog Voltaire sich von Madame de Mimeure zurück. Es geschah nur mit Ach und Krach, daß die Präsidentin ihm Besuche bei der armen Marquise erlaubte, als dieser nach einer schweren Krankheit die eine Brust wegoperiert wurde.
Ohne Zweifel hat Madame Bernières ihren jungen Freund so viel wie möglich um sich zu sehen gewünscht; sie hätte ihn in ihrem Hause wohnen, täglich an ihrem Tische speisen sehen mögen. Von 1723 ab stand ihm sogar eine ganze Wohnung in ihrem Hause zur Verfügung. In einem Briefe vom 15. Januar 1722 schreibt er ihr, er sehe immer mehr und mehr ein, »nur sie sei seine wahre Freundin«. Dieser Ausdruck war sicherlich ein gedämpfter. Bernières war Präsident des Parlaments für die Normandie. Madame de Bernières, fünfunddreißig Jahre alt und sehr schön, besaß die Sicherheit des Benehmens, die der hohe Rang ihres Gatten und ein sehr bedeutendes Vermögen ihr verliehen.
Voltaire fühlte sich auf ihrem Landsitz Rivière-Bourdet ebenso ungezwungen, wie bei ihr in Paris. Doch um seine Unabhängigkeit zu sichern, zahlte er für seinen jeweiligen Aufenthalt. Daß dies tatsächlich der Fall war, ergab sich mehrere Jahre später. Als Desfontaines (unter vielen anderen gegen Voltaire erhobenen schmutzigen Anklagen) mit der Beschuldigung hervortritt, daß er bei dem Präsidenten de Bernières schmarotzt habe, gibt die Präsidentin als Entkräftigung dieser Anschuldigung die Summe (1800 Francs) bekannt, die er damals für seinen Aufenthalt bezahlt hatte.
Unsäglich wohl fühlte sich Voltaire, wenn er auf Richelieu war. Er schreibt von dort aus im Jahre 1720 an den Freund Thiériot:
Ich lebe augenblicklich in dem schönsten Schlosse Frankreichs. Kein Fürst in Europa hat so schöne Statuen in so großer Anzahl. Alles erinnert hier an die Größe des Kardinals de Richelieu. Die Stadt ist wie Place Royale gebaut. Das Schloß ist ungeheuer groß, aber was mir am meisten zusagt, ist gleichwohl der Herzog von Richelieu, den ich mit einer unsagbaren Zärtlichkeit liebe – nicht mehr jedoch als Sie.
Der junge Herzog war soeben aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er, wegen seiner Verschwörung mit den Spaniern und seines Versuches, ihnen Bayonne zu übergeben, siebzehn Monate verbracht hatte. Der Regent hatte den Ausspruch getan, für das, was Richelieu verbrochen, verdiente er, daß man ihm vier Köpfe abschlüge, falls er sie gehabt hätte. Allein die Tochter des Regenten, Mademoiselle de Valois, erwirkte Schonung für ihn. Sie liebte ihn bis zur Raserei, und um sein Leben zu retten, nahm sie die Werbung des Herzogs von Modena an, den zu heiraten sie sich bis dahin geweigert hatte.
Einer der Orte, wo der junge Voltaire während dieser Besuche auf dem Lande am meisten lernte und wo er überhaupt für die Zukunft, die er damals noch nicht ahnte, am besten vorbereitet wurde, war das Gut La Source, wo er als Gast Henry Saint Johns, Lord Bolingbrokes, nicht selten weilte.
Zum erstenmal lernte der junge Voltaire hier einen Mann kennen, der nicht wenige der Eigenschaften besaß, welche einen großen Mann ausmachen. Zum erstenmal traf er auf ein hervorragendes politisches und parlamentarisches Talent und zum erstenmal kam er in Berührung mit einem vornehmen Engländer, der, mit reicher staatsmännischer Erfahrung ausgestattet, die leidenschaftliche englische Freidenkerei der damaligen Zeit, die höchste englische Kultur jener Epoche und überdies wahre politische Originalität vertrat.
Bolingbrokes politischer Ruf hat sich bis in unsere Tage erhalten, weil Lord Beaconsfield von frühauf in ihm sein politisches Ideal erblickte. Schon in seiner Vindication of the english constitution sagt er von ihm: »Lord Bolingbroke, der seiner Partei Klarheit und Gedankenzusammenhang brachte, besaß jene feurige Einbildungskraft, die mit ihrer unaufhaltsamen Fruchtbarkeit und mit ihrer unerschöpflichen Gabe, Hilfsquellen zu finden, für einen großen Staatsmann und einen großen General ebenso notwendig ist wie für einen großen Dichter. Er war der tüchtigste Schriftsteller und der vollendetste Redner seiner Zeit.«
Bolingbroke, sechzehn Jahre älter als Voltaire, hatte ein großes Stück tätigen Lebens hinter sich, als der junge Dichter ihm vorgestellt wurde. Nach einer leichtfertigen Jugend war er seit 1701, wo er ins Unterhaus gewählt wurde, als glänzender Redner, als tiefblickender und scharf urteilender Mann anerkannt. Obwohl Tory, wurde er im Alter von sechsundzwanzig Jahren Kriegsminister unter Marlborough, blieb es aber nur vier Jahre, da die Whigs ihn verdrängten. Als Bolingbroke Kriegsminister wurde, sagten die Londoner Kurtisanen zueinander: Betty, Bolingbroke erhält achttausend Guineen jährlich, und alles für uns! (Voltaire, Brief vom 24. April 1769). Im Toryministerium aber wurde er Minister des Äußeren und er war es, der den Frieden zu Utrecht mit Ludwig dem Vierzehnten unter so mäßigen Bedingungen schloß, daß der spanische Erbfolgekrieg ohne harte Demütigungen für das ermattete Frankreich endete.
Eben war ihm im Jahre 1714 die Aufgabe zuteil geworden, das neue Ministerium zu bilden, als der vier Tage darauf eingetretene Tod der Königin Anna seine Demission erzwang. Mit einer Anklage wegen Hochverrats, das heißt, wegen Verbindung mit dem Thronprätendenten James dem Dritten bedroht, flüchtete er nach Frankreich, trat in den Dienst des Prätendenten, mußte sich aber nach dessen mißglücktem Landungsversuch in England 1716 aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Die nächsten sieben Jahre lebte er dann in Frankreich, bis die Geliebte Georges des Ersten, die Herzogin von Kendal, ihm die Erlaubnis zur Rückkehr verschaffte.
Von Ende 1719 an wohnte Bolingbroke in Anjou auf einem Gut, das er sich hier gekauft hatte und das in einer entzückenden Landschaft lag. Er hatte hier ein Haus, das instand zu setzen und zu schmücken er jahrelang nicht müde wurde und dem er den Namen La Source gab, nach einer Quelle, die in seinem Walde entsprang, einer Quelle, von welcher er in Briefen an Swift behauptet, daß sie sicherlich die schönste und klarste in ganz Europa sei.
Hier wohnte er mit seiner Geliebten, alsbald seiner Gattin, einer französischen Dame, der Witwe eines Marquis de Villette, eines tapferen Seeoffiziers und Vetters der Madame de Maintenon. Die Marquise war mit zweiundvierzig Jahren Witwe geworden, und erst fast zehn Jahre später begegnete Bolingbroke ihr. Aber trotz ihrer Jahre liebte er sie mit einer flammenden eifersüchtigen Leidenschaft, und als die beiden ihre Geschicke vereinigten, lebten sie in einem beständigen Zustand der Entzückung.
Man ersieht aus einem Briefe Voltaires an Thiériot vom 2. Januar 1722, nach seinem ersten Aufenthalt in La Source, wie stark der Eindruck ist, den Bolingbroke in seiner Häuslichkeit auf ihn gemacht hat:
Ich muß Ihnen die Verzauberung schildern, in der ich mich nach meinem Aufenthalt in La Source, bei Mylord Bolingbroke und Madame de Villette, befinde. Ich habe bei diesem berühmten Engländer alle Gelehrtheit seines und alle Höflichkeit unseres Landes gefunden. Niemals habe ich einen Menschen unsere Sprache mit größerer Kraft und Richtigkeit sprechen hören. Dieser Mann, der sein ganzes Lebenlang von Vergnügungen und öffentlicher Arbeit in Anspruch genommen war, hat dabei dennoch Gelegenheit gefunden, alles zu erlernen und alles zu behalten. Er kennt die Geschichte der alten Ägypter wie die Englands. Er kann Virgil auswendig wie Milton; er liebt englische, französische und italienische Poesie; aber er liebt sie auf verschiedene Art, weil er es ausgezeichnet versteht, den verschiedenen Genius jeder dieser Literaturen für sich zu schätzen.
Voltaire konnte es natürlich nicht unterlassen, dem Paar seine Henriade vorzulesen. Sie beschäftigte ihn selbst in diesen Jahren beständig, doch sicherlich nicht in höherem Grade als seine übrigen Zeitgenossen. Da sein Verhältnis zu dem Regenten ein besseres geworden, nachdem dieser einstweilen erfahren hatte, daß nicht Voltaire der Urheber verschiedener gegen ihn gerichteter giftiger Angriffe gewesen war, befaßte der Verfasser der Henriade sich mit dem Gedanken, ihm seine epische Dichtung, sobald sie vollendet sein würde, zu widmen. Schon 1718 richtete er in diesem Sinne ein Ansuchen an ihn. Als die Dichtung 1720 fertig war und der Regent sich in der Zwischenzeit mit Voltaire über Literatur unterhalten, ihm unter anderen die großen Vorzüge Rabelais' hervorgehoben hatte, den Voltaire stets unterschätzte, da bat der Dichter seinen Freund Thiériot, die ersten neun Gesänge für den Regenten zu kopieren.
Jetzt hatte er die Freude, die Henriade von dem Lord und dessen Frau in den stärksten Ausdrücken rühmen zu hören. Er schreibt darüber an Thiériot:
Nach der Schilderung, die ich von Lord Bolingbroke gegeben, steht es mir vielleicht übel an, zu sagen, daß Madame de Villette und er mit meiner Dichtung unendlich zufrieden waren. In ihrer Begeisterung stellten sie sie über alle anderen poetischen Werke, die in Frankreich erschienen sind; ich weiß jedoch recht wohl, daß ich von diesem übertriebenen Lob viel in Abzug bringen muß. Ich will nun drei Monate darauf verwenden, mich womöglich eines Teiles davon verdient zu machen. Ich glaube, wenn ich weiter eifrig an dem Werke bessere, muß es zuletzt eine vernünftige Form gewinnen.
Es erfordert heutzutage eine gewisse Kenntnis der ganzen Gefühls- und Denkungsart des beginnenden achtzehnten Jahrhunderts, besonders dessen poetischen Geschmacks, um diese Begeisterung für eine Dichtung zu begreifen, die für die Gegenwart, sogar in der Heimat des Verfassers, jedwedes Interesse verloren hat. Gewiß ist, daß sie schon vor ihrem Erscheinen die bessere Gesellschaft außerordentlich stark beschäftigte. Von La Source aus schreibt Voltaire an Madame de Bernières: »Lassen Sie mich wissen, welchen Erfolg mein Sohn (Heinrich der Vierte) gesellschaftlich hat, ob er sich viele Feinde verschafft und ob man es glaubt, daß ich sein wahrer Vater bin.«
Noch bevor die Henriade veröffentlicht wurde, bildeten sich Sagen um sie. Eine wirklich großartige Epopöe mußte (wie die Aeneide im Altertum) beinahe verbrannt, aber in letzter Minute von der Hand eines Freundes gerettet worden sein. Und so wie Augustus die von Vergil beschlossene Verbrennung der römischen Nationaldichtung verhindert haben soll, so hätte Präsident Hénault eines Tages auf dem Schlosse Maisons, als Voltaire, über die kleinliche Kritik der Zuhörer verstimmt, seine Handschrift in den Kamin geworfen, den kostbaren Schatz aus dem Feuer gezogen. Diese Anekdote ist von zu vielen Seiten bestätigt, um nicht wahr zu sein. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Abschrift existierte, kaum gering zu nennen.
Auf der Bühne des Théâtre Français hatte – wie es nicht anders zu erwarten war – Voltaire, während er sich zum Epiker ausbildete, hart für das übermäßige Glück zu büßen, das seiner frühesten Arbeit, dem Oedipe, beschieden gewesen. Die nächste Tragödie, Artemire, wurde bei ihrer Erstaufführung am 15. Februar 1720 so schlecht aufgenommen, daß der reizbare Verfasser von seiner Theaterloge auf die Bühne sprang und sich persönlich mit seinen Zuhörern auseinandersetzte. Als man erfuhr, wer der Sprecher sei, beruhigte man sich. Und er sprach so gewandt, so warm und beredt, daß reicher Beifall ihn lohnte. Leider war er schwach genug gewesen, seiner früheren Freundin, Fräulein de Livry, eine wichtige Rolle zu übertragen, in der sie gründlich mißfiel. Das Stück selbst war schwach und außerstande, den ursprünglichen Widerstand zu überwinden, obschon es die Begeisterung der Adrienne Lecouvreur geweckt hatte und sie mit ihrer genialen Wärme darin spielte.
Mit seinem gesunden Verstand erkannte Voltaire die Unvernunft, auf einem so ungünstigen Terrain weiterkämpfen zu wollen. Trotz des Wunsches der Herzogmutter, das Stück nochmals zu sehen, zog er es nach der achten Aufführung zurück und benutzte bloß einige Verse daraus in seiner späteren Tragödie Mariamne, die ein verwandtes Thema behandelt: ein Weib, das mit grausamer Eifersucht von einem Manne verfolgt wird, den sie nicht liebt.
Zu diesem Zeitpunkt meldet sich zum erstenmal in Voltaires Leben eine Neigung, die sich viele Jahre in ihm erhielt, aber niemals wahrhafte Befriedigung erfuhr: eine Neigung zur diplomatischen Laufbahn. Da die Mehrzahl der Biographen Voltaires, dem Dichter im Innersten feindselig gesinnt, auf diese oder jene Art stets das Bestreben haben, ihn herabzusetzen, seine Schwächen hervorzuheben und jeden Hang in ihm, dem die Verhältnisse volle Entfaltung verweigerten, als Lächerlichkeit zu stempeln, gibt es nur wenige Historiker und Essayisten unter ihnen, die nicht an seinem Hang zu diplomatischer Tätigkeit Ritter werden wollten. Aber wie vieles von dem Unbändigen, das in seinem Wesen lag, auch erst überwunden werden mußte, ehe er als Diplomat Nutzen stiften könnte, so muß doch andererseits auf Voraussetzungen für einen Erfolg hingewiesen werden, wie wenige Diplomaten von Fach sie in so hervorragendem Grade besaßen wie er: seine Gabe, Menschen zu behandeln, seine geniale Klugheit und gewinnende Art. Kein Geringerer als Friedrich der Große hat hierüber eine Ansicht geäußert, die mit der meinen übereinstimmt. In seiner Vorrede zur Henriade sagt er: »Ein so umfassendes Genie, ein so erhabener Geist, ein so arbeitsamer Mann wie es Herr von Voltaire ist, hätte sich den Weg zu den rühmlichsten Ämtern öffnen können, wenn er den Wunsch gehegt hätte, den Kreis der schönen Wissenschaften zu verlassen, um sich jenen Geschäften zu widmen, welche Interesse und Ehrgeiz der Menschen fürs Gewöhnliche ernste Berufe nennt; er hat es jedoch vorgezogen, dem unwiderstehlichen Trieb seines Genies zu Kunst und Wissenschaft zu folgen.«
1721 schrieb Voltaire seine Epître au Cardinal Dubois, welche im Stil jener Zeit dem unwürdigen Minister auf eine schamlose Art schmeichelt, ja ihn über seinen Vorgänger, den Kardinal von Richelieu, stellt; im folgenden Jahr wendet er sich in einem Brief vom 28. Mai an Dubois und bietet sich an, in geheimer Mission (unter dem Vorwand, Jean Baptist Rousseau zu besuchen) nach Wien zu gehen, um mit Hilfe der käuflichen Dienste eines gewissen Salomon Levi politische, für Frankreich wertvolle Geheimnisse aus dem Kaiserreiche zu erfahren. Dubois, sonst vorurteilsfrei genug, um Dichter in diplomatischem Dienst zu gebrauchen – er hatte den Dramatiker Destouches zum französischen Gesandten in London gemacht –, fühlte sich von Voltaires Anerbieten nicht angezogen, und die Sache kam nicht zur Ausführung. Erst da Dubois als französischer Premierminister von Kardinal Fleury und Friedrich Wilhelm als preußischer König von Friedrich dem Großen abgelöst wurde, kam Voltaire als Diplomat in Verwendung.
In jenen Tagen passierte ihm ein peinlicher Vorfall, der in seinem Leben wie das Omen einer ähnlichen Begebenheit von eingreifender Bedeutung für seine Lebensführung und Entwicklung erscheint. Als er auf Einladung des Kriegsministers Le Blanc bei diesem in Versailles speiste, geschah es ihm, an demselben Tisch mit Kapitän Beauregard zu sitzen. Selbstverständlich hatte er längst ausfindig gemacht, wessen Angebereien ihn seinerzeit in die Bastille gebracht hatten; es blieb nur die Wahl zwischen dem intimen Freund d'Argental und dem als Gentleman verkleideten Polizeispion. Voltaire, mit Recht erbost und überdies nicht gewohnt, in solchen Fällen die Zunge im Zaume zu halten, sagte laut: »Ich wußte, daß man Spione bezahlt; aber ich wußte nicht, daß man sie belohnt, indem man sie am Tische des Ministers speisen läßt.« Beauregard ersuchte nach dem Essen den Minister um Erlaubnis, Voltaire züchtigen zu dürfen, und als dieser seine Zustimmung gab, nur unter der Bedingung, daß keine Zeugen zugegen wären, lauerte Beauregard Voltaires Wagen auf der Sèvres-Brücke auf, zog ihn heraus und bläute ihn mit dem Stocke durch.
In seiner Erbitterung erwirkte Voltaire von dem Dorfschulzen eine Arrestordre, aber Beauregard hatte sich geeilt, Reißaus zu nehmen und zu seinem Regiment zu kommen. Voltaire, nun doppelt eifrig auf Rache bedacht, wurde vor dem Châtelet-Tribunal gegen den Übeltäter klagbar und verfolgte diese Sache mit dem größten Eifer, fuhr aber außerdem nach Sologne, um Beauregard persönlich auf die Spur zu kommen und ihn herauszufordern. Er fand ihn nicht, und sein Fall zog sich mit jener Langsamkeit, mit welcher Rechtssachen dazumals behandelt wurden, endlos in die Länge. In einem Briefe vom 15. Januar 1723 an Madame de Bernières schreibt er, daß er den Mann vergebens sowohl selbst gesucht wie durch andere habe suchen lassen, daß er jedoch fest entschlossen sei, den Prozeß niemals aufzugeben. Erst als einige Monate später die Abneigung der Madame de Prie sowie auch einige Börsengeschichten den Minister Le Blanc zu Fall brachten und seine Verbannung bewirkten und der Vetter der »göttlichen Emilie«, Herr de Breteuil, an seine Stelle trat, wurde auch Beauregard endlich hinter Schloß und Riegel gesetzt und für einige Zeit in Haft gehalten.
Hätte er sich einer vornehmen Herkunft rühmen können, so wäre er zweifellos so straffrei ausgegangen wie seinerzeit der Graf de la Feuillade, der in seiner Erbitterung über die Satire Tarte à la crème in Molières La Critique de l'école des femmes eines Tages in Versailles den Dichter, der sich vor ihm verbeugte, um den Kopf faßte und so heftig an den Knöpfen seines Rockes rieb, daß das ganze Gesicht des armen Poeten in Blut schwamm. Allerdings tat er dies erst, nachdem er auf seine an den König gerichtete Frage: »Sire, können Eure Majestät Molière entbehren?« von Ludwig dem Vierzehnten, der den Sinn dieser Frage wohl verstand, die wenig königliche Antwort erhalten hatte: »La Feuillade, ich bitte um Gnade für Molière«.
Die Zeit war nahe bevorstehend, da dem mißhandelten Voltaire sich ebenfalls kein König gnädig erwies.
Grazie und Geist, Leichtsinn und Eleganz, stets bereiter Witz und jene Geistesgegenwart, die eine Anzüglichkeit und eine Schmeichelei gleich zur Hand hat, waren in diesen Jugendjahren nicht der ganze Zauber, der von Voltaires Wesen ausging. Wenn er sogleich, vom ersten Anfang an, durch seine Prosa ändernd, umformend auf den Stil der Zeitgenossen wirkt, so beruht dies auf dem Quellstrudel in ihm, auf der untrüglich sicheren Natürlichkeit, die sich in seinen frischen, spontan hervorsprudelnden Einfällen Ausdruck gab.
Frauen waren diesen Vorzügen gegenüber so wenig unempfänglich wie Männer, und wiewohl Voltaire in verhältnismäßig frühen Jahren alle Erotik aufgab, stand er noch lange in dem Alter, wo, insbesondere in jenem Jahrhundert der Galanterie, ein hochbegabter junger Mann Abenteuer erlebt und, wenn nicht Herzen, so doch Sinne gewinnt.
Eine schöne und gefeierte Dame schlug ihm eine gemeinsame Reise nach den Niederlanden vor. Er hatte noch nichts anderes von der Welt gesehen als Frankreich. Er sagte nicht Nein. Er hatte ohnehin in jener Gegend sozusagen etwas zu besorgen. In Brüssel lebte ja sein älterer Dichterbruder Jean Baptiste Rousseau, mit dem er jahrelang artige und gegenseitig anerkennende Briefe gewechselt hatte und dessen Bekanntschaft er machen wollte. Allerdings beeilten weder er noch seine Schöne sich, diesen Bestimmungsort zu erreichen.
Gräfin Marie Marguerite Elisabeth de Rupelmonde, bekannt durch ihr prachtvolles rotblondes Haar und ihr dreistes Wesen, in den Augen ihrer Verehrer schön wie Aphrodite selbst, im Urteil ihrer Verleumder ohne jedwedes Interesse für Tugend, war die Tochter des Maréchal d'Aligre und im Jahre 1705 mit Maximilian de Récourt, Graf von Rupelmonde, der 1710 bei Villa Viciosa fiel, verheiratet worden. Freunde und Schätzer dieser berühmten Dame fanden bei ihr einen starken Hang zur Zärtlichkeit nebst einer großen Unsicherheit des Denkens und Glaubens in bezug auf die Welträtsel, wie sie in jener Zeit zur Erörterung kamen. Voltaire war, als sie 1722 gemeinsam ihre Reise antraten, achtundzwanzig Jahre alt, sie siebenunddreißig, also gerade in dem Alter, wo das Weib den ganz jungen Mann entzückt, den Reife und Erfahrung beim schönen Geschlecht ebenso stark anziehen, wie diese Eigenschaften, wenn er älter geworden ist, ihn in der Regel abstoßen.
Die erste Station, wo die beiden Reisenden Halt machten, war Cambrai, Kardinal Dubois' früherer Erzbischofsitz, wo eben damals ein Friedenskongreß begann, einer jener Kongresse, bei welchen die halbe Zeit damit verging, das Zeremoniell zu ordnen, die andere Hälfte, nichts auszurichten. In einem Brief Voltaires an den Kardinal Dubois aus Cambrai heißt es, es sei, als hätten alle Gesandten und Köche Europas sich hier ein Stelldichein gegeben; die deutschen Minister täten nichts, als auf das Wohl ihres Kaisers trinken; von den spanischen hörte der eine täglich zwei Messen, der andere dirigiere eine Schauspielertruppe; die englischen sendeten viele Eilboten nach der Champagne, wenige nach London usw. Voltaire behauptet, diesen Brief auf ausdrücklichen Befehl einer Schönheit an Seine Eminenz zu schreiben, und versäumt nicht mitzuteilen, wer die Schönheit sei, mit der er reist. Der Ton dem Kardinal gegenüber ist erstaunlich familiär und frei.
Man feierte in Cambrai Fest auf Fest, und die Diplomaten rissen sich um das Paar aus Paris, das auf eine höchst schmeichelhafte Art empfangen wurde. Kaum war die Vermählung des Infanten Don Carlos mit der Prinzessin von Beaujolais bekannt geworden, als der Graf von Saint-Estevan ein Festmahl samt Ball und Illumination veranstaltete und zwei Springbrunnen mit Wein zum Besten der Bevölkerung springen ließ. Worauf der Graf von Windischgrätz seinen Kaiser mit nicht geringerer Pracht und Herrlichkeit feierte. Und überall waren die beiden Reisenden aus Paris die Hauptpersonen. Bei einem Abendbrot ward ein allgemeiner Wunsch in Anwesenheit des Dichters laut, nächsten Tags den Oedipe zu sehen. Da jedoch das Repertoire auf Racines Lustspiel Les Plaideurs lautete, dessen Aufführung Windischgrätz gewünscht hatte, so richtete Voltaire in Madame de Rupelmondes Namen sogleich eine Bittschrift an Seine Exzellenz:
Seigneur, le congrès vous supplie
D'ordonner tout présentement
Qu'on nous donne tragédie
Demain pour divertissement.
Nous vous le demandons au nom de Rupelmonde etc.
Er überbrachte selbst die Bittschrift, erhielt sofort die Bewilligung und teilte sie seiner unwiderstehlichen Mitreisenden mit folgender Anschrift mit:
L'amour vous fit, aimable Rupelmonde,
Pour décider de nos plaisirs.
Je n'en sais pas de plus parfait au monde
Que de répondre à vos désirs.
Sitôt que vous parlez, on n'a pas de réplique;
Vous aurez donc
Oedipe, et même sa critique.
L'ordre est donné pour qu'en votre faveur
Demain l'on joue et la pièce et l'auteur.
Man wollte das Stück spielen, sowie dessen Verfasser zum Narren haben, das heißt, nach Oedipe die Parodie darauf spielen: Dominiques Oedipe travesti.
Ein Brief Voltaires an Thiériot von dieser Reise verrät, daß er der schönen Rupelmonde keineswegs immer treu war. Ein Gedicht ihr zu Ehren Les deux Amours (A Madame la marquise de Rupelmonde) will der Welt gegenüber feststellen, daß die Liebe, die er für sie fühlt, von einer reineren und höheren Art ist als die gewöhnliche und daher beständig wächst. Dieses Gedicht hat nur bedingten Wert, wie so viele der gereimten galanten Schmeicheleien jenes Zeitalters, in welchen allerdings keiner solch ein Meister war wie Voltaire. Aber noch ein anderes kleines Gedicht von der Reise, an die Gräfin gerichtet, liegt vor, das, wenn auch im Zeitstil mythologisch, Gefühl verrät. Es beginnt mit einer Schilderung, daß es Apollo sowohl wie dem Meeresgott gelang, derart vermummt in Menschengestalt aufzutreten, daß niemand sie erkannte, während Venus bei einem gleichen Versuch, sich als die Dame zu verkleiden, die wir kennen, kläglich scheiterte:
Mais c'est en vain qu'abandonnant les cieux
Vénus comme eux veut se cacher au monde;
On la connaît au pouvoir de ses yeux
Dès que l'on voit paraître Rupelmonde.
Dies alles sind jedoch Bagatellen. Von bleibendem Wert ist von den dieser Reise entstammenden Gedichten nur der an seine Freundin gerichtete bedeutungsvolle Reimbrief: Epître à Uranie. Sie hatte ihm in Holland ihre religiösen Zweifel und ihre geistige Ratlosigkeit mitgeteilt. Da er, ohne sich einer Gefahr auszusetzen, ihr auch nicht in poetischer Form offen seine Gedanken entwickeln konnte, schrieb er, ungefähr wie vor ihm Pierre Bayle, so, daß er die entgegengesetzten Anschauungen zu Wort kommen ließ. Daher der Titel Le Pour et le Contre. In Wirklichkeit aber herrscht kein Zweifel darob, welcher der beiden Anschauungen der Dichter huldigt und wir haben hier, zum erstenmal ausgedrückt und in bündigen Versen, Voltaires jugendliche Betrachtung des Lebens.
Er ließ das Gedicht zehn Jahre ungedruckt liegen, wie es war. Dann erschien es anonym. Aber erst volle fünfzig Jahre später, im Jahre 1772, wagte er es, ihm einen Platz in seinen Werken zu geben. Es beginnt damit, daß sie von ihm Antwort verlangte, als sei er ein zweiter Lucretius:
Tu veux donc, belle Uranie,
Qu'érigé par ton ordre en Lucrèce nouveau,
Devant toi, d'une main hardie,
Aux superstitions j'arrache le bandeau;
Que j'expose à tes yeux le dangereux tableau
Des mensonges sacrés, dont la terre est remplie,
Et que ma philosophie
T'apprenne à mépriser les horreurs du tombeau
Et les terreurs de l'autre vie.
Nun stellt er auf die knappste, klarste Art die Widersprüche und Ungereimtheiten in der biblischen Überlieferung dar, in diesem Gotte, der die Menschen schuldig macht, um das Recht zu haben, sie zu strafen, und der den Hang zum Vergnügen in das Wesen der Menschen gelegt hat, um sie um so besser mit Qualen peinigen zu können, die wie durch ein Wunder niemals ihr Ende finden. Dieser Gott schafft den Menschen in seinem Bilde, bereut es aber sofort. Blind in seinen Wohltaten und blind in seinem Zorn, wie er ist, hat er die Menschen kaum hervorgebracht, als er sie schon wieder ausrotten will und die Sintflut steigen läßt. Nachdem er die Väter ertränkt hat, will er selbst für die Kinder sterben:
Je veux aimer mon Dieu, je cherche en lui mon père:
On me montre un tyran que nous devons haïr.
Il créa des humains à lui-même semblables
Afin de les mieux avilir.
Il nous donna des cœurs coupables
Pour avoir droit de nous punir;
Il nous fit aimer le plaisir,
Pour nous mieux tourmenter par des maux effroyables
Qu'un miracle éternel empêche de finir.
Il venait de créer un homme à son image,
On l'en voit soudain répentir,
Comme si l'ouvrier n'avait pas dû sentir
Les défauts de son propre ouvrage.
Aveugle en ses bienfaits, aveugle en son courroux
A peine il nous fit naître, il va nous perdre tous.
Il ordonne à la mer de submerger le monde.
— — — — — — — — —
Va-t-il dans le chaos plonger les éléments?
Ecoutez, ô prodige! ô tendresse! ô mystères!
Il venait de noyer les pères,
Il va mourir pour les enfants.
Zum erstenmal berührt Voltaire hier auch die christliche Tradition. Es steht als Widersinn aller Widersinne vor ihm, daß Gottes Sohn, Gott selbst, sich in einem kleinen abergläubischen und unwissenden Volk zur Welt bringen läßt, in einem Volke, das von anderen Völkern überwunden, von ihnen abhängig und geringgeschätzt war.
Le fils de Dieu, Dieu même, oubliant sa puissance
Se fait concitoyen de ce peuple odieux;
Dans les flancs d'une Juive il vient prendre naissance
Il rampe sous sa mère, il souffre sous ses yeux
Les infirmités de l'enfance ...
Der Dichter erzählt dann nach den Evangelien das Leben Jesu und seinen Tod und hebt das Erstaunliche hervor, daß selbst dieser Tod sich unzureichend erweist, Gottes Zorn zu stillen:
Quoi! Dieu voulut mourir pour le salut de tous,
Et son trépas est inutile!
Quoi! l'on me vantera sa clémence facile,
Quand remontant au ciel il reprend son courroux.
Besonders verweilt er bei der Ungereimtheit, daß die Erbsünde sich trotz alledem wirksam erweisen soll und daß Völker, die nie vom Christentum reden gehört, als Nicht-Christen gestraft werden können:
Ayant versé son sang pour expier nos crimes,
Il nous punit de ceux que nous n'avons pas faits.
Ce Dieu poursuit encore, aveugle en sa colère,
Sur ses derniers enfants l'erreur d'un premier père.
Il en demande compte à cent peuples divers
Assis dans la nuit du mensonge;
Il punit aux fonds des enfers
L'ignorance invincible où lui-même il les plonge,
Lui qui veut éclairer et sauver l'univers.
Diese Ideen waren es ja, auf denen er in Wirklichkeit die große, noch unveröffentlichte Dichtung aufgebaut hatte, mit welcher er sich so lange beschäftigte – man nannte sie damals La Ligue –, dieselbe, die später den Titel Henriade führen sollte, – ein schwaches Werk für die Nachwelt, aber für alle kommenden Zeiten eine große Tat. Wie lange war es her, daß die Besten des Zeitalters Ludwigs des Vierzehnten die Bartholomäusnacht verdienstvoll, mindestens entschuldbar gefunden hatten? Wie wenige Jahre waren verstrichen, seit die sanftmütigsten Männer wie Fénélon, die gutherzigsten wie Lafontaine, die klügsten wie La Bruyère, ja Frauen wie Madame de Sévigné die Vertreibung der Huguenotten aus Frankreich gebilligt, ja bewundert hatten! Bossuet hat gejubelt, als das zu Nantes gegebene Duldsamkeitsversprechen aufgehoben wurde: »Lasset uns hinausrufen dies Wunder unserer Tage! Lasset unsere Herzen überströmen von Freude über Ludwigs Frömmigkeit und lasset unseren Jubel gen Himmel steigen!«
In dieser uns so gleichgültigen Dichtung, vor der die Zeitgenossen fast in Ohnmacht fielen, und von welcher der große Friedrich in der Vorrede erklärte, der bloße Traum Heinrichs des Vierten sei mehr wert als die ganze Iliade, führte Voltaire mit damals ungeahnter Kühnheit die Sache der Menschlichkeit. Hier entlarvte er die Dummheiten und Schrecken der Religionskriege. Wie Friedrich mit Recht fühlte, aber nicht richtig zum Ausdruck brachte, indem er Voltaire »das Feuer der Einbildungskraft« zuspricht, hat der Dichter die ihm zu Gebote stehende Beredtsamkeit hier angewandt, um seinem Jahrhundert die Torheiten der Vorväter derart vor Augen zu führen, daß er die Zeitgenossen für immer gegen die Rückkehr dieser Torheiten sicherte.
Während Voltaire diese Dichtung vorbereitete und verbesserte, raste in Europa noch die religiöse Mordlust. Im Jahre 1721 ließ unter den spanischen Städten eine einzige kleine Stadt wie Granada auf ihrem großen Gipsschafott, wo vier Öfen zugleich Menschenfleisch verzehren konnten, neun Männer und elf Frauen bei lebendigem Leibe in Autodafés verbrennen. Zwei Jahre später, als die Henriade eben vollendet war, ließ in Madrid der französischgeborene Philipp der Fünfte und sein Hof die Ankunft der neuangekommenen kleinen französischen Prinzessin durch die Verbrennung von neun lebenden Menschenleibern feiern, so daß die Prinzessin mit Entsetzen die Schreie hörte und den Geruch des verbrannten Fleisches einatmete. Diese Scheiterhaufen waren es, die Voltaire mit der heutzutage verspotteten Henriade zu löschen trachtete.
Bisher hatte das Mitleid, das man zu nähren sich bestrebte, nicht den Menschen gegolten, sondern der vermeintlich beleidigten Hostie. Wenn die Reiter Ludwigs des Vierzehnten während der Dragonaden überall bei den Protestanten eingemietet wurden, behufs Folterung der Männer und Vergewaltigung der Frauen, so geschah dies aus Mitleid mit der armen Hostie, die unsäglich litt, wenn die verdammten Huguenotten sie verschlangen. In dem Gedicht La Ligue, das in Wirklichkeit das Gedicht von der Bartholomäusnacht ist, ist es zur Abwechselung einmal der Mensch, der der Gegenstand des Mitleids geworden ist.
Das Gedicht war allerdings der Bewunderung für Heinrich den Vierten entsprungen, die anfänglich Caumartin in dem Gemüt Voltaires geweckt hatte; doch der tiefere Ursprung der Henriade war die Empörung, in die der grausame Aberwitz der Religionskriege ihn versetzt hatte, die Entrüstung über den albernen Blutdurst der Menschen. Er wußte nicht, daß die Zeit der Kunstepopöen vorbei, die Kunstart selbst insofern leblos geworden war, als sie nach den Begriffen seiner Zeit Vollkommenheit nur durch Nachahmung erreichte.
Homer war in Voltaires Augen lebendig, aber kindlich, Vergil ein Meister in der Komposition – er ahmt ihm denn auch hartnäckig nach –, überdies höchst elegant; die Aeneide dagegen litt nach seiner Ansicht darunter, daß der Held süßlich, gleichgültig, außerdem unhistorisch war. Er selbst war nicht kindlich – dies war sein geringster Fehler – und er hatte einen sympathischen bedeutenden Helden gefunden, einen hervorragenden König, eine Gestalt von unzweifelhafter historischer Verläßlichkeit.
Er verstand nicht, daß anekdotische, gereimte Geschichte noch lange nicht dasselbe sei wie erzählende Dichtung; er hielt überdies mit seinem Mangel an Naivetät Galanterie für Liebe, Allegorie für hohen dichterischen Stil.
Soviel aber muß zu seinem Lobe gesagt werden:
Er hat hier einen Helden ausfindig gemacht, der vollständig in Vergessenheit geraten, ganz in den Schatten gesetzt war von dem pompösen und hohlen Ludwig dem Vierzehnten – vergessen als ursprünglicher Protestant, vergessen als Feind Spaniens, mit dem Frankreich sich damals durch Heirat verband, vergessen endlich als der schlichte Mensch, le vert galant, dessen große Tugenden und in Frankreich leicht verziehene Fehler ihn zum Nationalhelden weit geeigneter machten als Ludwig. Es ist Voltaire, der Heinrich den Vierten für alle folgenden Zeiten zum Nationalhelden erhoben hat, sogar für die, bei denen das zu seiner Verherrlichung geschriebene Gedicht nicht mehr gelesen wird.
Heutzutage ist das Werk mit Recht in Vergessenheit geraten, umrandet wie es ist von Rhetorik und Deklamation, von unleidlichen Allegorien, von Nachahmungen Vergilischer Vorbilder, die falsch und kalt wirken. Die Wunder, die darin vorkommen, sind fade, z. B. wo die Belagerten bei ihrem Biwak Heinrich in den Wolken auf dem Triumphwagen des Sieges erblicken. Der Gottesglaube, der die Dichtung durchdringt und rationell sein will, wirkt aufreizend durch seine Sinnlosigkeit, wie an der Stelle, wo Heinrich des Dritten Mord durch folgende Verse erklärt wird:
La mort impatiente attendait sa victime,
Et pour perdre Valois Dieu permettait un crime.
oder im zehnten Gesang bei Aumales Tod im Zweikampf, der damit begründet wird, daß er nicht an Gott glaubte:
J'attends tout de mon bras,
C'est de nous que dépend le destin des combats.
Für unser Urteil streift es an Komik, wenn Ludwig der Heilige sich Heinrich offenbart und ihm (mit einer mißlungenen Nachahmung des sechsten Buches der Aeneide) die Hölle zeigt, an deren Pforten langweilige Allegorien ihre müden Glieder strecken. Neid, Hochmut, Schwäche, Ehrgeiz, Heuchelei sind jeder für sich mit Attributen ausgestattet, die zur Not malerisch, leider aber niemals gestaltenbildend sind. Überhaupt wirkt es wehmütig, daß Voltaire in diesem Werke unter dem unermeßlichen Beifall der Mitwelt das einzige erreicht hat, was ihm gar nicht lag und was er am wenigsten erstrebte: so recht tief und von Grund auf langweilig zu sein.
Mit dürftigem Rationalismus erklärt der heilige Ludwig dem Helden der Dichtung, wie Gottes Vaterherz ihm verbiete, die Höllenstrafen endlos zu machen:
Ne crois point, dit Louis, que ces tristes victimes
Souffrent des châtiments qui surpassent leur crimes!
Wenn Gott die Unendlichkeit anwendet, so geschieht es, wo er belohnt, nicht wo er sich rächt:
Sur la terre on le peint l'exemple des tyrans;
Mais ici c'est un père qui punit ses enfants;
Recht drollig wird Heinrich, der auf einem gewissen Gebiete der himmlischen Nachsicht wohl bedarf, von dem heiligen Ludwig darauf aufmerksam gemacht, daß Gott flüchtige Belustigungen nicht mit schrecklichen Strafen belegt:
Il adoucit les traits de sa main vengeresse;
Il ne sait point punir des moments de faiblesse,
Des plaisirs passagers, pleins de trouble et d'ennui,
Par des tourments affreux, éternels comme lui.
Es war vor zweihundert Jahren sowohl neu wie notwendig, solch einen Trost zu spenden.
Schwieriger noch, als dem Vernunftgläubigen die Hölle präsentabel zu machen, fiel es Voltaire, eine befriedigende Vorstellung von der Seligkeit zu geben. Indessen sagt er sehr schön von den Insassen der himmlischen Wohnungen:
Ils désirent sans cesse, et sans cesse ils jouissent,
Et goûtent, dans les feux d'une éternelle ardeur
Des plaisirs sans regrets, du repos sans langueur.
Hier weilt unter anderen Helden und Heldinnen ein Weib, um dessen Ruf Voltaire sich späterhin wenig verdient gemacht hat, das aber in der Henriade, wie auch danach im Essai sur les mœurs mit allen Ehren genannt wird. Jeanne d'Arc wird hier als Stütze des französischen Throns und als diejenige bezeichnet, deren Tod den Engländern zur Schande gereicht:
et vous, brave Amazone,
La honte des Anglais et le soutien du trône!
Es finden sich beredte und gutgeschriebene Stücke in der Henriade, wie z. B. die Schilderung der Bartholomäusnacht im zweiten Gesang.
Und es wirkt ebenso überraschend wie wohltuend, wenn an der Stelle, wo der heilige Ludwig den Sternenhimmel beschreibt, offenbar bei der letzten Redaktion der Dichtung, Newtons Lehre von der gegenseitigen Anziehung der Himmelskörper eingeflochten ist, mit mustergültiger Einfachheit und Klarheit zusammengefaßt. Von der Sonne heißt es:
De lui partent sans fin des torrens de lumière;
Il donne en se montrant la vie à la matière,
Et dispense les jours, les saisons et les ans,
A des mondes divers, autour de lui flottans.
Ces astres, asservis à la loi qui les presse,
S'attirent dans leur course et s'évitent sans cesse;
Et, servant l'un à l'autre de règle et d'appui,
Se prêtent les clartés qu'ils reçoivent de lui.
Endlich ist ganz ergötzlich, neben einer Lobrede auf das englische Parlament auch folgender Verspottung der Stände in Blois zu begegnen, die für Voltaire müßige parlamentarische Diskussion symbolisieren:
De mille députés l'éloquence stérile
Y fit de nos abus un détail inutile;
Car de tant de conseils l'effet le plus commun
Est de voir tous nos maux sans en soulager un.
Dabei hat die Dichtung allerdings die abschreckenden Eigenschaften des akademischen scheinklassischen Stils; ein Übermaß an edeln Ausdrücken merzt alles Lebendige und Sinnkräftige aus. In der Zeichnung Heinrichs ist kein einziger Zug, der wirklich kennzeichnet und in der Erinnerung haftet; in seinem Freunde Mornay keine einzige Eigenschaft, die nicht jedem Konfident eines damaligen Tragödienhelden zukäme. Die Gleichnisse leiden durch die Einmischung klassischer Mythologie, wie z. B. da, wo das Einhauen der Bourbons auf den Feind mit einem sich den Weg bahnenden Bergstrom verglichen und sodann das Tal, in das er eindringt, in dessen Nymphen verkörperlicht wird:
Comme on voit un tourrent, du haut des Pyréenées,
Menacer des vallons les nymphes consternées.
Es gibt überhaupt keine Umgebung in der Natur, keine Landschaft, keinen Grashalm in der Dichtung. Wie ich einmal darüber schrieb: »Es ist kein Futter da für die Pferde«. Die Winde sind Zephire, die Bauern sind Hirten; das Wort Bauer wäre als platt betrachtet worden. Geradezu burlesk wirkt es, zu sehen, welche Anstrengungen Voltaire macht, welcher Umschreibungen er bedarf und wieviele Zeilen er anwendet, bloß um nicht das Wort Hund gebrauchen zu müssen:
Tels, au fond des forêts, précipitant leur pas,
Les animaux hardis, nourris pour les combats,
Fiers esclaves de l'homme, et nés pour le carnage,
Pressent un sanglier, en raniment la rage,
Ignorant le danger, aveugles, furieux,
Le cor excite au loin leur instinct belliqueux.
Soweit Voltaire im übrigen seinen Umgebungen voraus ist, so steht er hier, rein künstlerisch gesehen, genau auf dem Standpunkt dieser Umgebungen, bis ins Mark beherrscht von der Vorstellung des Scheinklassizismus, von dem guten Geschmack, dem Abgott, den das Zeitalter inbrünstiger und ernster anbetet als sogar jenen guten Gott des Deismus, den Schattengott, den es sich erhalten hat.
Voltaire bewahrt und hütet diesen Gott, bald als nützliches Schreckgespenst gegenüber den gefährlichen Instinkten des Haufens, bald als Schöpfer, aus reinem Mangel an Fähigkeit, sich die Weltordnung anders hervorgebracht zu denken als durch ein persönliches Machtgebot; allein er huldigt ihm stets mit auffallender Kälte.
Den guten Geschmack dagegen betet er mit wahrer Begeisterung an, jenen Geschmack, der durch die vereinigten Bestrebungen der Besten von Ludwig des Dreizehnten Zeit und unter dem Augustinischen Zeitalter des Vierzehnten erworben worden war. Er ist der Triumph der Zivilisation und zugleich das Merkzeichen wahrer Bildung.
An sich war ja der Begriff des Klassischen ein nebelhafter, namentlich wie er sich aus den untereinander so ganz verschiedenartigen Werken des griechischen und römischen Altertums durch mindestens fünf Jahrhunderte ausgeschieden hatte. Man hatte überhaupt zu jenem Zeitpunkt vergessen, welch tiefe Urmenschlichkeit, welch kühner Wirklichkeitssinn, ungehindert von jedweder von außenher gegebenen Regel, in dem griechischen Epos und der griechischen dramatischen Kunst zu Wort gekommen war. Das Volkstümliche betrachtete man als plump, das Naive als kindisch, das Mirakulöse als Zeugnis barbarischen Aberglaubens, ohne das Wunder einen Augenblick nach seinem künstlerischen Gehalt zu schätzen.
Daß brennende Gefühle keine Hofsprache vertragen, daß tiefe Eindrücke der Qualen und Lächerlichkeiten des Erdenlebens ohne Rücksicht auf irgendwelches Herkommen sich selbst ihre Form geben, war etwas, was man nicht mehr begriff. Adel der Ausdrucksweise war, wo man ihn bei den Griechen gefunden hat, etwas, das sich von innen heraus gebildet hatte, und neben dem großen Stil konnten Kühnheit und Derbheit sehr wohl ihren Platz finden. Jetzt wurden Würde und Adel an und für sich ein Ziel, dem man sogar durch Abstraktionen und Umschreibungen nachstrebte. War man im Altertum zu Klarheit und Harmonie gelangt, so kam dies selbstverständlich daher, daß man harmonisch gefühlt und klar gedacht hatte. Allein auch die Dichter des Altertums waren nicht selten ergriffen gewesen von dem Geheimnisvollen des Daseins, das jene Klarheit ausschließt, welche bloß Durchsichtigkeit ist; ferner hatten sie sich nie gescheut, in ein und demselben Werke, mochte es nun episch, tragisch oder komisch sein, das Feierliche mit dem volkstümlich Dreisten oder den lyrischen Aufschwung mit der komischen Karikatur zu vermengen. In Voltaires Augen dagegen bestand der gute Geschmack in dem reinlichen Auseinanderhalten der verschiedenen Arten und Ausdrucksweisen, so daß er sich entsetzte oder höhnisch lachte, wenn er jene Elemente vermischt sah. Und was endlich die Pflicht der Klarheit betraf, so faßte er diese so energisch, ja andächtig auf, daß er unwillkürlich das Zusammengesetzte simplifizierte und oberflächliche Erklärungen des Rätselhaften gab. Eine vermeintlich aller guten Kunst zugrunde liegende Regel und Konvenienz gehörte zu dem, woran er am festesten glaubte.
Wie wir sahen, fand Friedrich der Große in der Henriade »glühende Einbildungskraft«. Wir jetzt Lebenden sehen darin bloß eine aus dem Verstand oder, wo der Grund ein wenig tiefer ist, aus der Vernunft geschöpfte Beredtsamkeit. In Wirklichkeit war es im achtzehnten Jahrhundert, wie dieses sich unter Voltaires Einfluß formte, die Vernunft, die alles andere ersetzen mußte und die sich nach der Grundauffassung jener Zeit jeweils als Talent, Genie, als Tugend, Geist und Geschmack vermummte. Marie Joseph Chénier hat dies gegen Ende des Jahrhunderts auf treffende Art in einem Gedicht ausgedrückt:
C'est le bon sens, la raison, qui fait tout;
Vertu, génie, esprit, talent et goût,
Qu'est-ce vertu? raison mise en pratique;
Talent? raison produit avec éclat;
Esprit? raison qui finement s'exprime.
Le goût n'est rien qu'un bon sens délicat;
Et le génie est la raison sublime.
Diese Verse enthalten einen Teil der Psychologie und Ethik des Voltaireschen Jahrhunderts, dessen ganze Grundauffassung der Poesie.
In Cambrai fühlte sich Voltaire, wie er von dort an Thiériot schrieb, glücklicher, als er jemals in Paris gewesen war. Wenn es so weiter gehe, kehre er sicherlich seiner Vaterstadt den Rücken, es sei denn, daß Thiériot verspreche, ihn ewig lieben zu wollen; diese Wendung ist eine der Artigkeiten, an denen der große Schmeichler niemals spart. Sicher aber ist, daß er die gastfreie Aufnahme sehr angenehm empfunden hat. Danach ging es nach Brüssel, nicht zum wenigsten, weil er mit J. B. Rousseau zusammentreffen wollte.
Der damals 51jährige landesverwiesene Dichter langweilte sich in seiner Verbannung. Als Talent ein wunderlich komplizierter Mensch, war er im Besitz einer ungewöhnlichen technischen Begabung für den Vers, einer seltenen Fähigkeit, den richtigen Ausdruck zu finden und sich mit sicherem Schwung zum Odenflug zu erheben. Daneben war er seinem Trieb und Hang nach ein boshafter Satiriker, der Stichelreden und spöttelnde Witze unmöglich länger zurückzuhalten vermochte, als bis sie geformt und zu persiflierenden Versen geschärft waren, eine Natur, die sich von keinem erwiesenen Dienst, nicht einmal von einer ganzen Reihe wirklicher Freundschafts- oder Gnadenbeweise hindern ließ, gegebenenfalls ihre Galle über den Helfer oder Beschützer zu entleeren.
Hierzu kam noch ein weiterer Kontrast: Rousseau wurde als Odendichter immer religiöser und inbrünstiger. Als Epigrammatiker hat er wohl das Anstößigste geschrieben, was in der französischen Sprache zu finden ist, und diese unanständigen Epigramme sind fast durchgängig gegen die Kirche, besonders gegen Mönche und Nonnen gerichtet.
Schon als junger Mann hatte Jean Baptiste, nachdem er einige Schauspiele und Gedichte geschrieben, die gefielen, verschiedene vornehme Beschützer gefunden, so den obenerwähnten Baron de Breteuil, Vater der Madame du Châtelet, und Herrn von Francine, den Direktor der Oper, was ihn jedoch nicht abhielt, sich bei erster Gelegenheit mit den beiden zu entzweien.
Er zählte unter die Stammgäste eines an der Ecke der Rue Dauphine und der Rue Christine gelegenen literarischen Pariser Cafés, dessen Wirtin eine Witwe namens Laurent war. Literaturfreunde, Maler, Musiker, Dichter und Denker pflegten sich hier zu treffen. Die Schreibenden verfehlten nicht, einander ihre Verse vorzulegen. Sie wurden beurteilt und nicht selten verspottet, was natürlich häufig genug böses Blut machte. Von diesem Kaffeehaus gingen also lustige Weisen und beißende Epigramme aus.
Eine besonders gute Kameradschaft scheint unter diesen Schöngeistern nicht geherrscht zu haben, wie die ja unter Menschen mit verwandten Talenten auch selten vorzukommen pflegt. Und namentlich Rousseau fiel es schwer, seiner Bosheit Zügel anzulegen. Alles in allem ist dieser geschlossene Zirkel offenbar ein schreckliches Nest gewesen, in welchem die meisten Besucher unter der Maske der Freundschaft jedem Mitglied der Clique, das sich einigen Erfolgs rühmen konnte, mit herzlicher Mißgunst zu Leibe rückten.
Auf ein überaus höhnisches Epigramm Rousseaus antwortete der Poet Danchet mit einem Couplet, dessen erste vier Zeilen der Schärfe nicht entbehren:
Fils ingrat, cœur perfide,
Esprit infecté,
Ennemi timide,
Ami redouté.
Es war etwas Treffendes in der Bezeichnung Rousseaus als »furchtsamer Feind, gefürchteter Freund« – ein Wort, das auf viele paßt. Voltaire behauptet in seiner Vie de M. J. B. Rousseau (1738), Rousseau habe nicht weniger als 72 Epigramme auf die Stammgäste jenes Cafés geschrieben. Auf die Zahl kommt es nicht an, wohl aber auf die zügellose, satirisch boshafte Denkungsart.
Eben zu jenem Zeitpunkt (1701) erhielt Rousseau jedoch einen neuen sehr wirksamen Beschützer in dem Herzog von Noailles und hatte die Befriedigung, sein Stück La ceinture magique der Herzogin von Bourgogne von großen Herren, sogar von Prinzen des königlichen Hauses, vorgespielt zu sehen.
Dennoch waren es nicht seine Theaterstücke, sondern seine Oden, mit denen er durchdrang. Nicht leicht und nicht sogleich. Er ließ sich in einen Wettstreit mit dem obengenannten Antoine de la Motte-Houdart ein, dem Verfasser der damals bewunderten Tragödie Inès de Castro, und als im Jahre 1707 die Französische Akademie eine Prämie auf die beste Ode Der Ruhm des Königs aussetzte, erhielt La Motte alle Stimmen auf Kosten Rousseaus.
Rousseau erwiderte mit den für ihn üblichen Waffen. Er schrieb Verse auf Abbé Bignon, obwohl dieser ihm doch seinen Platz in l'Académie des inscriptions et belles lettres verschafft hatte, und sogar auf den Herzog von Noailles, weil die Hilfe, die er sich von dem Herzog versprochen, um in die Académie française aufgenommen zu werden, sich als nicht wirksam genug erwies. La Motte wurde aufgenommen, während Rousseau nicht in Erwägung gezogen wurde.
Außer sich vor Erbitterung schrieb Rousseau ein außerordentlich höhnisches Gedicht von vierzehn Strophen gegen La Motte und dessen sämtliche Freunde, die das Café besuchten. Er griff darin den Hauptmann der Garde, La Faye, an, der sich körperlich rächte, ferner Boindu, den Abbé von Bragelongue, Crébillon, und endlich einen Mann von besonders schroffem Charakter, den Mathematiker Joseph Saurin, der in seiner Jugend in Lausanne Kalvinist gewesen und in Frankreich Katholik geworden war, eine energische und freimütige Natur. Er pflegte den Leuten gerade ins Gesicht zu sagen, was er von ihnen dachte, und hatte deshalb nicht viele Freunde.
Saurin setzte nun die Verweisung Rousseaus aus dem Café durch. Um sich zu rächen, schmiedete der Oden- und Epigrammendichter den ganz absonderlichen Plan, Saurin anzuklagen, selbst das beleidigende Gedicht geschrieben zu haben, das seine Freunde und ihn persönlich verhöhnte.
Rousseaus Berechnung war nicht so töricht, wie es den Anschein hat: sie lief darauf hinaus, daß man bei der Verhaftung eines Mannes wie Saurin, der einen Religionswechsel hinter sich hatte, ganz sicher unter seinen Papieren mehr als genug finden werde, um ihn für geraume Zeit in Gewahrsam zu halten.
Rousseau bestach also einen elenden Schustergesellen, auszusagen, daß Saurin ihn heimlich beauftragt habe, sein Schmähgedicht bei den Angegriffenen die Runde machen zu lassen. Er selbst tat bei der Frau des Kriegsministers, Madame de Voisin, einen Kniefall und rief ihren Schutz gegen den ehrschänderischen Saurin an. Sie schrieb selbigen Tags an den Oberkriminalrichter Le Comte, und Saurin wurde sofort verhaftet (September 1710).
Hatte der also Überrumpelte auch persönlich wenige Freunde, so erhielt er nun mit einem Male sämtliche Feinde Rousseaus zu Freunden und Beschützern. Und deren Zahl war groß genug. Fontenelle, den Rousseau gekränkt hatte, fand sich im Gefängnis ein und bot Saurin seine Börse an. Alle Welt kam zu seinem Beistande herbei und reichte Bittschriften für ihn ein. Entscheidend wurde die alberne Ungereimtheit der Anklage, Saurin solle der Urheber eines ihn selbst herunterreißenden Pamphletes sein. Nach zwei Monaten wurde er freigelassen und erhielt die Erlaubnis, seinerseits Rousseau beim Kriminalgericht zu belangen.
Rousseau blieb nichts übrig als die Flucht. Das Urteil des Parlaments lautete auf lebenslängliche Landesverweisung, weil er »unsaubere, satirische, andere entehrende Verse verfaßt und verbreitet und danach unzulässige Kniffe angewandt habe, um der gegen Saurin gerichteten verleumderischen Anklage Anerkennung zu verschaffen.«
Er fuhr zuerst nach der Schweiz, wo der Graf von Luc sich seiner annahm, bis er dessen Sohn beleidigte und das Haus verlassen mußte. Dann kam er nach Wien, wo Prinz Eugen ihn einige Jahre unter seine Obhut nahm. Von Wien aus war er nach Brüssel gereist in der Hoffnung, daß der Marquis von Prie, der in den Niederlanden kommandierte, ihm irgendeine Stelle überlassen würde. Lord Cadogan, der sich in dem Haag aufhielt, nahm ihn nach England mit und verschaffte ihm dort Subskribenten für seine Werke. Bei seiner Rückkehr nach Brüssel verscherzte er jedoch die Gunst seines Beschützers, indem er mit seinem unseligen Hang zur Satire dem Grafen von Bonneval bei einem Schmähgedicht, das dieser gegen den Prinzen Eugen schrieb, behilflich war, und verwirkte so das ihm bis dahin von dem Prinzen bewilligte Jahrgeld.
So war der Mann beschaffen, dem Voltaire so sehnlich zu begegnen wünschte: ein unzweifelhaft begabter Lyriker, ein boshaft witziger Satiriker, aber ein keineswegs untadeliger und höchst schwierig zu behandelnder Herr. Da auch Voltaire seinerseits ein recht heikler Umgangsgenosse war, einen verwandten Hang zu unbeherrschter Satire und überdies – in diesen frühen Jugendjahren – die Neigung besaß, sich ohne Rücksicht auf die Eitelkeit seines Nächsten geltend zu machen, wie es bei hervorragenden und insbesondere frühzeitig verwöhnten jungen Männern nicht selten der Fall ist, so kann es nicht wundernehmen, daß die Harmonie zwischen dem älteren und dem jüngeren Dichter nicht lange erhalten blieb.
Zu Anfang ging alles vortrefflich. Selbst der Umstand, daß Rousseau als erstes, was ihm über Voltaire zu Ohren kam, von dem störenden Unfug hörte, den der junge Mensch während des Gottesdienstes in einer Kirche getrieben hatte, tat seinen wohlwollenden Gefühlen keinen Abbruch. Es gibt einen Brief Rousseaus an einen Freund (vom 22. September 1722), in welchem er sich mit größter Wärme über den jüngeren Berufsgenossen ausspricht:
Herr de Voltaire hat elf Tage hier verbracht, während derer wir uns fast nicht getrennt haben. Ich war entzückt, einen jungen Mann zu treffen, der zu so großen Hoffnungen berechtigt. Er hat die Güte gehabt, mir fünf bis sechs Tage seine Dichtung (die Henriade) anzuvertrauen. Ich kann Sie versichern, daß das Werk seinem Verfasser die größte Ehre macht. Unser Volk brauchte ein Werk wie dieses: die Ökonomie darin ist bewundernswert, und die Verse sind bis auf einzelne schwache Stellen, deren Mängel er mir jedoch zugestanden hat, vollendet schön. Ich habe nichts darin gefunden, das mit Recht kritisiert werden könnte.
Es war Voltaires Absicht, die Henriade im Haag drucken zu lassen; er hatte gute Gründe zu fürchten, daß der Druck ihm in Frankreich nicht gestattet sein würde, und als er im Haag ankam, traf er die vorbereitenden Schritte. Holland wurde ja damals von allen Denkern als Freistatt der Literatur, als geschütztes Asyl der freien Gedanken betrachtet.
Der Haag selbst gefiel ihm außerordentlich, insbesondere wenn die Sonne gnädig schien. Holland gewann auf den ersten Blick sein Herz. Er erfreute sich an Feldern und Wiesen, an den grünen Bäumen und den Kanälen, die zusammen ein sich vom Haag bis nach Amsterdam erstreckendes irdisches Paradies bildeten. Amsterdam, dazumal das Warenlager Europas, flößte ihm Respekt ein. Mehr als tausend Schiffe lagen im Hafen, und unter den 500 000 Einwohnern fand er nicht einen Müßiggänger, nicht einen Gecken, nicht einen Armen, nicht einen Unverschämten. Und er sah mit derselben Bewunderung, wie Holberg sie angesichts derartiger Züge des Volksgeistes fühlte, den Premierminister der Republik zu Fuß und unbegleitet von Lakaien mitten in dem Menschenschwarm sich ergehen. In Holland bildete niemand Doppelspalier, um einen Prinzen vorübergehen zu sehen. Voltaire sah nur Einfachheit und Arbeitsamkeit. Und was noch dazu kam: er, der sein lebelang nicht müde wurde, über seine schwankende Gesundheit zu klagen, fühlte sich hier in Holland endlich frisch und gesund.
Diese gute Stimmung verlor sich jedoch bei dem nächsten Wiedersehen mit Rousseau, das die bisherige Freundschaft in eine von beiden Seiten gleich erbitterte und hartnäckige Feindseligkeit verwandelte, welche bis zu dem Tage währte, da einer der beiden Teile vom Tode hinweggerafft wurde. Beider Natur war ja so reizbar, daß ein Geringes die Freundschaft zu zerreißen vermochte, und überdies so streitbar und rachlustig, daß die Gegnerschaft den rücksichtslosesten Ausdruck finden mußte. Tatsächlich wurden sie es, von dem Augenblick ihrer Trennung an, durch sechzehn Jahre nicht müde, einander mit unauslöschlichem Haß anzuschwärzen, zu verhöhnen und zu schädigen.
Um einen Begriff von Rousseaus Angriffsweise zu geben, seien bloß folgende gegen Voltaire gerichtete Verse aus seiner Feder angeführt:
Petit rimeur antichrétien,
On reconnaît dans tes ouvrages
Ton caractère et non le mien,
Ma principale faute, hélas je m'en souviens,
Vint d'un cœur qui, séduit par tes patelinages
Crut trouver un ami dans un parfait vaurien,
Charme des fous, horreur des sages ...
Mais je ne me reproche rien
Que d'avoir sali quelques pages
D'un nom aussi vil que le tien.
Es ist unglaublich, an wie vielen Stellen in seinen Werken Voltaire sich über Rousseau geworfen, seine Angriffe pariert, die Mängel seiner Dichtung beleuchtet, ihn dem Gelächter und der Verachtung preisgegeben hat.
Schon in Le Temple du Goût aus dem Jahre 1731 wird Rousseau witzig verhöhnt. Und der Hohn wird immer leidenschaftlicher.
Man sehe zum Beispiel das Gedicht La Crépinade (1736), das wie mit Vitriol geschrieben ist; man lese in der ersten Ausgabe der Ode über die Undankbarkeit an den Herzog von Richelieu (aus demselben Jahre) die Strophe über Rousseau:
Dis nous, Rousseau, quel premier crime
Entraîna tes pas dans l'abîme
Où j'ai vu Saurin te plonger?
Ah, ce fut l'oubli des services;
Tu fus ingrat, et tous les vices
Vinrent en foule t'assiéger.
Man schlage alle die weitläufigen Ausfälle gegen Rousseau nach: in Mémoire du Sieur de Voltaire (1739), in Mémoire sur la Satire (dasselbe Jahr), den ganzen ausführlichen Lebenslauf, den Voltaire von ihm liefert, die Stelle in der 42. versifizierten Epistel von der Verleumdung (an Madame du Châtelet, 1735), welche beginnt:
Ce vieux rimeur; couvert d'ignominies,
Organe impur de tant de calomnies.
wo Rousseau, wie auch in der 54. gereimten Epistel über Newtons Philosophie wieder und wieder zu hören bekommt, daß er rotes Haar hat, die große Abhandlung Sur le Sieur Rousseau (1736), weiter das Epigramm vom Januar 1736, das in die Pointe ausläuft: wenn Rousseau noch am Leben sei, so sei es allein die Lust am Verleumden, die ihn aufrecht erhalte:
S'il est vrai qu'encore il respire,
Car il est mort quant à l'esprit;
S'il est vrai que Rousseau vit,
C'est du seul plaisir de médire.
und zwei Epigramme, 118 und 120, beide erbittert und höhnisch, deren erstes das bessere ist:
Rousseau, sujet au camouflet,
Fut autrefois chassé, dit on,
Du théâtre à coups de sifflet,
De Paris à coups de bâton;
Chez les Germains chacun sait comme
Il s'est garanti du fagot;
Il a fait enfin le dévot,
Ne pouvant faire l'honnête homme.
Soweit sich erkennen läßt – da keiner der beiden Teile vollen Bescheid über den ersten Zusammenstoß gibt –, war der Anlaß der Feindschaft so gering, daß er nur zwischen Literaten einen andauernden Haß erzeugen konnte.
Rousseau las Voltaire sein Jugement de Pluton vor, eine heftige Satire auf das Parlament in Paris, das ihn verurteilt hatte. Voltaire, der die Satire zu grob und brutal fand, sagte: »Meister, das war kein Werk unseres großen und guten Rousseau«. Sie unternahmen dann eine Spazierfahrt vor die Stadt, auf welcher Voltaire scherzhaft meinte: »Verschaffen Sie sich jetzt Satisfaktion! Nehmen Sie doch Rache!« und ihm die oben angeführte Epistel an Madame de Rupelmonde vorlas. Rousseau, der sich in seiner Verbannung bekehrt hatte und formell zu den Frommen gehörte, behauptet, von dem Entsetzlichen, das er da zu hören bekam, von diesen Ausfällen gegen alles, was in der Religion am unantastbarsten ist, ja gegen den Erlöser selbst, so empört gewesen zu sein, daß er den Lesenden mit den Worten unterbrach: »Ich begreife nicht, wie Sie mich mit etwas so Abscheulichem bekannt machen können.« Nichtsdestoweniger besuchten die beiden Dichter hierauf das Theater. Nach dem Theater sprachen sie einiges über Rousseaus Ode an die Nachwelt, die dieser Voltaire vorgelesen hatte, und als sie voneinander Abschied nahmen, schloß Voltaire die Diskussion des Abends mit dem Ausbruch: »Wissen Sie, Meister, ich fürchte, daß diese Ode nicht an ihre Adresse kommt«. – Von da an scheinen die beiden bisherigen Freunde kein Wort mehr miteinander gewechselt zu haben.
Diese Ode à la Postérité verdient unsere Aufmerksamkeit; denn sie gibt einen guten Begriff von Jean Baptistes Schreibweise, wenn sein Flug hoch ging. Die erste Strophe lautet:
Déesse des Héros qu'adorent en idée
Tant d'illustres Amans dont l'ardeur hazardée
Ne consacre qu'à Toi ses vœux et ses efforts;
Toi, qu'ils ne verront point, que nul n'a jamais vue
Et dont pour les Vivans la faveur suspendue
Ne s'accorde qu'aux Morts.
Auf eine etwas geschraubte, aber nicht unpoetische Art wird hier auf das Paradoxon aufmerksam gemacht, daß die Menschen der Nachzeit den Heroen, die sie nie gesehen haben, noch sehen werden, all ihr Streben weihen. Worauf der Dichter sich daran macht, für seine eigene Person ausführlich an die Bewunderung der Nachwelt zu appellieren, indem er alles bekanntgibt und hervorhebt, was er in seinem Leben zu überwinden hatte. Ein paar Strophen werden von dem lyrischen Stil, wie er vor Voltaire im Schwange war, eine hinreichende Vorstellung geben:
Le Ciel, qui me créa sous le plus dur auspice
Me donna pour tout bien l'amour de la justice,
Un génie ennemi de tout art suborneur,
Une pauvreté fière, une mâle franchise,
Instruite à détester toute fortune acquise
Au dépens de l'honneur.
Es ist lehrreich, daß Rousseau mit der Vergangenheit, die er hatte, auf sein strenges Ehrgefühl und seinen männlichen Freimut zu pochen wagt. Er erklärt weiter, wie sein Übermaß an Tugenden ihm verruchte Neider in Haufen geschaffen habe:
C'est cet amour du vrai, ce zèle antipathique
Contre tout faux brillant, tout éclat sophistique
Où l'orgueil frauduleux va chercher ses atours,
Qui lui seule suscita cette foule perverse
D'ennemis forcenés, dont la rage traverse
Le repos de mes jours.
Die Ode zählt volle zwanzig Strophen Selbstlob.
Jean Baptiste verdient als der kalte Virtuos und der liederliche Spötter, der er ist, sicherlich nicht die Teilnahme der Nachwelt, an die seine Ode, trotz Voltaires witziger Replik, nun doch gelangt ist.
Von wehmütigem Interesse für uns ist das Grausame und Kleinliche in Voltaires Wesen, das ihn außerstande setzt, Rousseau von nun an laufen zu lassen, ihn vielmehr zwingt, bei jeder möglichen Gelegenheit die Krallen in ihn, wie ein Raubtier in seine Beute, zu schlagen. Noch im Jahre 1738 ist er fähig, den weitläufigen Lebenslauf Jean Baptiste Rousseaus niederzuschreiben, in welchem er es unter anderem, um seine Autorschaft zu verhehlen, mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt und namentlich auf geradezu peinliche Art wieder und wieder bei dem Umstand verweilt, daß Rousseaus Vater Schuhmacher gewesen sei, und den Sohn bezichtigt, sich dieses Vaters geschämt und ihn verleugnet zu haben. Er legt ihm – vielleicht guten Glaubens – die Autorschaft an der Moïsiade zu, die in Wirklichkeit von Lourdet war, und faßt mit beharrlichem Haß jeden Umstand, jedes Schmähgedicht zusammen, um Rousseau herabzusetzen, ungeachtet der Tatsache, daß dieser eben zu Beginn dieses Jahres von einem Schlaganfall getroffen worden war, der ihn seiner Vernunft und des Gebrauchs seiner Glieder beraubte. Voltaire war der Einbildung, daß er sich unkenntlich machte, indem er hier ab und zu (mit größter Wärme) von sich selbst wie von einem Fremden sprach. Aber er gehörte zu denen, die sich die Mühe des Maskierens und Sichverstellens ersparen können. Man erkennt ihn im Finstern, sobald er bloß den Mund öffnet.
Seltsam genug schließt der vierte Band der Werke Rousseaus mit einem Briefe an den Herausgeber Herrn Séguy von Voltaires Hand. Der Brief ist vom 29. September 1741 und aus Brüssel datiert, jener Stadt, wo Rousseau am 17. März desselben Jahres gestorben war. Recht naiv hatte dieser Herausgeber Voltaire aufgefordert, auf die gesammelten Werke des verstorbenen Dichters, »der sein Freund gewesen war«, zu subskribieren.
Voltaire antwortet, er wolle gern subskribieren, obwohl er unglücklicherweise zu den erklärtesten Feinden des Toten gehört habe. Er will sogar gestehen, daß diese Feindschaft ihm sehr nahe gegangen sei. Er habe stets gemeint, die Schriftsteller sollten Brudergefühle füreinander hegen. Verfolge man sie etwa nicht genügend? Brauchten sie selbst einander das Leben sauer zu machen? Es scheine, als wollte das Schicksal, indem es ihn in die Stadt führte, wo der berühmte und unglückliche Rousseau sein Leben beschloß, eine Versöhnung zwischen beiden bewerkstelligen; allein die Art der Krankheit, der Rousseau unterlag, habe Voltaire dieses Trostes beraubt, nach dem sie beide in gleichem Grade verlangt hätten. –
Worte! Worte! Worte!
Im März 1724 wurde Voltaires Tragödie Mariamne in der Comédie Française aufgeführt, aber das Stück hatte keinen Erfolg. Es gefiel, als es gedruckt vorlag, und es erschienen zwei Piratenausgaben, ehe Voltaire seine eigene Ausgabe in den Buchhandel brachte, aber auf der Bühne machte es keinen Eindruck, und der Dichter war selbstkritisch genug, die Aufnahme nicht ungerecht zu finden. Da jedoch dieser Mißerfolg ihn ein wenig angegriffen hatte und seine Gesundheit ihm wie gewöhnlich Sorgen machte, suchte er in diesem Jahre mit dem Herzog von Richelieu den äußerst fashionabeln Badeort Forges auf, wo die beiden Freunde vortrefflich miteinander auskamen und gemeinsam Haus führten. Das Wasser bekam Voltaire überdies so gut, daß er nach kurzer Zeit die Empfindung hatte, ganz gesund zu sein. Später fühlte er sich allerdings von der Badekur ziemlich angegriffen, und Richelieu, der zum Botschafter in Wien ernannt worden war, quälte ihn, ihn dorthin zu begleiten; Voltaire wollte zwar Thiériot an seiner Stelle unterbringen, aber dieser war allzu faul, um seine Zukunft sichern zu wollen.
In Forges lebte Voltaire in vornehmer Gesellschaft, sah täglich die Herzogin von Béthune-Sully, die Prinzessin von Guise, nachmalige Schwiegermutter des Herzogs von Richelieu, endlich die Marquise von Prie. Forges war in diesem Monat zu Paris geworden, und in Forges gewann er die aufrichtige Freundschaft der Marquise von Prie, was damals etwas sagen wollte. Denn sie war in jenem Augenblick Frankreichs wirkliche Regentin.
Die Herzogin von Berri war im Mai 1719 gestorben. Am 2. Dezember 1723 war der Regent plötzlich aus dem Leben geschieden, und Herzog Louis Henri von Bourbon wurde sofort der Premierminister des jungen Königs; aber Madame de Prie lenkte ihrerseits mit heiterem Sinn und kräftigem Willen den Herzog von Bourbon und hatte zu ihrem finanziellen Ratgeber Voltaires Beschützer, Pâris-Duverney, erkoren.
Bevor sie Forges verließ, um nach Fontainebleau zu übersiedeln, gab sie dem Portier ihres Hauses den Auftrag, Voltaire hier eine Wohnung für den Herbst einzuräumen. Er stellte sich in Briefen an Madame de Bernières, als sei ihm dies gleichgültig; in Wirklichkeit stand er am Ziel seiner Wünsche.
Der vergötterte junge König, der sein lebelang wie ein Halbgott gefeiert und angebetet wurde, sogar von Voltaire, war im Grunde die unheimlichste Gestalt in der französischen Geschichte: schön, elegant, nicht dumm, allem gegenüber gleichgültig; ohne Seele und Herz, ohne Pflichtgefühl, ohne Interessen, eiskalt, frühzeitig bis ins Mark blasiert. Vierzehn Jahre alt sah Ludwig der Fünfzehnte aus wie ein achtzehnjähriger Jüngling und war körperlich reif und erwachsen.
Er war von Pagen umgeben, von denen der eine perverser war als der andere. Da war der junge Epernon, Sohn des Grafen von Toulouse, also Enkel des vierzehnten Ludwig und der Madame de Montespan; er war liebenswürdig und anschmiegsam; da war der junge Herzog von Gesvres (Neffe des schönen Kardinals von Rohan), der in weibliche Handarbeiten aufging. Da war endlich der junge Herzog von Trémouille, der erste Kammerherr des Königs, von dem man im Jahre 1724 die Entdeckung machte, daß er den König zu seinem Ganymed gemacht habe. Sechzehn Jahre alt beherrschte er den König in allem und jedem. Er erschien ohne Scham als Rival der Mademoiselle de Charolais, der Schwester des Herzogs von Bourbon, die den König vergebens zu erobern bestrebt war. Gesvres, auf La Trémouille eifersüchtig, verriet dem Herzog von Bourbon die Mysterien des jungen Hofes.
Tatsächlich einzugreifen war nicht leicht. Allzu viele waren da, die aus ihrem Abscheu vor den Weibern Profession machten, so der Minister Maurepas, so der Abbé Fleury, der alte Lehrer des Königs, der sich ihm bald unentbehrlich erwies.
Man griff zu den gelindesten Mitteln, man zwang den jungen Herzog von Trémouille, sich zu verheiraten. Er unterwarf sich; rührte aber acht Jahre seine Frau nicht an. Dann galt es, bei dem König den Sinn für Frauen zu erwecken. Das Nächstliegende war, ihn baldmöglichst zu verheiraten. So wurde denn eine Liste von nicht weniger als siebzehn Prinzessinnen zusammengestellt, die in Frage kommen konnten, darunter eine englische, eine portugiesische, eine dänische, eine preußische, eine lothringische, eine russische, eine aus Modena, eine aus Sachsen-Eisenach usw., alle jung, einige zu jung, dabei doch nicht viele römisch-katholische, obwohl die Religion ja von hervorragender Wichtigkeit war.
Der Herzog von Bourbon und Madame de Prie entschieden sich ohne langwierige Überlegung für des Herzogs eigene Schwester, die einundzwanzigjährige schöne Prinzessin von Vermandois, die, an Leib und Seele gesund, in einem Kloster in der Nähe von Paris erzogen wurde. Der Herzog schrieb ein ausführliches Memorandum, in welchem sie vor all den anderen jungen Damen den Vorzug erhielt.
Die Marquise von Prie, deren Zukunft davon abhing, mit welcher Leichtigkeit die junge Prinzessin sich als williges Werkzeug gebrauchen lassen würde und wieviel Dankbarkeit sich von ihr gegenüber der Frau, der sie ihre Erhöhung schuldete, erwarten ließ, beschloß jedoch, um sicher zu gehen, zuvor die Bekanntschaft der Erkorenen zu machen. Sie machte sich also auf die Fahrt nach dem Kloster, wo die Prinzessin sich aufhielt, ließ sich unter einem erdichteten Namen vorstellen und ging vorsichtig zu Werke, indem sie die Prinzessin zuerst ahnen, dann deutlich vorausfühlen ließ, welche hohe Bestimmung ihr zugedacht sei. Das junge Mädchen war zu stolz, irgendwelche Freude zu verraten. Und als Madame de Prie hierauf, um sich eine Vorstellung von der Gesinnung der jungen Dame ihr selbst gegenüber bilden zu können, deren persönliche Meinung über die Marquise de Prie herausforderte, unterbrach die Prinzessin sie mit einem heftigen Ausfall gegen dieses boshafte Geschöpf: sie bedauere ihren Bruder, daß er eine in ganz Frankreich so verabscheute Frauensperson in seiner Nähe habe. So kam es, daß die Marquise das Empfangszimmer des Klosters mit den Worten auf den Lippen verließ: Verlaß dich darauf, du wirst nie und nimmer Königin!
Dem Herzog gegenüber war sie jedoch klug genug, die Schönheit seiner begabten Schwester zu rühmen, während sie es geschickt Pâris-Duverney überließ, Gründe ausfindig zu machen, die diese Heirat wenig wünschenswert erscheinen ließen. Pâris-Duverney, selbst ängstlich besorgt, Mademoiselle de Vermandois könnte als Königin seinen eigenen Einfluß sowie den seiner Beschützerin zerstören, stellte dem Herzog vor, daß Fleury, der als geliebter Lehrer des jungen Königs ungemein mächtig war, diese Heirat mißbillige und, wenn sie zustandekäme, dem Herzog sicherlich bei dem König schaden würde; abgesehen davon, daß seine Schwester als Königin voraussichtlich blind ihrer Mutter, der alten Herzogin, gehorchen würde, so daß auch er in vollständige Abhängigkeit von dieser geriete.
Man suchte denn nach einer anderen Prinzessin mit minder selbständigem Charakter, auf deren Erkenntlichkeit überdies sicherer zu zählen war, und fand diese in Stanislaw Leszczynskis zweiundzwanzigjähriger Tochter Maria, die man auf der Liste ganz übersprungen hatte.
Man übersah, daß Stanislaw nur dem Namen nach König war, da ja August der Starke ihn von seiner kurzen Herrschaft über Polen verdrängt hatte. Stanislaw hatte nicht bloß sein Königreich verloren: auch seine Güter waren eingezogen worden; des Jahrgeldes, das Karl der Zwölfte ihm bewilligt hatte, beraubt, lebte er nun bettelarm mit Frau und Tochter in Weißenburg im Elsaß, bloß mit einigen Offizieren der Garnison und einigen Stiftsherren aus der Umgebung verkehrend. Alle seine Versuche, seine Tochter einigermaßen standesgemäß zu verheiraten, waren gescheitert. Er empfing also den Brief des Herzogs von Bourbon, welcher ihm mitteilte, daß seine Maria zur Königin von Frankreich ausersehen sei, mit staunendem Entzücken. Zwei aus Paris entsandte Ärzte fanden das junge Mädchen gesund und frisch, und am 27. Mai 1725 erklärte denn der junge König öffentlich, die Prinzessin Maria Leszczynska ehelichen zu wollen.
Ihre Aussteuer war so ärmlich, daß Madame de Prie Hemden für sie mitbringen mußte. Am 15. August wurde der Herzog von Orléans an Königs Statt in Straßburg mit der Prinzessin getraut. Hier gewann Madame de Prie sie vollständig für sich. Und am 5. September wurde in Versailles die Hochzeit mit ungeheurem Pomp gefeiert. Wie bekannt, war Ludwig der Fünfzehnte zur allgemeinen Überraschung fast ein ganzes Jahr sinnlich verliebt in seine doch nicht besonders schöne und äußerst fromme Gattin, die ihm allerdings sehr warm entgegenkam. Erst nach Jahreszeit brachte ein politisches Ereignis das Verhältnis stark zum Erkalten.
Am 27. August war Voltaire nach Fontaineblau gereist. »Meine Adresse ist bei Madame de Prie,« schreibt er an Thiériot. Das kleine Lustspiel L'Indiscret (von einem jungen Manne, der die Gunst seiner Geliebten verliert, weil er die Schwäche gezeigt, sich geschwätzig ihrer zu rühmen) wurde in der niedlichen 27. Epistel der Marquise gewidmet:
Vous qui possédez la beauté
Sans être vaine ni coquette,
Et l' extrême vivacité
Sans être jamais indiscrète;
Vous à qui donnèrent les dieux
Tant de lumières naturelles,
Un esprit juste, gracieux,
Solide dans le sérieux
Et charmant dans les bagatelles,
Souffrez qu'on présente à vos yeux
D'aventure d'un téméraire
Qui, pour s'être vanté de plaire,
Perdit ce qu'il aimait le mieux.
Si l'heroïne de la pièce,
De Prie, eût eu votre beauté,
On excuserait la faiblesse
Qu'il eût de s'être un peu vanté,
Quel amant ne serait tenté
De parler de telle maîtresse
Par un excès de vanité
Ou par un excès de tendresse!
Kenner der Werke Voltaires werden wissen, daß er ihr schon im vorhergehenden Jahre in der vornehmen Gesellschaft gehuldigt hatte, während sie ihm gleichzeitig ihre Huldigung brachte. Es geschah in dem übermütigen Festspiel, das man in dem Landhaus Bélébat nahe Fontainebleau gab, als die Marquise de Livry, die den Landsitz übrigens Madame de Prie überließ, hier die Hochzeit feierte ihrer Verwandten, der Marquise von Curzay, mit dem Oberhofjägermeister des Königs von Polen, dem liebenswürdigen Taugenichts Herrn de Mauconseil. Das Festspiel stammt wahrscheinlich nicht von Voltaire allein.
Präsident Hénault und andere haben ihm beigestanden. Es ähnelt von allem, was er gedichtet hat, am meisten Bellman, und nichts von seinen Werken erinnert so sehr an Watteau.
Bélébat lag im Kirchsprengel Courdimanche. Und der Pfarrer daselbst war ein Original, verfressen, versoffen, halbnärrisch und Poet, weshalb er, von Voltaire gespielt, sich vortrefflich zur Hauptperson eignete. Er macht hier, sternhagelbetrunken, sein Testament und beichtet alle seine Sünden in einem Liede mit dem Refrain Confiteor. Was uns aber an La Fête de Bélébat interessiert, ist, daß nach Absingung des zu Voltaires Preis verfaßten Chors:
Que de tous côtés on entende
Le bon nom de Voltaire et qu'il soit célébré etc.
die Marquise von Prie Voltaire einen Lorbeerkranz überreicht und ihn ihm aufs Haupt setzt, während sie ein kleines Lied singt, des Inhalts, daß alle Freude dieses Festes ihm zu danken sei. Worauf später in dem Stücke, als der Chor das Lob der Marquise singt, Voltaire in eigenem Namen auftritt, die strahlende Dame anspricht und sie darauf aufmerksam macht, daß ein Kranz zwar ehrenvoll, ein Kuß von ihrem roten Munde aber besser sei. Er schließt:
Vous connaissez Alain, ce poète fameux,
Qui s'endormit un jour au palais de la reine:
Il en reçut un baiser amoureux;
Mais il dormait et la faveur fut vaine.
Vous me pourriez payer d'un prix plus doux,
Et si votre bouche vermeille
Doit quelque chose aux vers que je chante pour vous
N'attendez pas que je sommeille.
Die junge Königin gefiel allen durch ihre Sanftmut, ihre Schlichtheit, Schüchternheit und Höflichkeit. Sie war dem Herzog von Bourbon natürlich dankbar, daß er sie zur Königin von Frankreich gemacht hatte, besonders entzückt aber war sie von den Schmeicheleien und Liebesbezeigungen der Madame de Prie, die jeden Augenblick in ihre Gemächer kam, um zu sehen, was sie treibe, ihre Dienste anzubieten, der Königin Rat zu erteilen, deren Briefe zu diktieren.
Voltaire hatte also Grund zu hoffen, daß auch er sich binnen kurzem die Gunst der Königin errungen haben werde. Er schreibt an Madame de Bernières, er werde sich wohl hüten, in diesen ersten Tagen des Wirrwarrs sich der Königin vorstellen zu lassen; er wolle warten, bis der Haufe sich verlaufen und Ihre Majestät selbst sich ein wenig von dem Schwindel erholt habe, in den dieser Wirbel sie notgedrungen habe versetzen müssen. Dann wolle er versuchen, Oedipe und Mariamne vor ihr aufführen zu lassen und ihr eines der Stücke zu widmen. Sie habe ihn schon wissen lassen, daß es ihr lieb wäre, wenn er sich diese Freiheit nähme. Der König und die Königin von Polen (in Versailles kannte man August den Starken nicht mehr) hätten ihn ersucht, das Gedicht Henri IV vorzulesen, über welches auch die Königin von Frankreich schon viel Gutes gehört habe. Aber es eile ihm nicht.
Bald jedoch wurde er dennoch der Königin vorgestellt und hatte alle Ursache, zufrieden zu sein. Er schreibt (17. Oktober 1725) an Thiériot: »Sie hat über Mariamne geweint, sie hat gelächelt, als sie L'Indiscret hörte. Sie spricht oft mit mir. Sie nennt mich mon pauvre Voltaire.« Rivalen stellen sich ein, Poeten wie Didier, die um ein Jahrgeld flehen. Der Herzog von Mortemart aber, der der Kasse der Königin vorsteht, antwortet ihm: »Wenn man Verse mache, müsse man sie machen wie Voltaire.« Und die Königin schenkt Voltaire ohne Ansuchen aus ihrer Zivilliste einen jährlichen Betrag von 1500 Livres. Er erblickt darin die Erreichung einer Station auf dem Wege zu dem, was er wirklich ersehnt: offensichtlichen Einfluß und angesehene Stellung bei Hofe: »Ich stehe mich gut mit dem zweiten Premierminister (ein merkwürdiger Ausdruck) Duverney. Ich darf mit Madame de Pries Freundschaft rechnen. Ich beklage mich nicht mehr über das Hofleben; ich beginne begründete Hoffnungen zu fassen, meinen Freunden ab und zu nützlich sein zu können.« (Brief vom 13. November 1725 an Madame de Bernières.)
Er scheint tatsächlich auf dem Sprung, das zu erreichen, was ein junger ehrgeiziger Mann mit seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten in damaliger Zeit erträumen konnte.
Einunddreißig Jahre alt, wird er als erster Dichter seines Landes betrachtet; eine glänzende Laufbahn eröffnet sich ihm als Hofmann. Er hat ein Jahrgeld vom König, ein zweites von der Königin; er genießt ganz besonderes Wohlwollen und tatkräftigen Schutz von seiten der Frau, die durch den Premierminister und »den zweiten Premierminister« den stärksten Einfluß auf die Regierung ausübt und deren Einwirkung auf die Königin ebenso unbestreitbar ist, weil die Königin ja ihr ihre Stellung verdankt. Er hat frühzeitig literarischen Ehrgeiz besessen und ihn frühzeitig befriedigt gesehen; nun aber zeigt sich ihm überdies eine Aussicht, auch den politischen Ehrgeiz, den er im stillen genährt und lange Zeit vergebens genährt hat, reichlich gesättigt zu sehen. Er fühlt bei sich selbst, daß er nicht weniger intelligent ist als die Abbés, Bischöfe und Kardinäle, die vor seiner Zeit oder in seinen Tagen Frankreich regiert haben, und er glaubt an die Souveränität der Intelligenz. Die größten Zukunfthoffnungen erfüllen seinen Geist, und seine Haltung verrät die ruhige Selbstsicherheit, die er fühlt.
Von Gunst emporgetragen, sprudelnd reich an Talent und voll von Energie, steht er zum erstenmal auf der Höhe seines Wesens.
Der Sturz war jäh.
Pâris-Duverney hatte keinen Erfolg zu verzeichnen. Sein Versuch, dem ganzen Volk, auch der Geistlichkeit und dem Adel, das Fünftel einer Art von Zehent, also eine Steuer, die das Fünfzigstel aller Einkünfte betrug, aufzuerlegen, war allgemeiner Erbitterung begegnet und hatte allenthalben Ablehnung erfahren. Die Parlamente und Provinzstände antworteten mit dem schroffsten Nein. Die Bauern griffen zur Heugabel, sie waren wahrlich ohnehin genug von Steuern geplagt. Was jedoch einen wahren Sturm des Hasses gegen ihn und zugleich gegen seine Beschützerin, Madame de Prie, entfesselte, das war die Verordnung, welche die von Ludwig dem Vierzehnten bewilligten Jahrgelder einzog und die von dem Regenten stammenden Pensionen stark einschränkte. Die Wut der Hofangestellten war so groß, daß weder Pâris-Duverney noch Madame de Prie sich in Versailles zu zeigen wagten.
In ihrer Not vermochten sie nicht einmal da Stütze zu suchen, wo es am nächsten für sie gewesen wäre: bei der Königin. Denn der König hatte sich ihr gegenüber kalt und gleichgültig zu zeigen begonnen. Der kurze Rausch war vorüber, und Maria Leszczynska, bar jeder Koketterie und jeder Gabe, die ihr entgleitende Neigung zurückzuerobern, verdarb sich noch ihre Stellung durch kindische Eigenheiten, wie Geisterfurcht, eine alberne Eingefrorenheit, das Bedürfnis, immer jemanden bei sich zu haben, dessen Hand sie fassen konnte, wenn etwas sie erschreckte, oder gar die Geschmacklosigkeit, nachts vom Bett aufzustehen und im Schlafzimmer umherzulaufen, um nach ihrem Schoßhündchen zu suchen.
Grollend sah Madame de Prie die von ihr so sorgfältig ins Werk gesetzte Ehe erkalten und sich lösen, und in ihrer Antipathie gegen den Lehrer des Königs, den Bischof von Fréjus, den alten Fleury, gab sie im geheimen ihm und seinem Einfluß die Schuld daran. Es stand fest, daß er Maria Leszczynska nicht leiden mochte. Während aber die Anziehung, die die Königin anfänglich auf ihren Gemahl geübt hatte, mit jedem Tage geringer wurde, waren die zweideutigen Freunde aus den ersten Jugendjahren, der kleine Herzog von Gesvre und die anderen, zurückgekehrt und hatten wieder ihren Kreis um den König geschlagen. Sowohl der Minister Maurepas wie der Bischof Hercule de Fleury waren Weiberhasser und hatten dem jungen Könige bei seinen intimen Freundschaftsverbindungen durch die Finger geschaut.
Da sich in Versailles keine rechte Sammelstelle für jene Sorte Männer fand, die in ihrer Erotik Misogyne waren, hatten sie ihren Klub in Paris bei einem lothringischen Edelmann, namens Paul Edouard Deschauffours, einem liebenswürdigen Manne aus guter Familie, der sein Vermögen zugesetzt hatte und es nun dadurch wieder zurückzugewinnen suchte, daß er sein Haus zu einem Zusammenkunftsort für die Abnormen machte.
Das Verhältnis der Behörden zu ihnen war ein äußerst unsicheres und schwankendes. Die Obrigkeit hatte zwar das Recht, jeden der Sodomie Überführten auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, übte jedoch Nachsicht denjenigen gegenüber, die nach den damaligen Vorstellungen zu hochgestellt waren, um von solchen Maßnahmen getroffen zu werden. Man hatte im März 1724 auf dem Holzstoß des Grèveplatzes einen Eseltreiber verbrannt. Im Dezember desselben Jahres lag ein neuer Fall vor. Er betraf den Abbé François Guyot Desfontaines, einen Mann mit einem gewissen literarischen Namen, der bei den Jesuiten studiert, fünfzehn Jahre eine Lehrerstelle bei ihnen bekleidet und sowohl Oden wie auch Kritisches, darunter ein Buch Literarische Paradoxe, geschrieben hatte, in welchem er besonders La Motte Houdart mit giftiger Satire verfolgte. Er war Herausgeber des Journal des Savants, das vorher sieben Monate nicht erschienen war. Er hatte eine Piratenausgabe von Voltaires noch nicht erschienener La Ligue (Henriade) veranstaltet und die Frechheit gehabt, im fünften Gesang folgende zwei Verszeilen gegen La Motte einzuflechten:
En dépit des Pradons, des Perrauts, des Houdarts
On verra le bon goût fleurir de toutes parts.
Man ließ ihn ein erstes Mal laufen; aber im April 1725 wurde er zum zweitenmal festgenommen und diesmal hatte er, von zwei Schornsteinfegerjungen angeklagt, ziemlich unzweifelhafte Aussicht auf den Scheiterhaufen.
Einen Überfluß an Beschützern scheint er nicht gehabt zu haben, da er sich in seiner Not an einen Mann wandte, dem er erst vierzehn Tage vorher vorgestellt worden war. Er rief Voltaire um Beistand an. Und mit jener instinktiven Güte, die Voltaires Wesen zugrunde lag, stand dieser von einem Krankenlager auf, um nach Fontainebleau zu fahren und Fleury sowie insbesondere die damals noch allmächtige Madame de Prie um Gnade für den so wenig sympathischen und ihm überdies ganz unbekannten Sünder zu bitten. Er rettete Desfontaines das Leben und schuf sich hierdurch bekanntlich für die nächsten zwanzig Jahre in ihm einen nie rastenden, gehässigen Feind.
Voltaires Handlungsweise war um so edler, als er bereits in seiner allerersten Dichtung für die Sache der Natur und des Weibes gegenüber den Homosexuellen eingetreten war.
Jetzt bedrohte eine hochgestellte Gruppe dieser Clique sowohl Voltaires Beschützerin, die Marquise von Prie, wie auch den Herzog von Bourbon, indem sie vor allem dem König den ersten Impuls gab, die Königin aus seinem Leben zu verstoßen, und hiermit jeden Einfluß der beiden Verbündeten auf den Monarchen vereitelte.
Da der Herzog und Madame de Prie sich vollkommen bewußt waren, daß sie in Fleury einen Gegner hatten, der als Lehrer einen täglichen Einfluß auf den König ausübte, und da sie meinten, daß Fleury überdies sicherlich nicht als Letzter dazu beitrug, die Gleichgültigkeit des Monarchen gegenüber seiner Gemahlin zu fördern, beschlossen sie einen Versuch zu machen, den Widersacher zu stürzen und zu entfernen. Sie erwiesen sich jedoch bei diesem Anlaß als äußerst schlechte Seelenkenner. Indem sie die Königin als Werkzeug benutzten, erreichten sie nur, bei dem König eine um so gehässigere Stimmung gegen sie zu erwecken. Offenbar hatte der Herzog auch keine Ahnung, wie verhaßt er selbst oder wie unentbehrlich Fleury dem anscheinend so vollständig kalten jungen Herrn war.
Eines Tages ersuchte der Herzog von Bourbon die Königin, ihm eine private Unterredung mit dem König zu verschaffen (das sollte heißen: eine Unterredung, bei der Fleury nicht zugegen war). Unter einem Vorwand wurde Ludwig der Fünfzehnte zur Königin geholt. Diese wollte sich zurückziehen, aber der Herzog bat sie zu bleiben und anzuhören, was er zu sagen habe. Und der Herzog begann einen Brief des Cardinals von Polignac in Rom vorzulesen, der eine einzige lange Anklage gegen Fleury war und den der König gelangweilt anhörte. Als der Herzog im eigenen Namen fortsetzen wollte, gab der König nicht mißzuverstehende Zeichen von Ungeduld. Auf die Frage, ob er denn dem Könige mißfalle, lautete die Antwort: Ja. – Ob der König ihm denn nicht gewogen sei? – Nein. – Ob der Bischof von Fréjus denn allein sein Vertrauen genieße? – Ja. – Und als der Herzog sich vor dem König auf die Knie warf, stieß er ihn zurück und entfernte sich im Zorn, der besonders der Königin galt, die ihn in diese Falle gelockt hatte.
Einstweilen hatte Fleury, der sich dem Könige präsentieren wollte, dem herzoglichen Befehl gemäß die Türe verschlossen gefunden und war, nachdem er einige Stunden auf Einlaß gewartet, nach Issy gereist. Der König hatte sich unterdessen, in höchster Erbitterung, eingeschlossen, und als der Herzog von Mortemart sah, wohin dies führte, ließ er sich eine Ordre ausstellen, die dem Herzog von Bourbon auferlegte, dem Könige sofort seinen Lehrer zur Stelle zu schaffen. Der tief gedemütigte Herzog mußte gehorchen.
Sollten er und Madame de Prie sich jemals aufs neue erheben können, so mußte ein großer Schlag geführt werden, die ganze bei Deschauffours versammelte Gesellschaft, unter der sich ein Ratsherr, zwei Bischöfe (Saint-Agnan und La Fare) und mehrere andere hohe Herren befanden, eingeschüchtert und lächerlich gemacht, vor allem aber die Hofkamarilla selbst, deren Laster alle kannten, aber niemand nannte, ins Komische gezogen werden.
Eben da trat ein Ereignis ein, das Madame de Prie's Wagschale einen Augenblick zum Sinken brachte und ihr neuen Mut einflößte.
In den Räumen, in denen der Erzbischof von Tencin und Madame de Tencin, seine Schwester-Frau, gemeinsam lebten und erst kürzlich gemeinsam daran gearbeitet hatten, Fleury den Kardinalshut zu verschaffen, erschoß sich ein Liebhaber der Madame de Tencin, der Ratsherr La Fresnaye, vor ihren Augen. Sie hatte die Gewohnheit, alles, was vertrauensvolle Verehrer ihr an Geld übergaben, zu behalten und zu verbrauchen. Bolingbroke hatte dazu geschwiegen und war leichthin darüber hinweggekommen. La Fresnaye war verzweifelt ob all der Nebenbuhler, die sie ihm gab, und überdies verzweifelt ob des Verlustes seines ganzen Vermögens. Er hinterließ ein Testament, voll erschreckender Aufklärungen über das Haus der Tencin, ihre Lebensweise, die Art und Weise, wie sie Vermögen sammelte.
Seine Leiche rief große Verlegenheit hervor: was sollte mit ihr geschehen? Statt die Polizei zu unterrichten und den Toten an den richtigen Ort zu schaffen, verständigte Madame de Tencin in aller Eile ihre Freunde, den ersten Präsidenten, den Prokurator des Großen Rates usw. von dem Geschehenen, und diese hohen Beamten zeigten sich gefügig und ließen die Leiche in ungelöschten Kalk legen, um als Todesursache Apoplexie angeben zu können. Der Große Rat hielt die Sache damit für abgetan. Der Gerichtshof von Châtelet aber ließ sich an dieser Erklärung nicht genügen. Er veranlaßte, daß die Dame verhaftet und nach Châtelet gebracht wurde. Worauf Fleury und Maurepas, die draußen in Versailles saßen, ihrerseits nicht ruhten, bis Madame de Tencin aus der strengen Haft befreit und vorläufig schonungsvoll in der Bastille untergebracht wurde.
Immerhin war es eine schwere Niederlage für Fleury und die anderen Feinde der Madame de Prie. Fleury sprach sogar davon, sich zurückzuziehen. Am 20. April 1726 schrieb Madame de Prie an den Herzog von Richelieu: »Alles ist wiederum in Ordnung. Ich atme auf (je suis plus en repos).«
Polizeimeister war damals René Hérault, derselbe, den Voltaire eines Tages gefragt hatte, was man mit den Leuten mache, die falsche Lettres de cachet fabrizierten. Er antwortete: Man hängt sie. – Das ist immerhin etwas, bis man dasselbe mit denen tun kann, die die echten unterzeichnen, versetzte Voltaire.
Hérault verdankte Madame de Prie seine Karriere, seine Anstellung, und sie meinte, auf ihn als auf ein verläßliches Werkzeug zählen zu dürfen. War er treu und mutig, so vermochte er wohl den Kampf gegen ihre Versailler Feinde aufzunehmen. Mehr noch als auf ihn rechnete sie auf ihren Poeten, ihren Satiriker, ihren jungen Freund, der gleich mit seiner ersten Dichtung ( Anti-Giton) verraten hatte, daß die Mignons einen gefährlichen Gegner in ihm besaßen, und der sich ganz kürzlich in dem an Madame de Prie selber gerichteten Festspiel in Bélébat als nicht minder kühner und gefährlicher Feind der Pfaffen entpuppt hatte.
Allein Hérault erwies sich als schwach; er beschränkte sich darauf, sich in aller Stille der Person Deschauffours zu bemächtigen und ein paar hundert Schuldige durchrutschen zu lassen. Schon am Tage nach der Verhaftung wurde Deschauffours verbrannt. Dann vermochte dieser Edelmann nichts zu verraten, niemanden anzugeben.
Und bevor noch Madame de Prie sich Voltaires bedienen konnte, war dieser unschädlich gemacht, vernichtet, von Hérault selbst in die Bastille gesteckt.
Es war vorbei mit Madame de Prie; sie wurde krank; sie magerte entsetzlich ab; sie wurde beinahe garstig. Eines Tages tat Fleury dem Herzog gegenüber die sanfte Äußerung, man wäre wohl imstande, die schwierigen Verhältnisse bei Hof zu ordnen, falls Madame de Prie und Pâris-Duverney »aufs Land zögen«. Als sie dessenungeachtet in Versailles blieb, machte man kurzen Prozeß. Der König fuhr eines Tages nach Rambouillet um zu jagen und gewährte, furchtsam und freundlich, dem Herzog an demselben Abend dort eine Zusammenkunft; kaum aber war er fort, als der Herzog eine Lettre de cachet empfing, die ihn nach Chantilly verbannte, ihm das Jagen verbot, das sein Leben war, so daß er vollständig verzweifelte. Madame de Prie erhielt Befehl, sich für die Zukunft in Courbépine in der Normandie aufzuhalten, an einem einsamen und öden Ort, wo sie einige Zeit in tief verletztem Hochmut tobte und sich dann durch Gift aus der Welt schaffte. Pâris-Duverney wurde in die Bastille gebracht, wo man ihn achtzehn Monate gefangen hielt, worauf man ihm einen albernen Rechtshandel anhängte, der zu nichts führte.
Voltaire war in dem Sturz seiner Beschützer mitgerissen worden. Derjenige, der es anscheinend auf sich genommen hatte, ihn zu demütigen und die Leute, denen er im Wege war, von ihm zu befreien, war ein degenerierter Mensch ohne Fähigkeiten und ohne Vorzüge, ein vornehmer Herr aus großer Familie, der für feige galt und von Wucher lebte.
Es war im Dezember 1725, als der Ritter von Rohan-Chabot ihm eines Abends in der Oper im beleidigendsten Tone zurief: »Monsieur de Voltaire, Monsieur Arouet, wie heißen Sie?« – Voltaire soll nach Aussage einiger Zeugen geantwortet haben: »Ich schleppe keinen großen Namen nach; aber ich verstehe es, dem, den ich trage, Ehre zu machen«. – Nach dem Zeugnis anderer: »Mein Name beginnt mit mir; der Ihre endet mit Ihnen«. Die letztere Antwort ist glaubwürdiger, da er sie auch in Rome sauvée angewendet hat, wo er Cicero Catilina erwidern läßt:
Mon nom commence en moi. De votre honneur jaloux,
Tremblez que votre nom ne finisse dans vous!
Einige Tage danach trafen Voltaire und der Chevalier wieder im Théâtre Français, in der Loge der Schauspielerin Adrienne Lecouvreur zusammen. Rohan wiederholte seine anmaßende Frage, worauf Voltaire erwiderte, er verweise auf seine ihm in der Oper erteilte Antwort. Rohan erhob seinen Stock, zwar ohne zu schlagen, jedoch mit der Bemerkung, daß er dieses Gespräch nur mit Stockprügeln fortsetzen würde. Als Voltaire hierauf die Hand auf seinen Degengriff legte, fingierte Adrienne Lecouvreur eine Ohnmacht, was dem Streit für diesmal ein Ende machte.
Am 4. Februar speiste Voltaire mittags bei dem Herzog von Sully, bei dem er, nach Präsident Hénaults in dessen Memoiren gebrauchtem Ausdruck, »wie ein Kind des Hauses angesehen wurde«. Ein Diener verständigte ihn, daß jemand am Tor des Palais auf ihn warte. Er stieg die Treppe hinab und näherte sich ruhig einem vor dem Tore haltenden Wagen. Zwei Männer kamen auf ihn zu und ersuchten ihn, auf den Wagentritt zu steigen, was er auch tat, in dem Glauben, daß derjenige, der mit ihm zu sprechen wünsche, in dem Wagen sitze. Kaum aber hatte er dem Ersuchen Folge geleistet, als er sich gepackt fühlte und ein Hagel von Stockprügeln auf seine Schultern niederprasselte. Sechs Lakaien umringten ihn. Von einem zweiten Wagen aus, der in einiger Entfernung hielt, leitete der Ritter von Rohan die Exekution, indem er unter anderem kommandierte: »Schlagt nicht auf den Kopf; denn aus dem kann vielleicht noch etwas Gutes kommen«, worauf der Haufe, der den Zuschauerkreis abgab, gerührt ausrief: »Ach, der gute Herr!«.
Als es Voltaire endlich gelang, sich zu befreien, kehrte er sofort in den Speisesaal des Herzogs von Sully zurück und rief den Beistand des Hausherrn für einen verunglimpften Gast an, dessen Mißhandlung und Verhöhnung auch denjenigen treffe, an dessen Tisch er eben gesessen habe.
Hier jedoch erfuhr er die erste schmerzliche Enttäuschung, die ihm in seinem Umgang mit denen, die an Geburt über ihm standen, beschieden war. Der Herzog lehnte es mit würdeloser und empörender Vorsicht ab, sich in eine Sache zu mischen, die ihn seines Erachtens nichts anging.
Zehn Jahre der Freundschaft waren in dem Augenblick vergessen, da Voltaire gedemütigt und mißhandelt vor ihm stand. Vergessen war die Verherrlichung, zu deren Gegenstand der Dichter in La Ligue das Geschlecht Sully dadurch gemacht hatte, daß er dessen Stammvater den unzertrennlichen Freund Heinrichs des Vierten sein ließ. Tödlich verletzt, ersetzte denn auch Voltaire in der Dichtung die Persönlichkeit Sullys durch Duplessis-Mornay, der in den ersten Regierungsjahren Heinrichs den Platz recht gut ausfüllen konnte.
Es kam dem Herzog allzu bedenklich vor, sich eine so ungemein mächtige Familie wie das Haus Rohan zum Feinde zu machen. Hierzu kam noch – trotz all des Freisinns, den die Aristokratie so gern an den Tag legte, indem sie Dichtern und Schriftstellern einen Platz an ihrem Tisch einräumte – die dennoch in den Gemütern lauernde uralte Geringschätzung des Hochgeborenen für den Bürgerlichen, dem es zwecks Wahrung der gebührenden Distanz nicht schaden konnte, von Zeit zu Zeit auf den Unterschied zwischen der Ehre, auf die der erstere, und der, auf die der letztere Anspruch hatte, gründlich aufmerksam gemacht zu werden.
Wir haben gesehen, wie schutzlos Molière seinerzeit gewesen war. In England hatte der Graf von Rochester seinen Neger beauftragt, Dryden zur Strafe für eine Satire, die er gegen den Grafen geschrieben hatte, durchzuprügeln, und auch unter Voltaires intimsten hochadeligen Freunden waren nicht wenige, die, wie der Prinz von Conti und der Abbé von Caumartin, anläßlich des Geschehenen bloß mit liebenswürdig spöttischen Bemerkungen kamen, wie: Was sollte aus uns anderen werden, wenn die Dichter nicht Rücken hätten!
Voltaire fuhr von Sullys Palais eiligst nach der Oper, wo er sicher war, Madame de Prie anzutreffen. Er erzählte ihr, was ihm geschehen war, begegnete lebhafter Anteilnahme und erhielt ihr Versprechen, in Versailles für ihn zu wirken. Als es jedoch so weit war, erwies sich die Stellung des Herzogs von Bourbon als allzu unsicher und zu gefährdet, als daß er es hätte wagen können, der Familie Rohan den Handschuh hinzuwerfen. Es geschah also nichts. Der arme Geprügelte wollte den Unbefangenen spielen und wie bisher mit seinem Freundeskreis verkehren; er zeigte sich wie gewöhnlich bei Hof und in der Stadt. Aber niemand bewies ihm Mitgefühl und die, auf welche er als auf Freunde gezählt hatte, wandten sich von ihm ab.
Mit seinem kalten Kopf und seinem nervösen Temperament war Voltaire fest entschlossen, sich Rache und Satisfaktion zu verschaffen. Er übte sich vom Morgen bis zum Abend im Fechten. Er focht mit Soldaten der Garde; er verkehrte nur mit Raufern und Boxern. Er forderte Rohan wieder und wieder.
Aber er war dabei unablässig von der Polizei überwacht, die ihn hindern wollte, sich an einem Mann aus so großer Familie zu vergreifen.
Ein Brief des Polizeimeisters an den Chef der Sicherheitspolizei lautet:
Mein Herr, Seine kgl. Hoheit (Bourbon) ist unterrichtet worden, daß Herr Ritter von Rohan heute verreist; und da er einen neuen Angriff auf Sieur de Voltaire beabsichtigen oder dieser irgendeinen unbedachten Streich vollführen könnte, ist es der Wille Sr. kgl. Hoheit, daß Sie Sieur de Voltaire beobachten lassen, damit ein mögliches Zusammentreffen keine Folgen habe.
Eine auf Grund von Rapporten abgefaßte Notiz des Polizeimeisters besagt:
Man ist auf sicherem Wege unterrichtet worden, daß Sieur de Voltaire die Absicht hat, Herrn Ritter von Rohan unverzüglich und auf aufsehenerregende Art zu insultieren. Er hat in den letzten sechs Wochen mehrmals die Wohnung, ja sogar das Stadtviertel gewechselt, und man weiß, daß er sich augenblicklich bei einem gewissen Leynault, Fechtmeister von Profession, Rue Saint-Martin, aufhält, wo er in sehr schlechter Gesellschaft ist. Man behauptet, daß er mit Soldaten von der Garde verkehrt und daß verschiedene Raufbolde ihn besuchen. Aber gleichviel, was daran wahr oder nicht wahr sei, gewiß ist, daß er beständig sehr Schlimmes im Schilde führt und ebenso sicher, daß er aus den Provinzen einen seiner Verwandten als seinen Sekundanten kommen ließ. Dieser Verwandte, besonnener als Herr de Voltaire, möchte ihn gerne beruhigen; aber dies ist ihm offenbar nicht möglich. Herr de Voltaire ist erregter und wütender denn je, sowohl in seiner Aufführung wie in seinen Äußerungen. Alle diese Berichte bestimmen den Polizeimeister, womöglich schon heute nacht den Befehl des Königs mit Bezug auf Sieur de Voltaire auszuführen, da er es als Pflicht betrachtet, einem Unwesen, von dem er schon im Vorhinein verständigt worden, vorzubeugen.
Voltaire suchte Rohan eines Abends in der Loge der Adrienne Lecouvreur auf und sagte ihm: »Falls Sie nicht über irgendeinem Geldgeschäft die Verhöhnung vergessen haben, die Sie mir zufügten, so hoffe ich, daß Sie mir als Mann begegnen werden.«
Der Chevalier nahm die Herausforderung für den nächsten Tag an und wählte selbst als Stunde neun Uhr und als Ort Porte Saint-Martin; zugleich aber verständigte er seine Familie, die sogleich Schritte beim Herzog von Bourbon tat, um das Duell zu verhindern.
Dieser eines Edelmanns und Gewaltmenschen wenig würdige Schritt hat dem Maréchal von Villars Anlaß zu einigen Bemerkungen in seinen Memoiren gegeben. Er schreibt hier:
Der Chevalier war infolge eines Falles, der ihn weniger geeignet machte, einen Degen zu führen, in seinen Bewegungen sehr gehindert. Er griff zu dem Mittel, Voltaire an hellichtem Tage durch Stockschläge züchtigen zu lassen. Statt sich an die Gerichte zu wenden, hielt dieser es für edler, sich mit der Waffe in der Hand zu rächen. Man behauptet, daß er mit Eifer und allzu unvorsichtig Satisfaktion suchte. Der Cardinal von Rohan ersuchte folglich den Herzog, ihn in die Bastille zu bringen; der Befehl ward gegeben, ward ausgeführt und der unglückliche Dichter wurde, nachdem man ihn durchgeprügelt hatte, obendrein verhaftet. Das Publikum, stets aufgelegt, alles zu tadeln, fand diesmal mit Recht, daß alle Parteien Unrecht hatten: Voltaire, indem er den Ritter von Rohan beleidigte; dieser durch ein Verbrechen, das Todesstrafe verdiente, indem er einen französischen Bürger prügeln ließ; die Regierung, indem sie eine allgemein als schlecht anerkannte Handlung nicht bestrafte und indem sie den Mißhandelten nach der Bastille brachte, um den Gewalttätigen zu beruhigen.
Man bemerke, wie unter Voltaires vornehmen Freunden und Beschützern der Maréchal der einzige ist, der Rohans Auftreten als unbedingt verdammenswert und strafwürdig auffaßt, obwohl er kraft der adeligen Vorurteile auch Voltaire Unrecht gibt, weil dieser Rohan so kühn geantwortet hat, wie er es tat, und man bemerke, daß Villars hier mehr als sechzig Jahre vor der Revolution das Wort Bürger für das gebraucht, was man dazumal einen Untertan nannte.
Voltaire wurde in der Nacht zum 18. April 1726 verhaftet und nach der Bastille gebracht. Wie der Polizeirapport besagt, hatte er zwei Taschenpistolen bei sich. Die Familie, behauptet Hérault, war äußerst zufrieden mit diesem Befehl, der den jungen Mann hinderte, eine neue Dummheit zu begehen, und seine Verwandten vor deren möglichen Folgen sicherte. Der Jansenist Armand, Voltaires älterer Bruder, hat sich offenbar bei dem Gedanken nicht beruhigen können, die Mitglieder eines Hauses sich verfeindet zu wissen, dessen Wahlspruch war: Roi ne puys, Duc ne daygne, Rohan suys.
Daß man sich dessenungeachtet des begangenen Unrechtes, welches man als bedauerliche Notwendigkeit hinstellte, klar bewußt war, geht aus einem Briefe hervor, den Hérault gleichzeitig an den Gefängniskommandanten des Königs, Condé, in der Bastille sandte:
Sie haben mir ebensowenig Sieur de Voltaires wie Madame de Tencins Inhaftierung in der Bastille mitgeteilt, obwohl ich Befehle unterzeichnete, kraft welcher man beide dahin gebracht hat ... Sieur de Voltaire hat ein Genie, das Rücksicht beansprucht. Seine kgl. Hoheit hat mich ersucht, Ihnen mitzuteilen, daß des Königs Absicht dahin geht, ihm alle Zugeständnisse und Freiheiten zuteil werden zu lassen, die nicht mit der Sicherheit seines Gewahrsams in Widerspruch stehen.
Man hat augenscheinlich einer Familie, deren Haupt ein Kirchenfürst und Grand aumônier von Frankreich war, eine solche Geringfügigkeit wie die Verhaftung eines Bürgerlichen nicht abschlagen wollen. Aber man tat andererseits, was man vermochte, um die Strafe zu lindern. Voltaire saß in der Bastille, Seite an Seite mit Madame de Tencin, deren Schönheit in ihm einen eifrigen Bewunderer hatte, deren Neffe, Graf von Argental, sein allerintimster Freund war, und der er, sobald er auf freien Fuß versetzt ward, artig ausrichten ließ, sein größter Kummer in der Bastille sei der gewesen, daß auch sie diesen Aufenthalt einige Zeit hatte teilen müssen. »Wir waren,« schrieb er an Madame de Feriol (Madame de Tencins Schwester) »wie Pyramus und Thisbe. Es war nur eine Mauer, die uns trennte, aber wir küßten einander nicht, wie jene, durch eine Spalte in der Wand.«
Er speiste an dem Tische des Gouverneurs und erhielt von diesem, Herrn de Launay, die Erlaubnis, einige Freunde bei sich zu empfangen. Er fühlte sich verletzt, daß mehrere seiner Nächsten, wie Thiériot, Madame de Bernières, Madame du Deffand, ausblieben und forderte sie auf, ihn zu besuchen; aber Hérault schritt ein und die Erlaubnis wurde auf fünf bis sechs Personen beschränkt, deren Namen ihm zur Gutheißung vorgelegt werden sollten.
Vom Gefängnis aus schrieb Voltaire an den Minister des Pariser Departements:
Sieur de Voltaire bringt ehrerbietigst zur Kenntnis, daß er von dem tapferen Ritter de Rohan mörderisch überfallen wurde, unter Beistand von sechs Banditen, hinter welchen dieser selbst kühn seinen Platz eingenommen hatte. Sieur de Voltaire hat seither beständig Gelegenheit gesucht, nicht seine, sondern des Ritters Ehre wiederherzustellen, was sich als allzu schwierig erwies. Er ist allerdings nach Versailles gefahren, aber es ist unwahr, daß er den Ritter bei dem Cardinal von Rohan aufgesucht habe. Es fällt ihm leicht, das Gegenteil zu beweisen, und er erbietet sich, sein ganzes Leben in der Bastille zu verbringen, wenn er in diesem Punkte nicht wahrhaftig sei. Er ersucht um die Erlaubnis, bei dem Gouverneur der Bastille zu speisen und Gesellschaft bei sich zu sehen. Noch eindringlicher bittet er, unverzüglich nach England reisen zu dürfen. Zweifelt man an seiner Abreise, so kann man ja einen Polizisten mit ihm nach Calais schicken.
Am 2. Mai kam die Ordre an Condé, Voltaire freizulassen, mit der Beifügung, es sei des Königs und Seiner königlichen Hoheit Wille, daß er nach England gebracht werde. Condé solle ihn nach Calais begleiten, und mit eigenen Augen ihn sich einschiffen und von dem Hafen absegeln sehen.
Voltaire sollte auf dem Wege Paris streifen. Er schrieb in aller Eile an seine Freundin, Madame de Bernières, und bat sie, ihm ihren Wagen zu leihen, den Condé ihr dann zurückbringen werde, bat sie überdies, mit Thiériot und Madame du Deffand zu kommen und ihm Lebewohl zu sagen.
Am 5. Mai war er in Calais, wo er vier oder fünf Tage auf eine Schiffsgelegenheit warten mußte. Er wurde nach England übergesetzt, wo sein Gemüt jedoch nicht gleich Ruhe fand. Schon nach kurzer Zeit kehrte er heimlich nach Frankreich zurück, von dem einzigen Gedanken erfüllt, die ihm verweigerte Satisfaktion zu erlangen. Er schrieb an Thiériot: »Ich suchte nur einen Mann, dessen Feigheitssinn ihn mir verbarg, als wüßte er, daß ich auf seiner Spur sei.« Dann zwang ihn die Furcht vor Entdeckung, sich auf fremdem Boden niederzulassen.
Seine Verbannung sollte seiner Entwicklung in jeder Beziehung zum größten Nutzen gereichen, so daß, was als Strafe gemeint war, sich zu unentbehrlichem, unschätzbarem Gewinn wandelte.