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Es war ein schöner Maientag unter einem wolkenlosen Himmel, als Voltaire in Greenwich landete; ein milder Westwind blies über die Themseufer, deren frisches Grün das Auge des Landesverwiesenen erquickte. Soweit er sehen konnte, war die Wasserfläche von zwei Reihen Handelsschiffen bedeckt und alle Segel beigesetzt, dem Könige zu Ehren, der sich in einer von tausend kleinen Ruderbooten gefolgten vergoldeten Barke, welcher andere Fahrzeuge mit Musikanten den Weg bahnten, themseabwärts rudern ließ. Alle Ruderer des königlichen Gefolges waren, wie einst die französischen Pagen, angetan mit weißen bauschigen Beinkleidern und kurzen Wämsen, mit einem Silberplättchen auf der Schulter.
So erhielt er gleich im ersten Augenblick einen Eindruck des frischen Lebens und der sorgsamen, so spezifisch britischen Beibehaltung altertümlicher Kostüme, die das damalige englische Wesen kennzeichnete.
Er sah überdies auf den Flußufern Tausende von Menschen zu Pferd und zu Fuß als eifrige Zuschauer des Pferderennens und des Fußsports.
Am selben Abend war er in London, wo er gleich die erste Nacht in Lord Bolingbrokes Palais in Pall-Mall schlief, nachdem er den Abend mit Herren und Damen der vornehmsten Gesellschaft verbracht hatte. Als er diesen jedoch seine Eindrücke vom selben Vormittag schilderte: förmliche Olympische Spiele, das Gewimmel eleganter junger Männer und Frauen, die als Zuschauer der Wettrennen rings um die Plätze herumgaloppiert waren, die Fußgänger, die Scharen wohlgekleideter Herren und hübscher, einfach gekleideter junger Mädchen, die durch ihren Ausdruck lebhafter Zufriedenheit sein Auge erfreut hatten, da erklärten ihm die vornehmen Damen, die gute Gesellschaft nehme überhaupt an derlei volkstümlichen Unterhaltungen nicht teil, und die jungen Elegants, die als geübte Reiter den Wettrennen beigewohnt hätten, seien nichts als Studenten und Handelsschüler auf gemieteten Gäulen, wie auch die niedlichen jungen Damen in Kattunkleidern zu Fuß und zu Roß nichts anderes gewesen als Dienstmädchen und Bauerndirnen in ihrem Sonntagsstaat.
Auf diese Art empfing er sogleich am ersten Abend einen Begriff von den in England herrschenden Standesunterschieden, zugleich aber auch den Eindruck, daß die untere Klasse sich keineswegs unterdrückt, im Gegenteil durchaus zufrieden fühle.
Bolingbroke war in Frankreich, seitdem er den Frieden zu Utrecht abgeschlossen hatte, zu hohem Ansehen gelangt. In der Pariser Oper erhob sich alles, wenn er eintrat. Ohne in England seinen politischen Einfluß wiedergewonnen zu haben, war er, nach seinem vollständigen Bruch mit dem Thronprätendenten, begnadigt worden und teilte nun seine Zeit zwischen seiner Wohnung in London und seinem Landsitz, Dawley, in Middlesex, dem er den Vorzug gab. Dawley ersetzte ihm sein französisches Rittergut La Source, welches er aufzugeben im Begriffe war.
Vor Voltaires Ankunft konnte Bolingbroke, wie aus seinen Briefen hervorgeht, sich einer gewissen Unruhe darüber nicht erwehren, wie Voltaire sich seines Versprechens, ihm die Henriade zuzueignen, entledigen, auf welche Weise er über ihn schreiben würde. Mit Recht tröstete er sich jedoch damit, daß der Dichter wohl das Versprechen vergessen habe. Dies war auch der Fall; denn dieses Werk, das beständig umgearbeitet, gefeilt und verbessert wurde, nicht am wenigsten, wenn dem Verfasser eine verständige Kritik zu Ohren kam, war im Lauf der Zeit den verschiedensten Beschützern zugedacht worden, ähnlich wie der blaue Beutel in Mussets Un Caprice, an dem Madame de Blainville so langsam gehäkelt hat, nach Madame de Lérys Behauptung, nicht weniger als drei verschiedenen Personen bestimmt gewesen ist. – Einige Jahre danach widmete Voltaire jedoch Bolingbroke seine unter Eindrücken von England entstandene Tragödie Brutus, und nicht mit knappen Worten, sondern mit seinem Discours sur la tragédie, in welchem er die ehrerbietige Anhänglichkeit an den Tag legt, die der Lord von ihm zu erwarten alles Recht hatte.
Es war ja nicht das erstemal, daß er Bolingbroke öffentlich huldigte. Am frühesten war dies in der oben erwähnten poetischen Epistel an den Arzt Gervasi geschehen, nachdem Bolingbroke an seinem Krankenlager gesessen hatte:
Et toi, cher Bolingbroke, héros qui d'Apollon
As reçu plus d'une couronne,
Qui réunis en ta personne
L'éloquence de Cicéron,
L'intrépidité de Caton,
L'esprit de Mécénas, l'agrément de Pétrone
Et la science de Varron,
Bolingbroke, à ma gloire il faut que je publie
Que tes soins, pendant le cours
De ma triste maladie,
Ont daigné marquer mes jours
Par le tendre intérêt que tu prends à ma vie.
Bolingbroke kannte die hervorragendsten englischen Dichter so genau, daß eben durch ihn, soweit die Sprache dabei nicht hinderlich war, Voltaire die Bekanntschaft leicht wurde. Er nannte die Triumviren des englischen Parnassus – Pope, Swift und Gay – bei ihren Vornamen. Voltaire konnte keine bessere Einführung in die literarische und vornehme Welt Englands haben.
Aber er war keineswegs allein auf Bolingbrokes Tory-Kreis angewiesen. Er hatte schon in Frankreich viele bedeutende Engländer kennen gelernt, wie Lord Stair, den englischen Gesandten in Paris, Bischof Atterbury, der im Exil in Frankreich lebte, ferner einen reichen und begabten Kaufmann, Everard Falkener, welcher sich seiner bald wie ein Bruder annehmen sollte.
Höchst bezeichnend für die Sitten der damaligen Zeit ist es, daß Voltaire nach England kam, ausgestattet mit Empfehlungsbriefen von Mitgliedern derselben französischen Regierung, die ihn verbannt hatte. Die besseren Minister schämten sich offenbar ein wenig, notgedrungen einen Mann ausgewiesen zu haben, nicht um des Unrechtes willen, das er begangen, sondern um dessentwillen, das er erlitten hatte.
Der französische Minister des Äußern, Monsieur de Morville, bat Horatio Walpole, den Bruder des englischen Premierministers Sir Robert Walpole, und Stairs Nachfolger als englischer Gesandter in Frankreich, das ihm Mögliche für Voltaires Wohlbefinden auf englischem Boden zu tun. Horatio Walpole schrieb infolgedessen unter anderen an den Herzog von Newcastle:
Ich hoffe Sie werden entschuldigen, daß ich – auf inständiges Ersuchen des Herrn von Morville – Ihnen Herrn von Voltaire empfehle, einen Dichter, und zwar einen sehr talentvollen, der kürzlich nach England gekommen ist, um hier durch Subskription eine vortreffliche Dichtung, genannt Henri IV., drucken zu lassen. Er hat zwar in der Bastille gesessen, aber nicht wegen irgendeiner Staatsangelegenheit, sondern bloß wegen eines persönlichen Streites mit einem Privatmann und ich hoffe daher, daß Ihro Gnaden ihm Ihre Gunst und Förderung schenken werden, indem Sie die Subskription befürworten.
Er schrieb ferner an den als Mäzen hochangesehenen, als Politiker zweifelhafter beurteilten Bubb Dodington, Herzog von Melcombe, einen Brief, dessen erster Teil ziemlich gleichlautend mit dem Beginn des eben angeführten ist. Dann heißt es weiter:
Herr de Morville, der, was die Förderung von Geist und Gelehrsamkeit betrifft, Frankreichs Mäzen oder vielmehr Frankreichs Dodington ist, hat mich ersucht, meinen Einfluß aufzubieten, um die Subskription unter meinen Freunden zu unterstützen. Diesetwegen wie auch wegen der Verdienste des Mannes glaube ich mich an niemanden mit mehr Recht wenden zu können als an Sie; und dies stimmt mit dem persönlichen Interesse überein, das ich selbst an der Sache habe, nämlich eine Korrespondenz wiederaufzunehmen, die mir so lieb ist.
Bubb Dodingtons geringes Ansehen als Politiker kam daher, daß es ihm trotz Stimmenkaufs und sonstiger Bemühungen nicht gelang, in das Parlament gewählt zu werden. Als Privatmann war er geistreich und witzig, ein großer Beschützer der Intellektuellen. Voltaire wohnte drei volle Monate in seinem Hause in Eastbury und erinnerte sich seiner später stets mit Dankbarkeit als eines sehr reichen und sehr tätigen Mannes, eines guten Kopfes und resoluten Charakters. Später führte er Thiériot bei ihm ein mit dem Satz, daß er ihm seinerzeit seine Geschichte Karls XII. geschickt habe, ihm nun aber etwas weit Besseres schicke.
In Eastbury lernte Voltaire den später als Erbauungsdichter weit bekannten Edward Young kennen. Voltaire wurde sein Freund. Young war zu jener Zeit kein Geistlicher und hatte noch nicht seine Nachtgedanken ( Night Thoughts) geschrieben, die Voltaire später »ein wirres Gemisch von bombastischen und dunkeln Trivialitäten« nannte. Er war damals nahe den Fünfzigern, hatte nach einer ziemlich unwürdigen Jugend einiges Ansehen als Lyriker und Dramatiker erworben, suchte sich aber immer noch einen Weg zu bahnen, indem er berühmten Männern schmeichelte. Immerhin zählte er zu denen, die in einem Gespräch zu glänzen verstehen.
In Eastbury traf Voltaire auch James Thomson, den beliebten Dichter der Jahreszeiten, der auf ihn den Eindruck of a great genius and great simplicity machte. Thomson hat in Autumn ( Der Herbst) den Ort besungen:
Oh, lose me in the green delightful walks
Of, Dodington, Thy seat, serene and plain,
Where simple Nature reigns.
Voltaire hatte denn auch von Anfang an Zutritt bei dem Minister, Robert Walpole, bei dem Herzog von Newcastle, bei der Herzoginwitwe von Marlborough und bei den beiden Höfen, dem des Königs und dem des Prinzen und der Prinzessin von Wales.
Dem Könige George I. hatte er schon sechs Jahre zuvor, wenn auch nur literarisch, seine Aufwartung gemacht, indem er ihm 1718 seinen Oedipe mit Versen übersandte, deren Schmeichelei heutzutage humoristisch wirkt. Das Gedicht beginnt:
Toi que la France admire autant que l'Angleterre,
Qui de l'Europe en feu balances les destins;
Toi qui chéris la paix dans le sein de la guerre
Et qui n'es armé du tonnerre
Que pour le bonheur des humains.
Er hatte den plumpen bäuerischen Hannoveraner Weiser und Held tituliert. Der König hatte durch Lord Stair als Geschenk für ihn eine Uhr übersandt, und wir entnehmen einem Briefe an den Lord, daß Voltaire gebeten hat, die Uhr solle nicht ihm selbst, sondern seinem Vater zugestellt werden. Offenbar hat er gehofft, in des Vaters Augen zu steigen durch den Umstand, daß er Geschenke von dem König von England erhielt.
Voltaire geschah kurz nach der Ankunft in England das Mißgeschick, ohne bares Geld dazustehen. Er hatte einen auf 20 000 Francs lautenden Kreditbrief an einen jüdischen Bankier namens Acosta nach London mitgenommen; da er jedoch das Geld nicht sofort benötigte, hatte er es aufgeschoben, den Kreditbrief zu präsentieren. Als er nun endlich zu Acosta ging, sagte ihm dieser, er habe leider tags zuvor Konkurs gemacht und könne ihm nur einige wenige Goldstücke geben. Wenn das Gerücht wahr ist, daß König Georg der Erste, als er dieses Mißgeschick erfuhr, dem Dichter hundert Pfund übersandte, so kam dieser Betrag ihm besonders gelegen. Denn er hatte von seinem väterlichen Erbteil noch nichts ausbezahlt bekommen und war durch die Verbannung seiner ihm vom König und der Königin von Frankreich ausgesetzten Pensionen verlustig gegangen.
Diese Mittellosigkeit legte ihm zu Beginn seines Aufenthaltes nicht wenige Hindernisse in den Weg. Der zu jener Zeit herrschende Brauch, als geladener Gast, selbst wo es sich nur um ein Mittagmahl handelte, den Dienern reichliche Trinkgelder zu geben, erschwerte es ihm, Einladungen anzunehmen. Als er zum zweiten Male bei Lord Chesterfield speisen sollte, sagte er ab; die Mahlzeit wäre ihm allzu hoch zu stehen gekommen. Wir sehen, wie er noch im Februar 1727 durch Thiériot die Leute in Frankreich zu ermitteln sucht, die ihm noch Geld schuldig sind.
Dank seiner Empfehlungen wurde Voltaire trotz seines Anschlusses an Bolingbroke und dessen Tory-Kreis auch bei dem Premierminister gut aufgenommen. Robert Walpole selbst interessierte sich nur für Politik, nicht für Literatur; seine Frau dagegen zeigte lebhaftes Interesse für den Dichter und ebenso sein junger Sohn, der noch die Schule zu Eton besuchte, derselbe Horace Walpole, welcher später in Frankreich, unter anderem auch als Gegenstand schwärmerischer Anbetung von seiten der alten blinden Madame du Deffand, Ruhm gewinnen sollte.
Lady Walpole hat ihrem Jungen in einem Briefe den Besuch des berühmten französischen Gastes in ihrem Hause geschildert. Dieser Besuch wurde zwischen ihm und seinen Schulkameraden lebhaft besprochen, und noch vierzig Jahre später bewies Horace Walpole in einem Schreiben an Voltaire die Unvergeßlichkeit des Eindrucks, den jene Mitteilung damals auf ihn gemacht hatte. Er schrieb:
Ihr Ruhm ist mir seither nicht unbekannt geblieben, aber ich erinnere mich, daß ich es schon damals als eine Ehrung unseres Hauses betrachtete, daß Sie an jenem Mittag bei meiner Mutter speisten, obwohl ich noch in die Schule ging und nicht das Glück hatte, Sie zu sehen. Mein Vater war ja zu jener Zeit in einer Stellung, die ältere Augen als die meinen hätte blenden können.
Zu Anfang vermochte Voltaire nur mit französisch sprechenden Leuten zu verkehren. Obschon er frühzeitig ein wenig Englisch lesen konnte und sich schon vor der Abreise während des Aufenthalts in der Bastille hatte englische Bücher bringen lassen, war er nicht imstande, sich verständlich in der fremden Sprache auszudrücken. Sein erster Besuch bei Pope auf dessen Landsitz Twickenham wurde daher zu einem drolligen Fiasko; Voltaires Englisch erwies sich als total unverständlich, und Pope konnte kein Wort Französisch sprechen, las es sogar mit größter Schwierigkeit. Viel später, als Voltaire nicht bloß Englisch ohne Lexikon las, sondern es schon mit fließender Feder schrieb, war er nicht fähig, die Schwierigkeiten der Aussprache zu überwinden. Noch in der Vorrede des kleinen Buches, das er am Schlusse des Jahres 1727 auf Englisch herausgab, sagt er selbst bescheiden, daß er das Englische noch immer nicht aussprechen könne und es gelernt habe, wie man Latein und Griechisch lernt; er sei nicht imstande, die Sprache zu verstehen, wenn sie gesprochen werde, ebensowenig, wie wir die Aussprache der Völker des Altertums verstünden, wenn wir sie reden hören könnten.
Erst ganz allmählich gewöhnte sein Ohr sich an den Laut und seine Zunge an die Aussprache. Die Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Colley Cibber hatte Voltaire Zutritt verschafft an das Drury Lane Theater, wo Chetwood, der zwanzig Jahre als Souffleur dort tätig war, ihm lange Zeit hindurch jeden Abend ein Exemplar des aufzuführenden Schauspiels in die Hand gab, das er auf seinen Orchesterplatz mitnahm, um so der Vorstellung folgen zu können. In vier bis fünf Monaten lernte er die Sprache schreiben, nur nicht mit der richtigen Orthographie, aber so konnte er auch nicht Französisch schreiben; man legte ja in jener Zeit gar kein Gewicht auf Rechtschreibung. Selbst Eigennamen buchstabiert Voltaire inkorrekt, bald auf diese bald auf jene Art. (So schreibt er Law stets Lass.) Nach Verlauf noch weiterer Monate verstand er Gespräche, die um ihn her geführt wurden, und wußte sich selbst fließend und mit Leichtigkeit auszudrücken.
Diese Fertigkeit kam ihm eines Tages, als er sich zu Fuß in den Straßen Londons erging, zustatten. Nach den zahlreichen Kriegen zwischen England und Frankreich war der Franzose auf dem Londoner Pflaster eben keine populäre Figur und einige Kerle, die sich mit diesem mißliebigen Anblick nicht versöhnen konnten, schrien ihm nach und machten Miene, ihn mit Kot zu bewerfen. Um ihrem Angriff zuvorzukommen, blieb er stehen, stieg auf einen Prellstein und begann von dieser Höhe herab eine englische Ansprache in folgendem Stil: »Tapfere Engländer! Bin ich nicht unglücklich genug, nicht unter euch geboren zu sein?« – Er hatte solchen Erfolg, daß der Pöbel, der ihn insultiert hatte, sich um ihn drängte und ihn nach seinem Hause tragen wollte, aus lauter Entzücken, daß ein Fremder ein solch ausgezeichnetes Englisch spreche.
Die Briefe, die Voltaire aus London an Thiériot schrieb, waren englisch geschrieben, natürlich um die sie öffnenden Zensoren zu ärgern. Noch lange nach seiner Heimkehr schrieb er seine Briefe in dieser Sprache. Wir entnehmen Äußerungen seiner Zeitgenossen, daß er sich jedesmal, wenn er Madame du Châtelet in Anwesenheit anderer etwas anvertrauen wollte, sich der englischen Sprache bediente. Noch 1764 sprach er mit Besuchern auf Ferney fließend Englisch und zitierte auswendig Stellen von Dryden. In seinem letzten Lebensjahre sprach er Englisch mit Franklin.
Er gewöhnte sich in London sogar daran, in englischer Sprache zu arbeiten. Seinen Brutus begann er englisch und gibt in seiner Zueignung an Bolingbroke als Grund an, daß er englisch denke, so daß es ihm nach seiner Heimkehr nach Frankreich förmlich schwer gefallen sei, wieder französisch zu denken.
Was jedoch noch auffallender ist: er schrieb seine Abhandlungen über den Bürgerkrieg in Frankreich (die zugunsten der Henriade Aufmerksamkeit erregen sollten und seinen Essai sur la poésie épique, (der zunächst denselben Zweck verfolgte) ursprünglich englisch und nicht französisch. Als ihm eine Veröffentlichung der letztgenannten Abhandlung in französischer Sprache von Wichtigkeit erschien, brachte er es nicht über sich, sie selbst zu übertragen, sondern gestattete – mit geringer Menschenkenntnis – dem Schlingel Desfontaines, der La Ligue gestohlen und mißbraucht hatte, die Arbeit zu übersetzen und herauszugeben. Desfontaines beherrschte, nebenbei bemerkt, das Englische so wenig, daß er das Wort cake (Kuchen) mit Cacus (dem Riesen) wiedergab.
Voltaire hat sich offenbar eine Zeitlang vollständig mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß sein Exil sehr lange dauern werde; war es doch nicht wahrscheinlich, daß der Einfluß der Familie Rohan aufhören oder sich vermindern würde.
In seinem höchst interessanten und mit Rücksicht auf die damalige Bildungsstufe ganz ungewöhnlich lehrreichen Rat an einen Journalisten (1737) ist es bemerkenswert, wie er, zum Schluß zu der Frage gelangend, welche Sprachen ein französischer Journalist (nach dem Sprachgebrauch jener Zeit: Zeitschriften-Mitarbeiter) beherrschen solle, die Antwort gibt: »Ein guter Journalist muß Englisch und Italienisch können; denn es sind viele geniale Werke in diesen beiden Sprachen geschrieben und das Genie ist fast nie zu übersetzen«. Deutsch zählte man noch nicht mit. Noch viel später sprach Friedrich der Große immer nur französisch und schrieb alle seine Werke auf Französisch. Auch in England war zu jenem Zeitpunkt das Französische Hofsprache. Georg der Erste sprach als Deutschgeborener nicht einmal englisch.
Wie erwähnt, war Voltaire während des ersten Halbjahrs seines Londoner Aufenthalts auf den Verkehr in Häusern und Kreisen beschränkt gewesen, in denen man Französisch sprach.
Solch ein Haus war vor allem das Bolingbrokes. Die Hausfrau war Französin, die ehemalige Madame de Villette, die nach eigener Aussage in den vielen Jahren, da sie mit Bolingbroke zusammen lebte, nicht mehr Kenntnis der englischen Sprache erworben hatte, als daß sie eben verstehen konnte, was very warm und very cold heiße. Die ganze Konversation in diesem Hause war folglich, soweit die Hausfrau daran teilnahm, französisch, wie auch die tiefere Bildung des Hausherrn eine einseitig französische war.
Der Kreis, der infolge dieses besonderen Umstandes für Voltaire anfänglich in Betracht kam, war in erster Linie die zahlreiche Clique französischer Flüchtlinge, die im Rainbow-Coffeehouse in Marylebone ihre Zusammenkünfte hatte, wo täglich in der Muttersprache der Teilnehmer Politik und Literatur erörtert wurden. Unter ihnen waren einige, die Voltaire gut aufnahmen, andere – wie Saint-Hyacinthe –, die ihn schon damals mit kleinlicher Kritik verfolgten und später seine verbissenen Feinde wurden.
Voltaire erkannte von der ersten Stunde an, daß er, wollte er aus seinem Aufenthalt in dem fremden Lande irgendwelchen wirklichen Nutzen ziehen, von Grund auf dessen Sprache erlernen müsse. In der Mitte des folgenden Jahrhunderts lebte ein anderer großer Franzose, Victor Hugo, zwanzig Jahre lang auf britischem Boden, ohne Englisch zu lernen. So war der leidenschaftlich wißbegierige Voltaire nicht beschaffen.
Es lag nicht in Voltaires Natur, sich von seinem Schicksal niederschmettern zu lassen. Er suchte von Anfang an in England nicht die Einsamkeit, außer um zu arbeiten. In der Einsamkeit aber überwältigte ihn rasender Zorn ob der Verhöhnung, die er, ohne irgendeine Satisfaktion erreichen zu können, erlitten hatte. Er war ja sogar dafür, daß er seine Ehre behaupten wollte, mit Verbannung bestraft. Und mehr als dies: er galt von nun an in der höheren Gesellschaft Frankreichs nicht als ein Beleidigter, sondern als ein zum Gespött Gewordener. Seine ehemaligen Freunde hatten nichts als ein Achselzucken für ihn übrig, während der Chevalier de Rohan sich in seiner Kraft und Überlegenheit sonnte.
Er hielt es nicht aus; es wurde ihm zur einzigen, fixen Idee und nach mehrmonatigem Aufenthalt in England schiffte er sich ein und kehrte heimlich in die Heimat zurück, um seinen Verhöhner aufzusuchen und zu bestrafen. Er fand keine Ruhe, bevor er sich gerächt hatte.
Vergebens aber suchte er seinen Feind allerwärts, wo er erwarten konnte, ihm zu begegnen. Es war, wie er später in einem oben angeführten Briefe schrieb, als wurde Rohan durch einen Memmen-Instinkt gewarnt. Er traf ihn nirgends und die Angst vor neuerlicher Haft und Einkerkerung zwang ihn zur Rückkehr nach London.
In dem Briefe, den er am 12. August 1726 an Thiériot richtet (er verrät nicht, woher, aber sicher geschah es noch von der französischen Küste aus), herrscht ein bei Voltaire höchst ungewöhnlicher Akzent von tiefem Mißmut. Er fühlt sich wie mit den Wurzeln aus seinem Heimatland gerissen; seine Hoffnungen sind vernichtet, seine Zukunft erscheint trostlos.
Er erzählt hier von seiner kurzen Reise nach Paris: Thiériot wird sich wohl vorstellen können, daß Voltaire, da er ihn nicht aufgesucht hat, niemanden aufgesucht habe. Nur einen einzigen Menschen habe er gesucht, aber nicht gefunden und nun reist er wieder über Hals und Kopf ab:
Es ist nun geschehen, mein lieber Thiériot. Eine große Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß ich Sie nie mehr in meinem Leben sehe. Ich bin noch sehr unentschlossen, ob ich nach London fahren soll. Ich weiß, daß England ein Land ist, wo die schönen Künste geehrt und gelohnt werden, wo wohl ein Unterschied besteht zwischen den Lebensstellungen, aber kein anderer Unterschied zwischen den Menschen als der, der auf ihrem Wert beruht. Es ist ein Land, wo man frei und kühn denkt, ohne von Sklavenfurcht gehindert zu werden. Wenn ich meiner Neigung folgte, würde ich mich dort niederlassen, bloß mit dem Vorsatz, denken zu lernen. Aber ich weiß nicht, ob mein kleines Vermögen, das durch so viele Reisen stark eingeschrumpft ist, meine mehr denn je angegriffene Gesundheit und mein Geschmack für die tiefste Zurückgezogenheit mir gestatten werden, mich in das Getöse Whitehalls und Londons zu stürzen. Ich habe sehr gute Empfehlungen an das Land und man erwartet mich dort mit nicht geringer Güte. Aber ich bin nicht schlüssig, ob ich die Reise unternehmen soll. Ich habe nur zwei Dinge in meinem Leben zu tun: das eine, es, sobald ich kann, mit Ehre aufs Spiel zu setzen; das zweite, es verborgen in einer Einsamkeit zu beschließen, die meiner Denkungsweise, meinen Mißgeschicken und der Kenntnis, die ich von den Menschen habe, entspricht.
Er fährt fort, daß er leichten Herzens die Pensionen, die er vom König und der Königin genießt, aufgebe; sein einziger Kummer sei, daß er sie nicht auf den Freund, auf Thiériot übertragen könne. Es wäre ihm ein Trost in seiner Einsamkeit, denken zu können, daß er diesem noch einmal im Leben nützlich sein dürfe; aber er sei dazu bestimmt, in jeder Beziehung unglücklich zu sein; das größte Vergnügen, das ein rechtschaffener Mann haben könne – das, seine Freunde zu erfreuen –, sei ihm versagt.
Welche Ironie des Schicksals! Wie überflüssig war diese seine Besorgnis, seine Einkünfte nicht auf Thiériot übertragen zu können! Bald genug sollte dieser Voltaires Einkünfte auf sich selbst übertragen, ohne zu fragen und ohne ihm zu danken!
Von dem Freunde wandern dann seine Gedanken zu der Freundin, der letzten, nun der einzigen, zu ihr, die er an dem Tage, ehe er Frankreich offiziell verließ, in Paris sehen wollte. Er hat seit seiner Abreise nichts von ihr gehört. Er weiß nicht, wie Madame de Bernières an ihn denkt. Und er zitiert mit einer kleinen Änderung einige Verse aus Racines Mithridate (Akt II, Szene IV):
Prendrait elle le soin de rassurer mon cœur
Contre la défiance attachée au malheur?
Er will sein ganzes Lebelang ihre ihm bewiesene Freundschaft hochhalten und ihr die seine bewahren. Er wünscht ihr eine bessere Gesundheit, gute Vermögensverhältnisse, viel Vergnügen und Freunde, wie Thiériot einer ist: »Sprechen Sie bisweilen mit ihr von mir!«
Er war ihr ja in vieler Hinsicht verbunden. Wie eifrig und energisch hatte sie sich gezeigt, als es sich im Jahre 1724 darum handelte, La Ligue in Rouen heimlich drucken zu lassen! Wie liebevoll war sie um ihn besorgt gewesen, als sie ihm – und, um alle üble Nachrede zu vermeiden, auch Thiériot – in ihrem eigenen Hause eine Unterkunft verschaffte! Gleichwohl war sie keine von denen, deren Gefühle eine Trennung zu überleben imstande sind, und ebensowenig dazu geschaffen, im erforderlichen Falle entschieden Partei zu ergreifen. Nicht einmal ihres intimsten und liebsten Freundes wegen konnte sie Entrüstung fühlen.
Abermals, welche Ironie des Schicksals! Wie überflüssig war Voltaires Besorgnis, daß Madame de Bernières einen Freund vermissen würde!
Der erste Brief, den sie ihm nach England sendet, läßt ihn wissen, sie müsse ihm ehrlich bekennen, daß sie mit dem Chevalier de Rohan in der Oper gewesen sei.
In der ausführlichen und liebevollen Antwort, die Voltaire am 16. Oktober 1726 an sie schreibt, bittet er sie höchst bescheiden, von Zeit zu Zeit seiner zu gedenken, auf daß er, wenn er sie einstmals wiedersehe, in ihrem Herzen ein Mitgefühl mit seinem Unglück finden könne, das »zumindest der Freundschaft gleiche«. Er bemerkt höchst verständig, daß ja die meisten Frauen nur Leidenschaft oder Gleichgültigkeit kennen. Er möchte so gern von ihr Freundschaft erhoffen. »Ich verzeihe Ihnen, daß Sie mit dem Chevalier de Rohan in der Oper waren, wenn Sie ein bischen Scham darob fühlen.«
Hiermit scheint der Briefwechsel ins Stocken geraten zu sein. Madame de Bernières trennte sich nach einer längeren Zeit gegenseitiger Mißstimmung von dem Präsidenten, wurde 1734 Witwe, vermählte sich sofort wieder mit einem Offizier der Leibgarde (garde du corps) namens Prudhomme, und starb 1757. – Sie war vierunddreißig Jahre alt, als sie Voltaires beste Freundin wurde, und achtunddreißig Jahre, als sie es zwar noch war, aber dennoch mit dem Manne, der ihn hatte durchprügeln lassen, ins Theater ging.
Fast an demselben Tage, da Voltaire diese Neuigkeit erfuhr, die eine gewisse Wehmut in ihm hervorrief, traf ihn auch ein ernster und tiefer Kummer. Er empfing die Nachricht von dem Tode seiner einzigen Schwester. Wie heftig dieser Todesfall ihn ergriff, bezeugen die tiefbewegten Worte seines Briefes an eine alte Freundin der Familie Arouet, Fräulein de Bessières.
Der herzlichsten Gastfreundschaft begegnete Voltaire bei dem vorhin genannten reichen Londoner Kaufmann Falkener, der ihm seinen luxuriösen Landsitz Wandsworth ganz zur Verfügung stellte. Hier war es, wo er sich dem Studium des Englischen mit Kraft hingab, wo er später den ersten Akt seines Brutus in englisch und seine beiden Abhandlungen in derselben Sprache schrieb.
Ballantyne hat mit Feinheit nachgewiesen, welch leidenschaftliche Freiheitsliebe in diesem englisch-französischen Brutus zum Ausdruck kommt und wie viele unzweifelhafte Anspielungen auf das Verhältnis zwischen England und Frankreich und auf Voltaires eigenes Schicksal er enthält. In den beiden folgenden Versen ist Griechenland England, und Ionien Frankreich:
La Grèce entière est libre et la molle Ionie
Sous un joug odieux languit assujettie.
Es ist seine eigene ungerechte Verhaftung, an die er denkt, wenn er schreibt:
Arrêter un Romain sur de simples soupçons,
C'est agir en tyrans.
Und er hat augenscheinlich an die Untertänigkeit der Franzosen gegenüber Königsmacht und Priesterherrschaft gedacht, wenn es in Brutus heißt:
Esclaves de leur rois, et même de leurs prêtres,
Les Toscans semblent nés pour servir sous des maîtres.
Auch in seiner Abhandlung über epische Poesie, die nicht in französischer Sprache erschien, verrät sich eine feurige Freiheitsliebe. Es heißt hier in Voltaires mannhaftem Englisch:
Liberty of thought is the life of the soul ... It is a great misfortune that there are so few French imitators of our neighbours, the English. We have been obliged to adopt their physical science, to imitate their financiel system, to build our ships on their plan; when shall we imitate them in the noble liberty of allowing the mind to take all the flight of which it is capable?
Krankheit und Niedergeschlagenheit machten den Aufenthalt in dem nur ein paar englische Meilen von London entfernten kleinen Dorfe für ihn höchst wünschenswert. Er bewahrte Falkener denn auch beständig eine tiefe Dankbarkeit; er freute sich, als sein Gastfreund, der sein Vermögen durch den Verkauf von Seide und Tuch nach der Levante erworben hatte, zu Englands Gesandten in Konstantinopel ernannt wurde – was so stark gegen französische Sitten abstach – und widmete ihm 1732 mit einer halb in Prosa, halb in Versen geschriebenen Epistel, die ein ganzes kleines Werk für sich ist, seine beliebteste Tragödie Zaïre.
Falkener war ein Mann von guter Erziehung mit literarischen und künstlerischen Interessen, in den alten Sprachen wohlbewandert und ein Sammler von Antiquitäten. In der Zueignung von Zaïre nennt Voltaire ihn seinen »Landsmann in der Literatur« und seinen intimen Freund. Er hat in seiner Replik gegen Pascal einige Zeilen von Falkeners Hand eingeflochten, in welchen dieser eine Selbstcharakteristik gibt, die Zufriedenheit atmet und deren Grundempfindung in Voltaires so leidenschaftlich verketzertem aber unschuldigem Le Mondain (1736) wiederkehrt. Falkener schreibt: »Ich lebe hier just so, wie da Sie mich verließen, weder lustiger noch trauriger, weder reicher noch ärmer, erfreue mich einer ausgezeichneten Gesundheit und jedes Dinges, das das Leben behaglich macht; ohne Verliebtheit, ohne Habsucht, ohne Ehrgeiz und ohne Neid; und solange dies alles währt, will ich mich kühn einen in Wahrheit glücklichen Mann nennen.«
Falkener machte übrigens eine gewisse Karriere. Nachdem er Ambassadeur in Konstantinopel gewesen, wurde er Privatsekretär des Herzogs von Cumberland (Georg des Zweiten Sohn). Er folgte dem Herzog in den Krieg, erlebte in seinem Gefolge die Niederlage bei Fontenoy und begleitete ihn auch 1746 nach Schottland, wo die Schlacht bei Culloden den Aufstand erstickte. Später wurde er Generalpostmeister und behielt diese Stellung bis zu seinem Tode.
The Daily Journal vom 27. Januar 1727 enthielt folgende Notiz:
In der vorigen Woche wurde Herr Voltaire, der aus Frankreich verbannte berühmte französische Dichter, Seiner Majestät vorgestellt, die ihn sehr gnädig empfing. Es heißt, daß er einen Wink aus Frankreich erhalten hat, seine Dichtung La Ligue nicht drucken zu lassen, da sie in Frankreich durch den Cardinal de Bissy gerichtlich belangt ist wegen der in diesem Buche enthaltenen Lobreden auf Königin Elisabeths Handlungsweise in religiösen Angelegenheiten und wegen zahlreicher Ausfälle gegen den Mißbrauch der Papstgewalt und gegen Verfolgung in Glaubenssachen.
So wurde denn Voltaire bei dem Hofe in St. James eingeführt und Auge in Auge gestellt mit dem Manne, den er neun Jahre früher einen Heros genannt hatte, dessen Untertanen sämtlich Melpomenes Söhne seien. Er sah den König nur fünf Monate vor dessen Tode. Aber er verlor nichts durch diesen Todesfall, da er dem König Georg dem Zweiten und der Königin Caroline, die im Juni 1727 den englischen Thron bestiegen, wärmstens anempfohlen worden war.
Unter denen, die der Königin, noch als sie Prinzessin von Wales war, am nächsten standen, befand sich eine taube und sehr anspruchslose Dame, Mrs. Henriette Howard, spätere Gräfin von Suffolk. An sie schrieb die ehemalige Madame de Villette, nunmehrige Lady Bolingbroke, in ihrem einschmeichelndsten Französisch (mit der haarsträubendsten Orthographie, ohne Akzente und Apostrophe, mit zwei Worten in einem, mit sy statt si) auf Umwegen eine für die Prinzessin von Wales bestimmte Empfehlung Voltaires, die nicht eindringlicher sein konnte: »Sie lieben Geist und Verdienste und sind besser als irgendein anderer imstande, diese zu beurteilen. Ich bitte Sie, gewähren Sie dem einzigen französischen Dichter, den wir augenblicklich besitzen, Ihren Schutz, und haben Sie die Güte, Ihrer kgl. Hoheit eine neulich von ihm veröffentlichte Tragödie in dem mitfolgenden Exemplar vorzulegen, das er für sie zu bestimmen sich die Freiheit genommen hat.« Der Brief schließt mit einem Strom anmutiger Artigkeiten, die an die Adresse der reichen Empfängerin gerichtet sind.
Noch eine zweite Beschützerin an dem neuen Hofe besaß Voltaire in einer anderen der Favoritinnen des königlichen Paares, Mrs. Clayton (später Lady Sundon). Diese Dame nahm sich seiner wie eine Freundin an. Er vergaß nie, was er ihr verdankte. Von Frankreich aus schreibt er später an sie: »Ich wollte, zu Ehren Versailles, zum Besten des Fortschritts in Tugend und guten literarischen Sitten, wünschen, einige solcher Ladies wie Sie hier zu haben. Sie sehen, daß meine Wünsche grenzenlos sind. Aber grenzenlos sind auch der Respekt und die Dankbarkeit, mit denen ich, Madame, mich nenne Ihren ergebensten und gehorsamsten Diener.« An solche Höflichkeit hatte der kleine jähzornige Tyrann Georg der Zweite die Damen an seinem Hofe nicht gewöhnt.
Königin Carolinens guter Freund Lord Hervey war auch ein Freund Voltaires; er hatte den Dichter schon in Paris aufgesucht. Dieser liebenswürdige Mann, der Reisen unternahm und Gedichte schrieb, von welchen sich eine Probe in Voltaires Lettres philosophiques übersetzt findet – es ist ein Stück Poesie über Italien, das wohl vor allem seiner Papst- und Pfaffenfeindlichkeit wegen den Beifall des Übersetzers gewann –, hatte eine schöne Frau, welche schon als die unvergleichliche Molly Lepell von zahllosen Poeten besungen worden war. Einige Verse, die Voltaire in seinem besten Englisch an sie richtete, verraten, daß sie einen starken Eindruck auf ihn gemacht hat. Und sie wird wohl die einzige Engländerin sein, von der dies gesagt werden kann. Die Verse lauten:
Hervey, would you know the passion
You have kindled in my breast?
Trifling is the inclination
That by words can be express'd.
In my silence see the lover;
True love is by silence known,
In my eyes you'll best discover
All the power of your own.
Dies ist außerordentlich gut gemeint; aber Voltaires französische Verse sind dennoch vorzuziehen.
Nicht lange nach seiner Ankunft begann Voltaire bei den Schriftstellern und Gelehrten Englands Besuche abzustatten.
Von den Dramatikern suchte er Congreve, den er höchstlich bewunderte und Englands Molière nannte. Er traf ihn schwach und angegriffen, nicht weit vom Tode. Einen übeln Eindruck machte es auf Voltaire, daß Congreve wegwerfend von der eigenen Schriftstellerei sprach, nichts als Edelmann sein wollte und seine literarische Tätigkeit als Dilettantismus betrachtete. Er selbst hat an Congreves Stücken nur das eine auszusetzen, daß es zu wenige sind. Nach seinem Urteil sind sie »alle vortrefflich und befolgen streng die Regeln des Theaters«. Was Voltaire besonders an ihnen schätzt, ist, daß sich die Schurken darin stets anständig und gebildet ausdrücken.
Englands zweiten berühmten Dramatiker, William Wycherley, konnte Voltaire nicht aufsuchen, da er gestorben war. Aber er zollte ihm hohe Anerkennung und fand, daß The Country Wife zwar keine Schule für gute Manieren, wohl aber für Geist und gute komische Effekte sei. Ja, er ging so weit, die Komödie The Plain Dealer als die witzigste von allen, sowohl antiken wie modernen, zu erklären. In Wirklichkeit war sie eine Frucht des Eindrucks, den Wycherley von Molières Le Misanthrope empfangen hat, und steht als Dichtwerk gar weit hinter Molières Drama zurück; auf der Bühne besitzt es jedoch mehr Leben, und Voltaire hat es selbst in seinem Schauspiel La Prude (1740) bearbeitet, einem nach unseren Begriffen äußerst vorsichtigen Werk, dessen Sittenschilderung damals jedoch für so kühn galt, daß es auf dem regulären Theater nicht zur Aufführung gelangte, sondern nur (1747) bei einer Privatvorstellung auf dem Schlosse der Herzogin von Maine in Sceaux, wo Voltaire selbst den versifizierten Prolog deklamierte.
Samuel Johnson, der zur Zeit des Aufenthalts Voltaires in London noch nicht erwachsen war, der aber nichtsdestoweniger später eine Sammlung gehässiger und unwahrer Anekdoten über diesen Besuch herausgab, begann nachher Voltaire mit unauslöschlichem Haß zu verfolgen.
Wie erwähnt, mißlang Voltaires erster Besuch bei Pope, im Laufe der Zeit trafen die beiden Männer sich jedoch wiederholt bei Bolingbrokes und auf Twickenham, bei Bubb Dodington.
Es gab nicht wenige geistige Berührungspunkte zwischen Pope und Voltaire, auch nicht geringe Ähnlichkeit zwischen ihren persönlichen Temperamenten: beide hatten einen schwächlichen Körper. Doch war Popes körperliche Gebrechlichkeit buchstäblich als die fast hilflose Schwäche eines armen Buckligen aufzufassen, während Voltaires Zartheit eine herkulische war. Er erzählt in seinen Briefen zwar hartnäckig von seinem niedergebrochenen Gesundheitszustand; aber wenn er auch über diese seine Schwäche häufig jammerte, so wurde ihr Besitzer doch über dreiundachtzig Jahr alt.
Es bestand eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der verstandesklaren Poesie der beiden; sie pflegten zu gleicher Zeit die in unseren Tagen so vollständig verdrängte, teils didaktische, teils satirische Dichtung in Versen. Voltaire bewunderte sowohl Popes Poesie wie die Gays, und hatte beide leidenschaftlich gern. Freilich war, was ihm bei Pope begegnete, ohne daß er sich darüber Rechenschaft gab, bloß französischer, von Boileau stammender Einfluß. Voltaire stellte Popes Essay on Criticism über Boileaus L'art poétique; er zog auch Popes Rape of the lock Boileaus Le Lutrin vor.
Pope und er hatten bereits Artigkeiten ausgetauscht, ehe sie noch imstande waren, miteinander zu sprechen. Bolingbroke hatte Pope La Ligue geschickt und dieser antwortete mit warmen Lobsprüchen über das, was er davon verstand – gewiß nicht viel. Voltaire seinerseits sandte Pope von Dawley aus den Ausdruck seines überströmenden Mitgefühls, als er erfuhr, daß Pope sich durch einen Sturz aus dem Wagen die Hand zerschnitten habe, diese Hand, die über die geraubte Haarlocke und über die Kritik geschrieben und die Homer in englisches Gewand gekleidet hatte.
Schon im Oktober 1726 schrieb Voltaire an einen Freund in Paris:
Ich habe niemals eine so liebenswürdige Einbildungskraft, eine so bezaubernde Anmut, so große Verschiedenartigkeit, so viel Geist und verfeinerte Weltkenntnis vereint gesehen wie in dieser kleinen Gestalt.
Noch im Jahre 1756 beichtete er Thiériot: »So schöne Verse schreibe ich nicht wie Pope«.
Sir John Denham hatte in seinem Gedicht über Coopers-Hill zur Themse gesprochen:
O could I flow like Thee, and make thy Stream
My great Example, as it is my Theme;
Though deep, yet clear; though gentle yet not dull;
Strong without rage, without o'erflowing full.
Voltaire wandte diese Zeilen auf Popes Poesie an und sprach ihn folgendermaßen an:
Que votre poésie, et forte et naturelle,
Ne soit de la Tamise une image fidèle;
Soyez profond, mais clair; soyez doux, sans lenteur;
Plein, sans vous déborder; rapide, sans fureur.
Voltaire fand Popes glashelle Dichtung Essay on man als poetische Arbeit höchst wertvoll, während er später, je mehr die Zeit verstrich und sein angeborener Optimismus schwand, allerlei falsche Vorstellungen vom Lebensglück in ihr zu entdecken meinte.
Namentlich nach dem Erdbeben in Lissabon ging ihm auf, daß Pope in dieser Richtung nichts anderes getan hatte, als Shaftesburys Characteristics und Leibniz' Théodicée in Verse zu bringen. Der Optimismus begann ihn zu ärgern. Er schrieb irgendwo, Alliebe sei der Name, den man jener Naturordnung gebe, kraft welcher die Tiere einander auffressen. Und er dichtete später Candide tatsächlich ebensosehr gegen Pope wie gegen Leibniz.
Irgendwo sagt er: »Die da schreien, daß alles gut sei, sind Charlatans. Shaftesbury, der diesen Unsinn in Mode brachte, war ein sehr unglücklicher Mann. Ich habe Bolingbroke als Beute von Schmerz und Wut gesehen und habe Pope selbst, den er diesen schlechten Witz in Verse setzen ließ, so bemitleidenswert wie irgendeinen, den ich kenne, gefunden, körperlich mißbildet, seelisch aufgerieben, stets krank, stets sich selbst zur Last und bis zu seiner letzten Stunde von hundert Feinden gejagt.« Und anderswo: »Mein armer Pope, mein armer Buckliger, wer hat dir erzählt, daß Gott dich nicht ohne einen Buckel hätte schaffen können! ... Was mich selbst betrifft, so leide ich, und ich gestehe es.«
Später bewog Voltaire Madame du Châtelet, mit Pope zu korrespondieren, und sie schreibt an ihn: »Er spricht stets mit unendlicher Achtung von Ihnen.«
Einen weit stärkeren Eindruck empfing Voltaire jedoch von dem dämonischen Jonathan Swift, der im April 1727 aus Irland auf halbjährigen Besuch in England eintraf. Voltaire begegnete ihm in Dawley und Twickenham und verbrachte drei Monate nacheinander mit ihm bei Lord Peterborough. Wenn Voltaires Lehrdichtung Discours en vers sur l'homme, die 1734 zu erscheinen begann und bis 1737 fortgeführt wurde, eine Art Parallele zu Popes ein wenig früher veröffentlichtem Essay on man (1733) bildet, so ist kein Zweifel, daß Voltaires Micromégas nicht entstanden wäre, falls nicht Swift, eben in dem Jahre, da Voltaire nach England kam, sein berühmtestes satirisches Werk Travels of Gulliver herausgegeben hätte. Abgesehen von dem Schluß, der Voltaire mißfiel, bewunderte er diese Arbeit tief.
Swift seinerseits war von französischer Literatur ebenso stark beeinflußt wie Voltaire von englischer. Er empfing die Idee zu seiner ersten berühmten Satire Tale of a tub (1704) von Fontenelles Geschichte von Mero und Enegu, das soll heißen: von Rom und Genf, einem Werk, das ebenso die Zwistigkeiten zwischen den christlichen Konfessionen verspottet. Überdies stand Swift unter der Einwirkung der Erzählung Boccaccios von den drei Ringen, die Lessing lange danach in seinem Nathan der Weise bearbeitete.
In dem späteren Zeitraum seines Lebens stand Voltaire also der Swiftschen Schwarzseherei näher als dem Popeschen Frohblick. Wogegen er in der Zeit, die er in England verbrachte, trotz der persönlichen Mutlosigkeit, die ihn mitunter befiel, im Grunde zu Popes Empfinden neigte.
Der ganze beredte und warmgefühlte Angriff auf Pascals Gedanken, der den Abschluß der Lettres philosophiques bilden sollte und nach Voltaires Angabe in Wandsworth geschrieben ist, bekämpft die Misanthropie und steht auf dem Standpunkt, daß der Mensch weder so schlecht noch so unglücklich sei, wie Pascal behauptet.
Voltaire erzählt hier, daß der obenerwähnte Brief Falkeners eben eines Tages eintraf, als er damit beschäftigt war, Pascal zu widerlegen; da er aber ausdrücklich bemerkt, daß der Brief von einem in einem fremden Lande ansässigen Freunde kam, so kann der betreffende Abschnitt ja wohl erst in Frankreich geschrieben worden sein. Gleichviel jedoch, ob die Stelle aus dem Jahre 1728 oder 1729 stammt, es steht darin mit ausgeprägtem Optimismus: »Du wunderst dich, daß Gott den Menschen so begrenzt, so unwissend, so unglücklich gemacht hat. Warum wunderst du dich nicht, daß er dich nicht noch begrenzter, noch unwissender, noch unglücklicher gemacht hat?« – Und merkwürdigerweise stimmt diese Stelle fast Wort für Wort mit einer in Popes Essay on man (von 1733) überein:
Presumptuous man! the reason wouldst thou find,
Why formed so weak, so little and so blind?
First, if thou canst, the harder reason guess,
Why form'd no weaker, blinder and no less?
Die Dichter sprechen hier beide von dem Leben im allgemeinen. Sonst befaßte sich Voltaire zumeist mit Vergleichen zwischen England und Frankreich.
Während des ausgebreiteten Verkehrs mit englischen Größen und mit englischen Bürgersfamilien gewann er trotz seiner Begeisterung für die Vorzüge dieser Nation dennoch den Eindruck, daß sie den Franzosen an Schliff der Sitten nachstehe. England beherrschte die Kunst des Denkens, Frankreich die des Gefallens.
Und trotz seines Umgangs mit wohlhabenden Männern und Frauen fand er auf englischem Boden eine weit größere Dürftigkeit der Lebensweise. Er ist der Meinung, daß es »in den Pariser Bürgerhäusern wohl fünfhundertmal so viel Silberzeug gebe als in denen Londons«. Die Wohnungen seien in Paris besser, die Möbel besser, die Bedienung sei besser. Man speise in Paris viel besser als in London. In England gebe es dreißigerlei Religionen, aber nur eine Art Sauce. Und man esse in Paris an einem einzigen Abend mehr Geflügel und Wild als in London in einer ganzen Woche. In Paris verbrenne man vermutlich tausendmal soviel Kerzen. Denn außer bei Hof und im Hofviertel verwende man in England nur Talglichter.
Er findet im ganzen genommen die Engländer gröber und roher als die Franzosen. Sie verstehen nicht die feine Sprache; sie interessieren sich nicht für vornehme und sanfte Musik. Wie sie gemischtere Getränke trinken und gewürztere Nahrung brauchen, so verlangen sie auch nach Trommeln und Trompeten.
Und er drängt sein Urteil in den von anderen oft wiederholten ausgezeichneten Vergleich des englischen Volkes mit dem guten englischen Bier zusammen: zuoberst Schaum, zuunterst Hefe; was in der Mitte ist, vortrefflich.
Den größten von allen Männern Englands bekam Voltaire nicht zu sehen. Isaac Newton war nicht zu sprechen und sollte bald das Zeitliche segnen. Er starb am 20. März 1727, fünfundachtzig Jahre alt. Allein mit Staunen und Begeisterung sah Voltaire, der nach einem Überfall herzoglicher Lakaien nach England Verbannte, am 8. April Newtons Sarg von sechs Herzogen und sechs Grafen, unter ihnen Englands Lordkanzler, nach der Westminster-Abtei tragen.
Er sah die Wissenschaft von Männern geehrt, deren gesellschaftliche Stellung und deren Vermögensverhältnisse fürstlich waren. Es wurde ihm klar, daß der römische Katholizismus in Frankreich, der die Literatur knebelte, in Wirklichkeit die Zivilisation erdrosselte, und daß der Protestantismus, so wenig einnehmend er war, nicht nur Autoritäten duldete. Er begriff, was es bedeutete, daß dieses England, das einen seiner Könige hatte köpfen und einen anderen absetzen lassen, die Kirchengewalt gestürzt und Gedanken, Rede, Schrift volle Freiheit gewährte.
Er, der in Frankreich vergeblich von einer Laufbahn als Diplomat geträumt hatte, sah mit Verwunderung, wie England die Männer der Literatur und Wissenschaft geehrt hatte und ehrte. Sowohl Newton wie Locke waren durch einträgliche Stellen in der Landesverwaltung belohnt worden, Addison war Staatssekretär gewesen und in der Westminster-Abtei beigesetzt worden; Prior und Gay hatten wichtige Gesandtschaftsposten inne. Während ihm selbst seine Aufwartung in Versailles einige tausend Francs an Pensionen eingetragen hatte, die er wieder verlor, hatten hierzulande geringere Männer als er, wie Hughes, Rowe, Ambrose Philips und Congreve, sehr einträgliche Sinekuren.
Und er sah die Kunst ebenso hoch geehrt wie die Wissenschaft, sogar jene Kunst, die von den französischen Vorurteilen geringgeschätzt wurde, die Schauspielkunst. Der größte dramatische Künstler, den Frankreich hervorgebracht hatte, Molière, war von der französischen Akademie ausgeschlossen worden und bloß dadurch zu einem Begräbnis gekommen (in aller Stille zur Nachtzeit), daß seine Witwe praktisch genug war, dem Pariser Pöbel eine große Summe Geldes in den Rachen zu werfen.
Newton war im März 1727 bestattet worden. Drei Jahre später wurde die berühmte komische Schauspielerin Mrs. Anne Oldfield beigesetzt, ebenfalls in der Westminster-Abtei, und mit fast ebenso großen Ehrenbezeigungen wie Newton.
In England fand eine alljährliche Feier für Shakespeare statt, in Frankreich keine für Molière.
Das Auffallendste aber war: Voltaire kam aus einem Lande, wo der Knebel Szepter und Hauptwerkzeug der Regierungskunst war, und war nach einem Lande gekommen, wo er fehlte. Hier konnte jeder Schriftsteller, von Swift abwärts, die Politik des Ministeriums mit einer Heftigkeit und einem Spott angreifen, die ihn in Frankreich auf Lebenszeit ins Loch gebracht hätten, und keiner krümmte ihm darum ein Haar auf seinem Haupte. Das Seltsamste war, daß diese Freiheit des Wortes sich hier mit Ordnung und Ruhe vereinen ließ.
Es gab offenbar bei seinen Landsleuten keine Freiheitsliebe. Sie klammerten sich immerzu an irgendein altes System und hinderten nach Möglichkeit das Aufkeimen neuer Gedanken. Aristoteles' Lehre hatte sich in Frankreich länger gehalten als in irgendeinem anderen Lande. Descartes, der vorurteilslos und ohne äußere Voraussetzungen hatte denken wollen, mußte an zwanzig Jahre wohlverborgen in Holland leben, und dennoch wurde seine Philosophie 1643 in Italien, 1656 in Holland verboten. Noch 1693, als der Cartesianismus in England bereits überall von Newtons in Oxford, Cambridge und London frei entwickelten Prinzipien verdrängt worden war, wurde die Philosophie von Descartes in der Sorbonne und von dem Königlichen Rat als gemeingefährlich untersagt. Als die Cartesianische Physik endlich in Frankreich Wurzel gefaßt hatte, weil die Geistlichkeit entdeckte, daß sie spiritualistisch sei, wurde sie zum Dogma, das nicht angetastet werden durfte, und man wandte den Knebel zu ihren Gunsten an.
Das bekam Voltaire recht bald zu spüren, als er auf französisch veröffentlichen wollte, was er in England von und über Newton und Locke gelernt hatte; die Erlaubnis, es zu drucken, wurde ihm verweigert, und er war genötigt, Locke zu verdunkeln, um ihn, vom Zensor unverstanden, passieren zu lassen. In Frankreich mußte die Wahrheit wie eine verbotene und gefährliche Ware eingeschmuggelt werden; hier kam sie zur Welt, freigeboren, frei ausgerufen, unter Widerspruch, Zustimmung und Debatte. Dort, wo sie Schrecken hervorrief, stellte man sie sich augenscheinlich als etwas so Armseliges und Gebrechliches vor, daß sie sich totschweigen oder erwürgen ließ. Hier trat sie ohne Scheu und Scham auf, robust, in vollem Tageslicht, mit breiten Schultern und zwei kräftigen Fäusten, wohl imstande, sich zu verteidigen. Dort verbarg sie sich verfolgt in einem Keller; hier stand sie auf der Arena wie ein Athlet.
Frankreich war das Treibhaus für metaphysische Systeme. In England ließ man die Metaphysik liegen, um Schritt für Schritt auf dem Wege der Erfahrung weiterzugehen. In Frankreich versuchte man einen kühnen Flug nach dem Ursprung des Alls und der Intelligenz und bemühte sich solcherart aus den ersten Prinzipien herzuleiten, wie das Dasein beschaffen sei. In England begann man nicht mit Ideen, weder mit klaren noch unklaren, sondern mit beobachteten Erscheinungen, um bescheiden und vorsichtig aufzusteigen zu den unbekannten Prinzipien und durch eine Folgerungsreihe sie womöglich kennen zu lernen.
Gewiß hatte auch England ausgeprägte Metaphysiker. Es gab sogar solche unter Newtons Schülern. Aber England hatte namentlich einen, der historische Bedeutung gewann, der erste, der die Realität der Sinnenwelt leugnete, Berkeley, den nachmaligen Bischof. Man weiß, daß Voltaire mit Berkeley zusammengetroffen ist, ohne daß jedoch die äußeren Umstände der Begegnung bekannt sind. Er scheint einen vorteilhaften Eindruck von ihm als Persönlichkeit empfangen zu haben, denn er nennt ihn einen Mann, »bei welchem die Liebe zu dem allgemeinen Besten eine Leidenschaft geworden sei«.
Nichtsdestoweniger beweist ein Brief Voltaires an seinen Freund unter den Quäkern, Andrew Pitt, daß er Berkeleys Alciphron, der gleich nach seiner Abreise aus England erschien, abgelehnt hat als ein Buch, dessen Scharfsinn er anerkannte, das ihn aber nicht überzeugen konnte. Es erschien ihm eher als eine Parteischrift, denn ein Ausdruck für Religiosität zu sein. Und ihn zu bekehren vermochte es nicht.
Berkeley stieß ihn ab, wie Cartesius es getan hatte.
Cartesius hatte zwar analytisch und kritisch begonnen, sich aber bald in erfahrungsferner Spekulation verloren. Newtons Methode dagegen hatte darin bestanden, sich zu Beginn an die Erde zu halten und demnächst das, was er hier vor sich gehen sah, prüfend auf den Weltenraum außerhalb der Erdkugel zu erstrecken und zu versuchen, ob die Folgerungen, die sich dadurch ergaben, mit den Beobachtungen stimmten. Warum sollte die Schwerkraft nicht auch auf den anderen Planeten wirken? Warum sollte die Bewegung des Mondes nicht als eine Fallbewegung aufzufassen sein? Und konnte es nicht die Schwerkraft sein, die den Mond in seiner Bahn erhielt? Ja, war es nicht denkbar, daß jeder Stoff eine derartige Anziehung ausübte, daß sie es war, die die Bewegungen der Weltkörper lenkte und das Weltall zusammenhielt?
Was Lockes Lehre betrifft, so war es die neue Auffassung des Erkenntnisproblems, das in Voltaire einschlug. Daß die Ideen nicht angeboren sind, sondern von äußeren oder inneren Erfahrungen stammten und umgebildete Sinneneindrücke oder Reflexionen sind, war eine Lehre, die ihn durch ihre anscheinende Einfachheit und Klarheit ansprach und deren Verkünder er sein Lebelang blieb. Daß bei Locke ein scharfer Gegensatz besteht zwischen der Passivität des Geistes bei Aufnahme der einfachsten Vorstellungen und dessen Wirksamkeit bei der Bildung der abgeleiteten, machte auf Voltaires wenig grüblerische Natur keinen Eindruck. Er fuhr auch, trotz seiner Ungläubigkeit gegenüber angeborenen Ideen, fort, in der Sittenlehre die Unumstößlichkeit nicht weniger Grundgedanken zu verteidigen, bezüglich derer seiner Behauptung nach alle Menschen und alle Nationen untereinander einig waren.
So kam es, daß er Lockes Beweis für die Existenz Gottes: die Welt müsse eine Ursache haben – recht kritiklos aufnahm. Die Kausalität, von deren Wahrheit wir intuitiv überzeugt sind, führt von der Welt zu Gott, so wie wir von der Uhr auf den Uhrmacher schließen. Was nicht existiert, kann nicht Wirklichkeit hervorbringen. – Die Einführung Gottes in das Vorstellungsleben hilft Voltaire wie auch Locke über verschiedene philosophische Schwierigkeiten hinweg. Fragt man, woher die sinnliche Wahrnehmung selbst stammt, woraus der ganze Inhalt des Bewußtseins besteht, so erhält man zur Antwort bloß, daß Gott der Materie die Fähigkeit der Wahrnehmung gegeben haben kann.
Der wahrhaft überwältigende wissenschaftliche Eindruck, den Voltaire in England empfing, war jedoch der, den Newtons Entdeckungen ihm mitteilten, und das Verständnis ihrer epochemachenden Bedeutung. Schon 1726 lernte Voltaire Dr. Samuel Clarke, einen der besten Schüler Newtons, kennen, der geduldig die Fragen des intelligenten Fremden anhörte und ihn in die neue grundlegende Lehre einweihte.
Samuel Clarke (1675-1729) war ungefähr zwanzig Jahre älter als Voltaire, gleich ihm vielseitig begabt und gleich ihm in hohem Grade kritisch veranlagt. Er war einer der allerersten, der den Wert der »sublimen Entdeckungen« Sir Isaacs – wie er sie nannte – begriff, und einer der eifrigsten im Verbreiten der Kenntnis der Newtonschen Philosophie. Ursprünglich für Mathematik veranlagt, studierte er später Hebräisch und wurde Kapellan. Königin Anne machte ihn sogar zu ihrem Hauskapellan und gab ihm St. James, Westminster, als Pfründe. Seine geistliche Laufbahn erfuhr jedoch einen jähen Abbruch, als 1714 sein Buch Scripture Doctrine of the Trinity der Ketzerei bezichtigt wurde. Als Freidenker konnte er nicht Pfarrer bleiben. Man bot ihm nach Newtons Tod dessen Stelle als Münzmeister an, doch er schlug sie aus.
Clarke scheint ein liebenswürdiger, rechtschaffener und bescheidener Mann gewesen zu sein, der Leben und Religion mit den Augen eines folgestrengen Newtonianers betrachtete. Er teilte Voltaire seine Denkweise mit, und von jetzt an war es mit dessen Glauben an Descartes' Wirbeltheorie zu Ende; nicht aber mit seiner Achtung und Bewunderung für Descartes selbst. Er spricht in dem vierzehnten Briefe der Lettres Philosophiques mit gebührender Anerkennung von ihm. Immerhin versteht es sich, daß er die Bedeutung von Descartes für die geistige Entwicklung der Menschheit nicht mit der Newtons vergleicht. Und sicher ist, daß Newtons Entdeckung im Geistesleben der damaligen Zeit keine geringere Umwälzung hervorgerufen hat wie seinerzeit Kolumbus' Entdeckung in den geographischen Vorstellungen und dem Geschäftsverkehr der Europäer.
Von Newtons Nichte, Mrs. Conduit, und deren Gatten, mit denen Voltaire in England Freundschaft schloß, ward ihm die Mitteilung verschiedentlicher lebensvoller Züge und Anekdoten aus dem Leben des großen Mannes.
So erzählte Mr. Conduit, daß Newton im Alter von zwanzig Jahren begonnen hatte, Cartesius zu lesen, und anfänglich bei jeder Stelle, die ihm unrichtig erschien, an den Buchrand das Wort Irrtum notiert habe. Schließlich war er genötigt, die Buchränder so lange mit dem Worte error zu füllen, bis er das Buch im Überdruß wegwarf.
Mrs. Conduit erzählte Voltaire noch eine andere Anekdote von ihrem großen Oheim, die später berühmt wurde und in der Fassung Voltaires in jeder modernen Biographie des großen Forschers wiederkehrt, nämlich die Anekdote von dem fallenden Apfel, der ihm die Idee zu seiner Lehre von der allgemeinen Anziehungskraft als Gesetz des Weltalls gab.
Einen fast ebenso tiefen Eindruck wie der von der Entwicklungsstufe der Philosophie und der Naturwissenschaften in England machten auf Voltaires empfängliches Gemüt die Verschiedenheit der politischen und sozialen Verhältnisse in seinem Vaterlande und hier. Wenn man auf britischem Boden diesen Verhältnissen gespannte Aufmerksamkeit schenkte, so beruhte dies, wie er recht wohl erkannte, zu nicht geringem Teil darauf, daß man keine Zeit an metaphysische Debatten vergeudete.
In Frankreich war der Bauer ein Arbeitstier, steuerpflichtig nach Lust und Laune anderer. Die berühmte Beschreibung seiner Quäler und seiner selbst in dem elften Kapitel von La Bruyères Les Caractères galt damals noch vollauf:
Es ist mir immer neu zu sehen, mit welcher Wildheit Menschen andere Menschen behandeln. Man sieht menschliche Tiere, Männchen und Weibchen, über das Land verstreut, schwarz, fahl und sonnverbrannt, an die Erde gefesselt, in der sie mit unüberwindlicher Hartnäckigkeit schaufeln und schuften. Richten sie sich auf, so zeigen sie ein menschliches Antlitz und in der Tat sind sie Menschen. Nachts ziehen sie sich in ihre Höhlen zurück, wo sie von schwarzem Brot, von Wasser und Wurzeln leben. Sie ersparen anderen Menschen die Mühe zu säen, zu pflügen und zu ernten, um leben zu können, und verdienten also, nicht selbst des Brotes zu entbehren, das sie gesäet haben. – – –
Der Provinz-Edelmann, der, unnütz sowohl für sein Vaterland, wie für seine Familie und sich selbst, oft weder ein Dach über dem Kopfe, noch ordentliche Kleider noch irgendwelches Verdienst hat, wiederholt zehnmal des Tages, daß er adelig sei, verhöhnt einen Parlamentspräsidenten als Bürgerlichen und ist sein Lebelang mit seinen Pergamenten und Titeln beschäftigt, die er nicht gegen den Zeremonienstab eines Kanzlers tauschen möchte.
In England wiederholte sich der erste Eindruck ruhigen Wohllebens, den er seinerzeit in Holland empfangen hatte. Hier gab es keine Kopfsteuern für den Bauern. Geistlichkeit und Adel waren nicht abgabenfrei, sondern bezahlten Steuern wie er. Der Bauer ging nicht in Holzschuhen, aß Weißbrod, war anständig gekleidet und durfte es getrost wagen, den Bestand seines Hofes zu vergrößern oder sein Dach mit Ziegeln zu decken, ohne deshalb eine drückende Mehrbesteuerung fürchten zu müssen. Voltaire sah, daß es hier eine große Anzahl von Farmern mit fünf- oder sechshundert Pfund jährlich gab, die es nicht unter ihrer Würde fanden, selbst ihre Erde zu bebauen und denen es gar nicht einfiel, wie jedem ein bißchen begüterten Franzosen, von dem Lande nach der Stadt zu übersiedeln.
Er entdeckte, daß der Adel hierzulande keine geschlossene Kaste war, sondern daß der große Kaufmann, dessen Handel England und der Erdkugel zum Nutzen gereichte, zum Edelmann erhoben wurde, während der Adel seine jüngeren Söhne auf bürgerliche Tätigkeit und Werkfleiß einstellte.
So erscheint es unzweifelhaft, daß die als Strafe gemeinte und als Strafe empfundene Verbannung den jungen Schriftsteller mit Wissen und Einsicht bereicherte, wozu er ohne sie vielleicht niemals gelangt wäre. Sie schärfte seinen Sinn für das Wirkliche und seinen Instinkt für das Mögliche; sie gab seiner angeborenen geistigen Beweglichkeit den Ballast praktischen Sinnes, ohne den es keinen großen Schriftsteller gibt.
Und so ist sogar diese schimpfliche Züchtigung durch die Lakaien eines vornehmen Herrn dem Gedemütigten noch in anderer Weise zum Vorteil gewesen: Ihm, dessen ganzer Verkehr in Frankreich aus Männern und Frauen bestand, welche alle Vorrechte besaßen, wäre vielleicht ohne die Verbannung nie zum Bewußtsein gebracht, welche Übel die Vorrechte für alle diejenigen mit sich brachten, die nicht von Geburt aus dem Kreise der Bevorzugten angehörten. Die gute Erziehung und nicht geringe Bildung der meisten Vornehmgeborenen, die Achtung, die sie im täglichen Zusammensein dem Talent entgegenbrachten, die Huldigung, die sie im gewöhnlichen Leben dem Genie widmeten, hatten durch eine bereits lange Reihe von Jahren vor seinem Blick verborgen gehalten, was an Roheit und Vorurteilen unter der anscheinenden Anerkennung der Ebenbürtigkeit lauerte. Erst als die glatte Oberfläche, auf welcher er sich mit der Sicherheit eines Schlittschuhläufers bewegt hatte, barst und eine Spalte bildete, so tief, daß er darin versank, erkannte er, wie es um die französische Gesellschaftsordnung in Wirklichkeit bestellt war.
So wurde die Verbannung nach England (wie 1100 Jahre zuvor Muhameds Flucht von Mekka nach Medina) eine Hedschra in seinem Leben.
Schon Burke hat darauf aufmerksam gemacht, daß in den zwei Generationen, die die Zeit zwischen dem Tode Ludwigs des Vierzehnten und dem Ausbruch der Revolution ausfüllen, kaum ein hervorragender Franzose lebte, der nicht England besucht oder Englisch gelernt hat. Unter denen, die über den Kanal fuhren und die englische Gesellschaft kennen lernten, sind außer Voltaire und nach ihm zu nennen: Buffon, Helvétius, Lafayette, Montesquieu, Maupertuis, Rousseau, Roland und Madame Roland.
Keiner von diesen allen aber hat wie Voltaire die Kenntnis Englands auf den mannigfachen Gebieten verbreitet, in denen Zutritt und Verständnis zu gewinnen, ihm gelungen war.
Seine späteren Schöpfungen bezeugen, daß er auch nach seiner Rückkehr auf französischen Boden das Studium der englischen Literatur fortsetzte. Der vierte Akt des Mahomet (zum erstenmal 1742 aufgeführt) ist von George Lillos Drama George Barnwell or the Merchant of London (aus dem Jahre 1731), das bekannte zwanzigste Kapitel aus Zadig von dem Werke des kleinen englischen Dichters Thomas Parnell The hermite beeinflußt, was seinerzeit mit Triumph von Fréron hervorgehoben wurde.
Merkwürdig genug scheint Daniel Defoe, dessen Meisterwerk Robinson Crusoe 1719 erschienen war, von Voltaire ganz unentdeckt geblieben zu sein. Wenigstens hat er meines Wissens niemals den Namen Defoe oder den Namen Robinson erwähnt.
Dagegen hat er einen älteren, äußerst schwer zugänglichen englischen Dichter gelesen und in hohem Grade geschätzt. Es ist Butler, der Verfasser des Hudribas, eines komischen Heldengedichtes, ein Zeitgenosse Miltons. Die Dichtung, die den Bürgerkrieg zu Cromwells Zeit behandelt, ist ebenso weitläufig wie witzig und wendet sich gegen die Feinde König Karls des Zweiten. Voltaire hat 400 Zeilen aus diesem Werke, auf bloß achtzig zusammengedrängt, wiedergegeben, ungemein drollige und wohlgelungene Verse; in seinen Äußerungen über diese Dichtung findet sich ein Wort, das den Haufen aus seinem Munde überraschen durfte, aber zugleich ein Wort, das beweist, wie hoch er durch seinen genialen Verstand als Kunstrichter reichen konnte. Er vergleicht Hudribas teils mit der französischen Satire Ménippée, teils mit dem spanischen Don Quijote. » Hudribas hat vor diesen beiden den Vorteil voraus, in Versen geschrieben zu sein und den weiteren Vorteil, mit Esprit geschrieben zu sein. Die Satire Ménippée kommt ihm nicht nahe. Aber eben kraft seines Esprits hat der Verfasser des Hudribas das Mittel gefunden, tief unter Don Quijote zu stehen. Geschmack, Naivität, die Kunst zu erzählen und ergötzliche Abenteuer zu erfinden, die Kunst, mit Einfällen nicht verschwenderisch umzugehen, ist weit mehr wert als Esprit. Darum wird Don Quijote von allen Völkern gelesen und Hudribas nur von Engländern.«
Voltaire las Shakespeare und so stark Shakespeares Genie und künstlerische Methode all den Ideen über dramatische Poesie zuwiderliefen, mit denen er aufgewachsen war und von welchen er sich bloß auf einem begrenzten Felde zu befreien vermochte, so überraschte ihn das Großartige dieser Genialität und er beschloß, seine Landsleute des von ihm hier entdeckten Reichtums teilhaftig werden zu lassen.
Milton erkannte er so stark an, daß er in seiner Abhandlung über die epische Poesie erklärte, Milton gereiche England zu ebenso großer Ehre wie Newton. Miltons Tochter war bei seiner Ankunft in England noch am Leben, und wiewohl er nicht vor ihrem bald darauf eingetretenen Tode (1727) ihre Bekanntschaft zu machen Gelegenheit fand, so verkehrte er doch mit Männern, die sie genau kannten und ihm alles, was es noch an frischer Überlieferung über den großen Dichter und Kämpfer gab, übermitteln konnten.
In seinem englischen Essai über epische Poesie erzählt Voltaire, Milton habe die Idee zu seinem Epos über den Sündenfall bekommen von einer italienischen Komödie eines Schauspielers Andreino, Adamo, die er in seiner Jugend auf seiner Reise durch Italien in Florenz gesehen. Als diese Behauptung von unwilliger Kritik sogleich als absurd erklärt wurde, antwortete Voltaire in der sehr erweiterten französischen Abhandlung über denselben Gegenstand, er habe durch Freunde der Deborah Milton nicht bloß dies, sondern auch weiter noch erfahren, daß Milton, wie es sich auch tatsächlich verhielt, ursprünglich aus Andreinos Posse die Idee nicht zu einem Epos, sondern zu einer Tragödie schöpfte, von der er anderthalb Akte niederschrieb.
Eine oft erzählte Anekdote berichtet, Voltaire habe eines Tages in Dodingtons Hause bei Tische, trotz aller schuldigen Ehrerbietung für Milton die Episode mit Sünde und Tod in dem › Verlorenen Paradies‹ langweilig und widerwärtig genannt, worauf Young, der im Stillen Voltaires eigenes mageres Gesicht mit dem des Todes bei Milton verglich, folgende Zeilen improvisierte:
You are so witty, profligate and thin,
At once we think thee Milton, Death and Sin.
Gewiß ist, daß Voltaires Verehrung für Milton nicht Bewunderung für seine Allegorien in sich schloß. Dennoch war sie ursprünglich warm. Er sagt, Milton habe aus jener italienischen Bagatelle die Inspiration zu dem »edelsten Werke, das menschliche Einbildungskraft jemals entworfen hat, und das er zwanzig Jahre danach ausführte.« Während man in Frankreich in gebildeten Kreisen nur über das Thema lächelte und über die Schlange, den Teufel, Adams Rippe, den Apfelbiß bloß Witze riß, verstand Miltons Phantasie diesem Stoffe Schönheiten abzulocken, von denen man vor ihm nicht geträumt hätte. Milton hat die Schöpfungsgeschichte ohne Schwulst, die weibliche Neugierde ohne Flachheit geschildert, Wahrscheinlichkeit und Vernunft in übernatürliche Ereignisse gebracht. Das Thema, im Grunde steril, wurde unter Miltons Händen fruchtbar. Und Voltaire bewundert das Gespräch zwischen Adam und dem Engel, die kühnen Züge, mit denen des Satans trotziges, unbezwungenes und schlaues Wesen gezeichnet ist, ebensosehr wie die Weichheit, die Milton da an den Tag legt, wo er es wagt, Gott selbst zu schildern und ihm Worte in den Mund zu legen. Gott, sagt Voltaire, ist von den Heiden stets, von den Juden oft, von den Christen nicht selten als ein allmächtiger Tyrann dargestellt worden. Miltons Gott dagegen ist ein Schöpfer, ein Vater und ein Richter.
Was Voltaire ganz besonders anerkennt, ist der rein menschliche Inhalt der Dichtung. Die Liebe zwischen Mann und Weib ist hier nicht wie in anderen Dichtungen religiöser Art als ein Laster, sondern als eine Tugend dargestellt. Die Gestalten sind nackt, aber ehrwürdig. Mit keuscher Hand entfernt der Dichter den Schleier, der sonst die Freuden der Liebe deckt. Hier ist Zärtlichkeit und Wärme ohne Leichtfertigkeit. Der Dichter hat sich selbst in den Unschuldszustand versetzt, in welchem Adam und Eva sich kurze Zeit befinden.
Voltaire beklagt es, daß der Herzog von Buckingham in seiner Art of Poetry Spenser Milton vorgezogen und daß Dryden ihm bald mit den größten Dichtern des Altertums, Homer und Vergil, bald mit den schlechtesten französischen Poeten, wie Chapelain und Lemoine, verglichen habe. Er freut sich der Gerechtigkeit, die Addison, »der beste Kritiker und der hervorragendste Schriftsteller seiner Zeit«, Milton widerfahren ließ.
Um nun nach diesen Lobesworten auch mit seinen Einwänden nicht zurückzuhalten und um dennoch die Engländer in ihrem nationalen Stolz nicht zu verletzen, hat Voltaire die Form gewählt, die Verschiedenartigkeit des nationalen Geschmacks in England und Frankreich hervorzuheben und sich vorzustellen, was wohl ein französischer Kritiker gegen Das verlorene Paradies geltend zu machen haben würde.
Ein solcher würde Einspruch gegen die Stellen erheben, wo der Dichter teils im eigenen Namen, von sich selbst und seiner Blindheit, teils von seinem Thema spricht, das er dem der Iliade vorzieht. Voltaire für sein Teil findet allerdings in einer derartigen Verquickung nur eine höchst verzeihliche menschliche Schwäche. Dagegen macht er mit Stärke geltend, wie sehr ein Einfall, wie die Einberufung des Teufelsparlaments, dieses Pandämoniums, dem geläuterten französischen Geschmack widerspricht. Er mißbilligt diesen Parlamentssaal mit dorischen Säulen und goldener Decke. Wie schon erwähnt, lassen die Schattenwesen Tod, Sünde, Chaos ihn kalt. Und er entwickelt eine Lehre, wie Allegorien beschaffen sein sollen: kurz gefaßt, ungezwungen, edel. Augenscheinlich ist er der Ansicht, daß seine eigenen Allegorien in der Henriade diesem Muster entsprechen. Es dünkt ihm gut erfunden, daß die Sünde, die Höllenpförtnerin, die Höllentore öffnet, aber unfähig ist, sie wieder zu schließen; denn dies sei klare Allegorie. Dagegen berührt es ihn als sinnlos, wenn Satan und der Tod in Streit geraten und sich zu einer Balgerei anschicken. Gegen die Verstandesdichtung als solche hatte er also nichts einzuwenden; nur mußte das Bild durchsichtig sein.
Addison hat den Krieg in Miltons Himmel bewundert. Voltaire kann diese Bewunderung (mit Recht) nicht teilen. Da derlei reines Gefabel sei, das außerhalb der Tragweite unserer Auffassung liege, dürfe es höchstens auf einigen Seiten behandelt, nicht aber über zwei Bücher ausgedehnt werden. Für französischen Geschmack klinge es ferner ungereimt, wenn die Engel ihren Feinden ganze Berge mit ihren Wäldern und Flüssen an den Kopf werfen. Auch die himmlische Artillerie mißbilligt Voltaire, und mit gutem Grunde. Zu welchem Zwecke diese Kanonen? Sie können die unverletzbaren und unsterblichen Feinde nicht verwunden. Sie vermögen nur die Teufel von dem von ihnen eingenommenen Platz zu verdrängen. Sie wirken, als würden beim Kegelspiel Kegel umgeworfen.
Wie man sieht, ist diese ursprünglich auf englisch für die Engländer geschriebene Kritik wohlwollend und mäßig. Im späteren Leben wurde Voltaire Milton immer weniger freundlich gesinnt. Im Grunde stieß dessen Gegenstand an und für sich ihn ab, und als George Gray 1770 eine Parodie auf Milton herausgab und sie nach Ferney schickte, antwortete er, er habe die Geschichte von dem Apfelbiß immer am meisten zur humoristischen Behandlung geeignet gefunden. In seinen Versen über die epischen Dichter kommt Milton nicht sonderlich gut hinweg. Nachdem er Homers, Vergils und Tassos Erwähnung getan, sagt er:
Milton, plus sublime qu'eux tous,
A des beautés moins agréables;
II semble chanter pour les fous,
Pour les anges et pour les diables.
Im fünfundzwanzigsten Kapitel von Candide läßt er Pococurante sich über Milton lustig machen und ihn einen Barbaren nennen, der in zehn Büchern harter Verse einen langen Kommentar zum ersten Kapitel der Genesis gegeben habe. Während Moses den Ewigen durch sein Wort die Welt erschaffen lasse, entnehme bei Milton der Messias einem im Himmel stehenden Schrank einen großen Kompaß, um mit ihm einen Grundriß zu geben. Die Ehe zwischen der Sünde und dem Tode sei zum Erbrechen. – Candide betrübt sich über diese Kritik: »Er hält etwas von Milton.« Augenscheinlich nicht übermäßig viel; und Voltaire mit ihm.
Wie es von einem in klassischen Traditionen erzogenen Franzosen zu erwarten war, legte Voltaire von Anfang an Addison die größte Bedeutung bei. Er nennt ihn den ersten Engländer, der ein vernünftiges Schauspiel geschrieben habe, eines, dessen Stil durch und durch elegant sei. Addisons Cato aus Utica gilt Voltaire mit Hinsicht auf Diktion und metrische Schönheit als ein Meisterwerk. Er vergleicht seltsamerweise Catos Rolle mit der Cornelias in Corneilles Pompée und gibt der ersteren den Vorzug, da Cato groß sei ohne Schwulst; ja er nennt Cato die schönste Gestalt, die auf irgendeiner Bühne vorkommt. Dagegen bedauert er, daß die übrigen Personen des Stückes bedeutungslos seien sowie auch, daß eine kalte Liebesintrige die Wirkung der Tragödie zerstöre. Was aber in Voltaires Mund das höchste Lob ist: er findet Addison an unfehlbarer Eleganz mit Racine vergleichbar.
Das Vernünftige war und blieb (zumindest theoretisch) in Voltaires Augen der Grundbestandteil der Poesie. Dessenungeachtet packte augenscheinlich die Überlegenheit der Shakespeareschen Phantasie ihn ganz anders als die Addisonsche Vernunft; sie inspirierte ihn und rief seinen Nachahmungstrieb wach. Wenn sie ihm nicht unbedingt imponierte, so kam dies daher, daß er aus den Vorurteilen seines Landes und Zeitalters heraus auf Shakespeare herabblicken mußte als auf einen, der die Regeln von der Einheit des Ortes und der Zeit nicht kannte und befolgte, keinen Anstand nahm, das Burleske mit dem Feierlichen zu vermengen, also »geschmacklos« aus dem würdigen Stil fiel, um bei dem Alltäglichen, dem Niedrigen und Platten zu verweilen.
In seinen schon während des Aufenthaltes vorbereiteten, später ausgearbeiteten Briefen über England sagt er von Shakespeare.
Die Engländer hatten, wie die Spanier, schon ein Theater, da die Franzosen nur eine Bretterbude hatten. Shakespeare, der für Englands Corneille gilt, blühte ungefähr zu Lope de Vegas Zeit. Er schuf das Theater. Er hatte ein kräftiges, fruchtbares, natürliches und erhabenes Genie, ohne den mindesten Funken von gutem Geschmack und ohne die geringste Kenntnis der Regeln ... Die Verdienste dieses Dichters haben das englische Theater zugrunde gerichtet. Es sind so schöne Szenen, so großartige und so furchteinjagende Partien in seinen monströsen Possen, die man Tragödien nennt, daß diese Stücke stets mit großem Erfolg gespielt werden. Die seltsamen und gigantischen Ideen dieses Dichters gelten noch nach dem Ablauf von zwei Jahrhunderten als sublim, fast alle modernen Schriftsteller haben sie kopiert ... Man bedenkt nicht, daß man ihm nicht nachahmen sollte und das Mißgeschick seiner Kopisten bewirkt nur, daß man ihn selbst für unvergleichlich hält.
In dem sehr rührenden Stücke Der Mohr von Venedig erdrosselt ein Mann seine Frau auf der Bühne, und als die Arme erwürgt ist, schreit sie, sie sterbe unschuldig. In Hamlet schaufeln die Totengräber ein Grab und trinken dabei und singen Lieder und machen Witze über einen Totenkopf, den sie finden, wie es Leuten dieses Standes eigen ist.
Voltaire übersetzt als Probestück des Bewundernswerten in Shakespeare den Monolog To be or not to be. Er gibt ihn in gereimten Versen wieder.
Wer heutigentags geneigt ist, in diesen Urteilen ein Zeugnis von Voltaires persönlicher Geschmacksbeschränktheit oder jedenfalls einen Beweis der französischen Geschmacksbegrenzung im allgemeinen zu erblicken, möge billigerweise in Erwägung ziehen, daß dies die Auffassung jener Zeit nicht bloß bei den Franzosen, sondern auch bei den Engländern war. Die vornehmen und gebildeten Briten, mit welchen Voltaire in London zusammentraf, drückten sich nicht anders aus, und schätzten Shakespeare eher minder hoch, als Voltaire ihn zu schätzen sich gezwungen sah. Das englische Publikum stand auf keiner höheren Stufe.
Pope veranstaltete eine Ausgabe von Shakespeares Werken. Obwohl nur 750 Exemplare gedruckt wurden, mußte der Preis stark herabgesetzt werden, ehe die Ausgabe ausverkauft war. Addison schrieb als junger Mann Verse auf Englands größte Dichter; aber Shakespeares Name war nicht unter ihnen. Swift war so unwissend in bezug auf Shakespeare, daß er die Frau aus Bath in Chaucers Canterbury Tales für eine von Shakespeares Figuren hielt, und er hat in allen seinen Werken den Namen Shakespeares nur einmal genannt. Als die führenden Londoner Buchhändler Samuel Johnson um biographischen Stoff für eine Ausgabe der Werke englischer Dichter ersuchten, betrachteten sie es als selbstverständlich, daß die englische Poesie mit Cowley beginne, und so gibt es auch in ihren Lives of the English Poets keine Biographie von Shakespeare. Charles James Fox äußerte sich zu dem Maler Sir Joshua Reynolds, seiner Meinung nach würde Shakespeares Ansehen größer sein, wenn er nicht den Hamlet geschrieben hätte.
Fünf Jahre nach Voltaires Ankunft in England hat der englische Dramatiker und Kunstrichter Charles Gildon in seinem Buche The Laws of Poetry Hamlets berühmtesten Monolog als in dem Stücke zwecklos und überflüssig, den Monolog des Bastards Falconbridge in King John als geradezu lächerlich bezeichnet und sein Urteil in die Worte zusammengefaßt: »Es gibt überhaupt in sämtlichen Shakespeareschen Arbeiten nicht einen Monolog, der sich als natürlich oder vernünftig entschuldigen läßt«.
Aus Voltaires Discours sur la tragédie, der Zueignung des Brutus, ergibt sich, daß Bolingbroke der Ansicht war, die Engländer besäßen nicht eine gute Tragödie. In Th. Rymers A short view of tragedy (1693) heißt es mißbilligend: »Man kann bei Shakespeare nicht von Regeln oder von etwas reden, was regulär ist.« Die anderen Zeitgenossen urteilten auf dieselbe Art. Rowe schrieb: »Er lebte, nur durch eine Art Naturlicht aufgeklärt und ganz unbekannt mit den Regeln der Kunst«. Dennis sagt: »Man findet bei Shakespeare Mangel an poetischer Kunst und eine vollständige Unwissenheit in bezug auf deren Regeln«. Pope meinte, man müsse einräumen, daß Shakespeare, kritisch betrachtet, ebenso abstoßend wie schön sei; er liefere die größte Auswahl an Beispielen für Schönheiten wie für Mängel jeglicher Art.
Das Jahrhundert war in allen Ländern gläubig an die Regel und unerschütterlich überzeugt von der Unfehlbarkeit seines eigenen Geschmackes, den es allerorts den guten nannte.
Lanson hat sich die Mühe genommen, mit Hilfe alter Nummern der damaligen Zeitungen, Daily Post und Daily Journal, zusammenzustellen, welche Schauspiele Voltaire während seines Aufenthalts in England auf den drei Londoner Bühnen Drury Lane, Lincolns Inn Fields und Haymarket zu sehen Gelegenheit hatte. Von Shakespeareschen Dramen konnte er 1726 sehen Othello, Hamlet, Macbeth, King Lear, Henry IV. erster Teil, The merry wives, Richard III., Henry VIII., Julius Cäsar, 1727 dieselben Stücke und außerdem Measure for measure, Tempest, The Jew of Venice, Henry IV. zweiter Teil, 1728 und 1729 die gleichen Schauspiele.
Wieviel davon er wirklich gesehen und was davon besonderen Eindruck auf ihn gemacht hat, ist ja damit nicht gesagt. Gründlich scheint er, nach seinen Schriften zu urteilen, bloß Julius Cäsar, Hamlet, Othello, Lear, Richard III. zu kennen. Romeo und Julie war ihm bis zum Jahre 1755 unbekannt. Dies wird bewiesen durch einen Brief an Garrick von einem französischen Dramatiker, der große Partien dieses Dramas Voltaire laut vorgelesen hatte. Voltaire lachte zunächst über die Begeisterung des französischen Besuchers, fühlte sich dann ergriffen, nannte, was er da zu hören bekam, schön, rührend, höchst naturgetreu, und ließ sich sodann das Stück nochmals vom Anfang bis zum Ende vorlesen, worauf er scherzend bemerkte, wenn die Engländer den Franzosen nicht so viele Schiffe fortgenommen und sich überhaupt nicht als solche Seeräuber benommen hätten, würde er gegen den Schöpfer des englischen Theaters artiger gewesen sein.
In seinen ersten Äußerungen über die englische Tragödie in seinem Discours an Bolingbroke kann man deutlich verfolgen, was ihn bei Shakespeare am frühesten gefesselt und abgestoßen hat.
Er verweilt bei Julius Cäsar. Die lebensvolle Szene auf dem Forum, wo Brutus und Antonius mit ihren Reden einander bekämpfen, wirken stark auf ihn. Aber es verletzt sein französisches Vorurteil, daß Handwerker, Zimmerleute, Schuhflicker auf derselben Bühne auftreten, wo ein Brutus und ein Cassius sich zeigen. Es interessiert ihn, daß in Othello die Eifersucht so lebendig gemalt ist; aber es erscheint ihm als Greuel und als Lächerlichkeit, wenn Desdemona auf der Bühne erdrosselt wird und noch nach ihrem Tode redet. So entlocken Hamlets Monologe ihm Bewunderung, während er sich entsetzt, daß die Totengräber sich auf den tragischen Brettern zeigen dürfen. Derlei sei nur dadurch zu erklären, daß Shakespeare in einem barbarischen Zeitalter lebte, wo der Gebrauch, an den Höfen Narren zu halten, auch die Vornehmen daran gewöhnt hatte, das Komische mit dem Würdigen vermischt zu hören. Die Vornehmen standen also zu jener Zeit auf keiner höheren Stufe, als daß sie Hofnarren dafür bezahlten, ihnen Grobheiten und Dummheiten zu sagen. Die Hofnarren kehrten sodann in Gestalt der englischen Bühnenclowns wieder, während doch eine reinliche Trennung von hoch und nieder, von edelem und vulgärem Stil die Grundlage aller guten szenischen Kunst sei. In einer ungebildeten Zeit sei eben sogar Shakespeare ungebildet gewesen. Es wolle genug besagen, daß er nicht einmal Latein kannte.
Was ihm fehle, sei also hauptsächlich, in keinem zivilisierten Zeitalter gelebt zu haben. Zu Addisons Zeit wäre er ein vollkommener Dichter geworden.
Nicht wenige der darauf folgenden Jahre hindurch versucht es Voltaire selbst, etwas von Shakespearescher Energie in den französischen dramatischen Stil einzuführen. Unter Einwirkung Shakespeares begann er 1731 seinen La Mort de César, von welchem er selbst meint, daß er »im englischen Geschmack« geschrieben sei. Er ahmte in Zaïre Shakespeares Othello (und Racines Mithridate) nach; er verwendete den Geist aus Hamlet in seiner Semiramis. Aber wie die Jahre vergingen und der Shakespeare-Enthusiasmus den neueren klassischen Geschmack in England überwand und sich von dort nach Frankreich verpflanzte, geriet Voltaire immer mehr darob in Empörung, daß man die Unmöglichkeit des englischen Dramatikers als Dichter für die Hochzivilisierten, die doch die Aristotelischen Regeln kannten und ihre Einhaltung forderten, so ganz übersehe. Er fand – wie eineinhalb Jahrhunderte nach ihm Leo Tolstoi – Shakespeares Pathos bombastisch und erhob ein förmliches Geschrei über dessen Geschmacklosigkeit.
Ungefähr von dem Jahre 1760 angefangen – als er merkte, daß man die Räucherpfanne, die er für Shakespeare geschwungen hatte, dazu benutzen wollte, seinen eigenen Kopf zu zerschmettern –, machte er sich in Schimpfworten Luft. Er war zuletzt in seiner ästhetischen Grundauffassung reiner Nationalist geworden. Er glaubte – wie er an Horace Walpole schrieb –, daß sowohl Tragödie wie Komödie in Paris hoch über der dramatischen Kunst in Athen stehe. Er fand, englisches Theater sei wie englischer Pudding, etwas, dem niemand Geschmack abgewinnen könne als die Engländer selbst.
Es peinigte ihn, daß die Traditionen aus Ludwig des Vierzehnten Zeit von der jüngeren Generation vergessen waren. Als er einem Manne wie Diderot gegenüber Shakespeare einen gothischen Koloß nannte, den niemand ernstlich mit dem Apollo vom Belvedere vergleichen könne, erhielt er die Antwort, Shakespeare sei freilich nur solch ein Koloß wie St. Christopher in Notre Dame; aber die größten Männer könnten zwischen seinen Beinen stehen und gehen.
Und nun ließ Voltaire sich die Zügel schießen, indem er Shakespeare »einen betrunkenen Wilden« nannte, der zwar Phantasie gehabt hatte, dessen Stücke aber bloß in London und in Kanada gefallen könnten. Derlei klingt in modernen Ohren nicht gut; wohl aber begeisterte es 1776 die französische Akademie, die ganz derselben Ansicht war. Und liest man die Einwände Voltaires gegen den Monolog des Pförtners in Macbeth (den Schiller in seiner Übersetzung für Goethes Theater weggelassen hat) und gegen die groben Ausdrücke in Othello (die man bei modernen Theateraufführungen streicht), so wird man erkennen, daß Voltaires und Goethes Standpunkte gegenüber Shakespeare keineswegs grundverschiedene waren.
In seiner Abhandlung Shakespeare als Theaterdichter (1826) ist der siebenundsiebzigjährige Goethe ziemlich einig mit dem zweiundachtzigjährigen Voltaire. Er betont die Notwendigkeit, sowohl Romeo und Julie wie Macbeth für das Weimarer Theater umzuredigieren; er verteidigt Schröder, der in seiner Bearbeitung die ganze erste Szene von King Lear ausließ, »weil Lear sich darin so unvernünftig zeigt, daß man seinen bösen Töchtern späterhin nicht so ganz unrecht geben kann.«
Es ist das unselige Temperament, mit dem Voltaire als Greis seine Shakespeare-Kritik schrieb, das ihm geschadet hat. Was er meinte, wäre ihm leicht verziehen worden, hätte er es nur mit Manier gesagt.
Wiewohl Voltaire in seinen Lettres philosophiques aus Vorsicht nicht mit einem Wort der theologischen Streitigkeiten Erwähnung tat, die zu jener Zeit in England auf der Tagesordnung standen, haben sie ihn während seines Aufenthaltes doch augenscheinlich stark in Anspruch genommen. Es war eben damals ein heftiger Kampf für und gegen geoffenbartes Christentum, sowie für und gegen den Deismus entbrannt.
Er hätte nicht nach England zu kommen brauchen, um einen Eindruck von Freigeisterei zu bekommen.
Es gab, schon vor seiner Geburt, in Paris etwa ein halbes Hundert erklärter Freidenker, etliche heutzutage unbekannte, wie Mesnault, Méré, Debarraux, außerdem mehrere jetzt weltberühmte, die ihre Ketzereien nur andeuteten, wie Molière, Lafontaine, Boileau.
Ungefähr wie nach einer heutzutage recht verbreiteten Überzeugung in der neuesten deutschen, französischen und englischen Religionsforschung (Arthur Drews, Edouard Dujardin, J. M. Robertson) die Leidensgeschichte und christliche Denkungsweise schon lange vor Jesus existiert haben, so existiert der Voltairianismus in Frankreich vor Voltaire, und er übernahm ihn fast als ein Erbe von sanftmütigeren Vorgängern.
Hervorragende wissenschaftliche Vorläufer hatte er auf französischem Boden in Pierre Bayle und in Fontenelle. Vorsichtig und zaghaft, aber unzweideutig ist schon die Idee der Toleranz in Bayles ausgezeichneten, so klug angelegten Pensées diverses sur la comète zum Ausdruck gekommen, ganz unumwunden ferner in seinem Commentaire philosophique sur le Compelle intrare, seinem Kampf gegen die Gläubiger, die Bekehrungen erzwingen wollten. Aus Bayles Projet de Dictionnaire hat ja auch Voltaire schöne Seiten für Jeannot et Collin und aus dem Artikel Asyndicus im Dictionnaire seine Erzählung Cosi Sancta genommen. Ja, wahrscheinlich ist es Bayle, dem er die Idee zu seinem eigenen Dictionnaire philosophique entlehnt hat. Bayles Anschauung nach verjagt die Religion in solchem Grade alle natürlichen Ideen von Billigkeit, »daß man außerstande gesetzt wird, die guten Handlungen von den bösen zu unterscheiden«. Sie »dient bloß dazu, das bißchen gesunden Verstand, das wir von der Natur erhalten haben, zu zerstören«.
Da indessen Bayles ganze Haltung die eines Skeptikers, da der Skeptizismus ihm eine historische Notwendigkeit war, das Zugeständnis, das er dem Glauben machte, so drückt sich sein Bewußtsein von der Stärke der Vernunft beständig ironisch demütig in der Betonung ihrer Schwäche aus. Zuweilen scheint er das Blatt von dem Mund zu nehmen, wie in der kleinen Schrift Ce que c'est que la France toute catholique sous le règne de Louis le Grand. Der Anlaß dazu war die Widerrufung der Toleranz-Zusage in Nantes und es drückt Entrüstung aus über die Tortur, welche die schändlichen Dragonaden über die Protestanten verhängten, eine noch stärkere jedoch über die Heuchelei, mit der das angewendete Verfahren allenthalben als das mildeste bezeichnet wurde.
Seine Ironie wendet sich nicht wie die Voltaires an eine größere Lesewelt; sie hätte ihn vielleicht gedeckt, auch wenn er nicht landesflüchtig und nicht anonym gewesen wäre: die Welt sei böse; es gehöre daher zu Gottes unabänderlicher Ordnung, daß sie zugleich unglücklich und lächerlich sei. Da aber Gott nur aus unendlicher Weisheit heraus handele, so müsse er die Welt auf die rascheste und zweckmäßigste Art strafen, und gelte es, die Menschen in einen unglückseligen und lächerlichen Zustand zu versetzen, so gebe es kein wirksameres Mittel dazu, als die römische Kirche bei größtmöglichem Ansehen und Einfluß zu erhalten.
Mit Fontenelle hat Voltaire, wie wir sehen, sogar in naher persönlicher Berührung gestanden. In dessen Histoire des Oracles, die auf die listigste und feinste Art der eleganten Lesewelt nützliche Wahrheiten sagte, wurden die Orakel zu einem großen Symbol. Der Glaube an deren übernatürliches Wesen entsprach bei ihm dem, was bei Bayle der Glaube an das übernatürliche Wesen der Kometen war. Er weist nach, daß die Christen des Altertums die Orakelsprüche für ein Werk von Dämonen hielten und daß sie Unrecht daran taten, deren Wahrheit nicht einfach zu leugnen. Große Gruppen heidnischer Philosophen hatten das Übernatürliche der Orakel in Abrede gestellt, wie denn die Orakel »und überhaupt die Religionen« von Beginn in der Weise gegründet wurden, daß man beispielsweise natürlichen Ausdünstungen, die einem Loch im Erdboden entstiegen, eine Art göttlichen und inspirierenden Charakters beilegte. Die Majestät der Orakel und die Bequemlichkeit der Priester erforderte gleichermaßen, daß die Sprüche aus Höhlungen hervorgehen sollten. Von einer Wölbung zurückgeworfen, klang die Stimme stärker, schreckenerregender usw.
In Préface de l'histoire de l'Académie des sciences hatte Fontenelle bereits die Experimentalmethode angedeutet, und Voltaire stand von 1721 an mit ihm in Verbindung. Dennoch scheint er sich niemals von ihm angezogen gefühlt zu haben, und zu diesem Zeitpunkt wirkte Fontenelles Verfechten der Cartesianischen Wirbellehre entschieden abstoßend, ja herausfordernd auf ihn.
Ganz anders gestaltete sich Voltaires Stellung den englischen Freidenkern gegenüber. Lord Herbert of Cherbury hatte schon in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts ihre Wirksamkeit begründet durch sein Ausscheiden des Offenbarungsglaubens sowohl von unseren Vorstellungen der höchsten Macht wie von dem Gedanken an göttliche Belohnung und Strafe.
Toland, den Voltaire las, versuchte das Christentum seiner Mysterien zu berauben und Zweifel an der Echtheit der kanonischen Schriften des Neuen Testamentes zu erwecken. Ungeheures Aufsehen erregte Collins im Jahre 1724 herausgegebenes Werk Discourse on the Grounds and Reasons of the Christian Religion, so daß die englische Presse während des ganzen Aufenthalts Voltaires in England von Angriffen auf das Buch und von Verteidigungen oder Zustimmungen überströmte.
Es ist bezeichnend, daß Voltaire 1734 in seinen Lettres philosophiques, die den Eindruck erwecken sollten, durchwegs von London aus an Thiériot gerichtet zu sein und die in England gesammelten Eindrücke wiedergaben, aus Vorsicht diese theologisch philosophischen Streitigkeiten in der englischen Literatur und Presse ganz überging. Erst im Jahre 1767 besprach er sämtliche englischen Freidenker in Lettre sur les auteurs anglais.
Wenn er sein Jugendwerk mit einigen Betrachtungen über englische Religiosität einleitet, so ist es allein die Sekte der Quäker, bei der er mit Interesse und Achtung verweilt. Er hatte einen der bekanntesten englischen Quäker, Andrew Pitt, kennen gelernt, der dreißig Jahre Leinwandhändler gewesen war, sich dann von den Geschäften zurückgezogen hatte und außerhalb Londons in einem hübschen freundlichen Häuschen lebte. In ihm traf Voltaire einen Menschen, der trotz seines Alters frisch und gesund geblieben, weil er niemals Leidenschaften oder Unmäßigkeit gefröhnt hatte und niemals krank gewesen war. Als Pitt 1736 starb, schrieb eine englische Zeitung über ihn, daß er viele Tugenden und nicht ein einziges Laster gehabt habe. Er gehörte zu den Kanzelrednern und Polemikern der Sekte, war daher später ein wenig mißvergnügt mit dem Ton, in welchem Voltaire über die Quäker schrieb, verblieb aber im übrigen von 1728 an in freundschaftlichem Briefwechsel mit ihm.
Durch ihn empfing Voltaire einen starken Eindruck von wahrer Frömmigkeit und Charaktereinheit, verbunden mit der Geringschätzung für alles Zeremoniell, die er selbst so kräftig fühlte.
Solange er in England weilte, kam er nicht dazu, seine Briefe über die Quäker zu Papier zu bringen. Was ihn hier vor allem literarisch beschäftigte, war seine alte Dichtung La Ligue, der erste Entwurf zu dem, was auf englischem Boden La Henriade wurde. Dieser Entwurf erfuhr eine wesentliche Verbesserung und Voltaire zeigte hier wie auch sonst, daß er für verständige Kritik, von welcher Seite sie immer kam, dankbar war.
Ein Grieche, namens Dadiky, der Dolmetsch des Königs von England war und in einer Druckerei den ersten Bogen der Dichtung gesehen hatte, suchte deren Verfasser auf und sagte ihm: »Ich bin aus Homers Vaterland. Er begann seine Werke nicht mit geistreichen und rätselhaften Einfällen.«
Dies zielte auf die ersten Zeilen der Henriade:
Je chante les combats et ce roi généreux
Qui força les Français à devenir heureux.
Mit Recht fühlte der Grieche sich von diesem Anfangsrätsel, »der die Franzosen zwang, glücklich zu werden«, befremdet. Diese Zeilen mußten denn dem einfachen und würdevollen Beginn in seiner letzten bleibenden Form weichen:
Je chante ce héros qui régna sur la Françe
Et par droit de conquête, et par droit de naissance,
Qui par des longues malheurs apprit à gouverner,
Calma les factions, sut vaincre et pardonner.
Es war Voltaires Absicht, eine geläuterte Ausgabe dieser Dichtung, die er so lange in Arbeit hatte, zu veranstalten, und dem Werke seine ebenfalls gänzlich umgearbeiteten Abhandlungen über die Poesie anzuschließen.
Er hatte, wie er in Commentaire historique erzählt, seinerzeit in Frankreich gewisse Ähnlichkeiten zwischen Heinrich dem Vierten und sich selbst gefunden, schon darin, daß sie beide in England Hilfe suchten:
Je ne dois pas être plus fortuné
Que le héros célèbre sur ma vielle:
II fut proscrit, persécuté, damné
Par les dévots et leur douce séquelle:
En Angleterre il trouva du secours,
J'en vais chercher ...
Er erhielt die Hilfe, die er suchte. König Georg der Erste und insbesondere die Prinzessin von Wales, die bald danach Königin wurde, nahmen sich seiner an. Die Prinzessin hatte höhere Interessen; sie war es, welche Miltons Tochter eine Unterstützung sandte, sobald sie erfuhr, daß diese in Armut lebte; sie war es, die zwischen Clarke und Leibniz vermittelte. Sie begünstigte auch das Werk des französischen Dichters und verschaffte ihm, was er selbst eine »ungeheure Subskription« nennt. Die Mitglieder des Hofes und alle ersten Namen Englands standen auf der Liste; insoweit konnte diese vielleicht »ungeheuer« genannt werden. Nach unseren Begriffen war sie nicht besonders lang; sie zählte 344 Namen.
Er selbst verabsäumte kein Mittel, um die Zahl der Käufer zu steigern. Er bat Swift, seinen Einfluß in Irland aufzubieten, um ihm auch dort einige Subskribenten zu verschaffen.
Wie der Earl of Oxford sich der Subskription in England annahm, so ließ Swifts intimer Freund, Irlands Lord-Lieutenant Lord Carteret, ein warmer Freund der Literatur, der Subskription in Irland seinen Schutz angedeihen. (Es ist derselbe Lord Carteret, der in Tordenskjolds Lebensgeschichte vorkommt als derjenige, der ihm eine Braut versprach.) So eifrig nahm der Lord-Lieutenant sich Voltaires an, daß er ihm die Erlaubnis verdankte, im Palais des Vizekönigs ein kleines Buchlager zu errichten, wo seine Dichtung ausgeliefert wurde.
In seiner Erkenntlichkeit für die Teilnahme des englischen Königshauses widmete er schließlich der englischen Königin seine Dichtung. Er sagt hier: »Es ist Heinrichs des Vierten Schicksal, von Königinnen von England beschützt zu werden. Ihm half die berühmte Elisabeth, die damals der Ruhm ihres Geschlechts und ein Muster den Fürsten war. Bei wem kann denn sein Andenken besseren Schutz genießen als bei derjenigen, in welcher Elisabeth wiederauferstanden ist!« In der Zueignung findet sich auch folgender recht kühne Satz: »Kraft des Geistes, in welchem dieses Gedicht geschrieben ist, nehme ich mir die Freiheit, es der edeln Gemahlin des Königs anzubieten, der fast allein den unschätzbaren Ruhm genießt, ein freies Volk zu regieren, des Königs, der da will, daß seine Macht darin bestehen soll, geliebt zu werden, sein Lob darin, gerecht zu sein.« – Georg der Zweite sandte dem Dichter vierhundert Pfund und gewährte ihm Zutritt zu seinen privaten suppers. Als Freundin der Königin Caroline übersandte die Königin von Preußen ihm ein Medaillon mit dem Porträt der englischen Königin.
Es war recht drollig, daß Voltaire einer protestantischen Königin diese Dichtung dedizierte, in welcher er aus aufgezwungener Gläubigkeit so katholisch ist, daß der Protestantismus hier Verirrung oder schreckliches Phantom heißt und dessen Dogmen als verführerisch bezeichnet werden. In Frankreich war das Gedicht verketzert, weil es nicht Übles genug von den abscheulichen Protestanten sagte; in England machte es eigentlich durch das, was an erheucheltem Papismus in ihm steckte, eine sonderbare Figur. Aber man übersah hier diesen Umstand, um sich einer schwärmerischen Bewunderung hinzugeben, und nach Voltaires eigener Behauptung legte der große Absatz der Dichtung auf englischem Boden den Grund zu seinem Vermögen. Der erste Grund war jedoch wohl lange vorher gelegt worden, und es ist Übertreibung, wenn Voltaire späterhin schreibt, daß die französische Ausgabe ihn alles kostete, was die englische eingebracht hatte.
Die in England erschienene große Quartausgabe, deren Preis drei Guinees betrug, kam bei zwei ehrenhaften Londoner Buchhändlern heraus und war rasch ausverkauft. Drei aufeinanderfolgende billige Ausgaben waren binnen weniger als drei Wochen vergriffen. Voltaires Einnahmen beliefen sich auf 150 000 Francs.
Thiériot war es übertragen worden, eine Ausgabe auf französischem Boden zu veranstalten und zu diesem Zweck die Subskription in Frankreich in Empfang zu nehmen. Er hatte bereits das Geld von achtzig Subskribenten einkassiert, als Voltaire einen Brief mit der sonderbaren Mitteilung von ihm empfing, daß die ganze eingelaufene Summe ihm aus seinem Hause gestohlen worden sei, während er am Pfingsttage in der Messe war. Der leichtsinnige und unredliche Thiériot, der beständig in Geldverlegenheit war, hatte natürlich die Summe durchgebracht.
Obwohl sich Voltaire keinen Augenblick von dem angeblichen Diebstahl hinters Licht führen ließ, war er allzu wohlerzogen und ein zu gutgesinnter Freund, um auf diese Erklärung nicht einzugehen. Er antwortete daher bloß: »Dieses Abenteuer, lieber Freund, kann Ihnen das In-die-Messe-gehen verleiden; aber es soll mich nicht hindern, Sie stets zu lieben und Ihnen für Ihre Mühe zu danken.« An Destouches schrieb er viele Jahre danach (am 3. Dezember 1744): »Er hat sich oft angeboten, den Verlust zu ersetzen; aber es hätte ihn ruiniert, und ich wäre höchst unwürdig, den Namen eines Schriftstellers zu führen, wenn ich nicht lieber hundert Louisdors einbüßte, als einen Freund in Verlegenheit setzte.«
Die allgemeine Empfindung war zu jener Zeit, daß Voltaire der französischen Literatur geschenkt, was sie lange entbehrt hatte und was so viele andere Literaturen besaßen: eine Nationalepopöe. Die Henriade war nach der Vorstellung des achtzehnten Jahrhunderts nichts geringeres. Als jedoch im Jahre 1837 das Rolandslied in der Oxforder Handschrift entdeckt wurde, zeigte es sich, daß Frankreich längst sein nationales Epos gehabt hatte, nicht gerade die Chanson de Roland, die Taillefer vor der Schlacht von Hastings sang und deren Verlust Voltaire selbst in Essai sur les mœurs so lebhaft beklagte, sondern ein Werk aus dem elften Jahrhundert, naiv und groß.
Die Briefe aus England und über England, die Voltaire teils wirklich zwischen den Jahren 1727 und 1729 an Thiériot sandte, teils bis zum Jahre 1731 um- und ausarbeitete, haben für das französische Geistesleben des achtzehnten Jahrhunderts eine mit Madame de Staëls Buch Über Deutschland (1810) verwandte Bedeutung. Die Schrift offenbarte den Franzosen, was England im Beginn des achtzehnten Jahrhunderts war, sowie Madame de Staëls Werk ihnen deutsches Wesen und Geistesleben zu Anfang des neunzehnten enthüllte. Wie bekannt, erschwerte das Verbot der napoleonischen Polizei und Zensur der Verfasserin ungemein die Herausgabe des Buches De l'Allemagne. Wie geringfügig waren jedoch diese Schwierigkeiten im Vergleich zu denen, die sich fast ein Jahrhundert zuvor Voltaire entgegengestellt hatten, als er seine Lettres philosophiques veröffentlichen wollte.
Er wagte nicht auf französisch zu sagen, was ihm über Englands Regierung und Literatur zu sagen wünschenswert erschien; und es nützte ihm in der Tat nichts, nach Kräften die Stellen zu mildern, die hier Anstoß erregten, während sie in England als abgedroschene Binsenwahrheiten betrachtet wurden.
Als Thiériot 1733 in London war, brachte Voltaire ihm gegenüber, nebst einem sehnsüchtigen Wunsche, unangefochten mit dem Freunde in einem freien Lande leben zu dürfen, die Bitte vor, die Briefe auf englisch herauszugeben; so kämen sie doch in die Öffentlichkeit und er erführe, was man in dem Volke, über das sie geschrieben waren, von ihnen sagen würde.
Die Briefe erschienen denn auch wirklich zuerst in englischer Sprache unter dem Titel: Letters concerning the English Nation. By Mr. de Voltaire. Thiériot versah sie mit einem von Voltaire revidierten Vorwort und das Buch machte kein geringes Glück. Voltaire schreibt hierüber: »Die philosophischen, kritischen, poetischen, ketzerischen und diabolischen Briefe gehen in London mit großem Erfolg ab. Allein die Engländer sind eben verdammte Ketzer, samt und sonders bereit, selbst einem Teufelswerk ihren Beifall zu zollen. Ich fürchte sehr, daß die Gallikanische Kirche keineswegs von dem Buche erbaut sein wird.«
Als die armen Briefe endlich im nächstfolgenden Jahre in Frankreich das Licht sahen, verlangte die Geistlichkeit ihre Unterdrückung. Und damit war das Schicksal des Buches besiegelt: es wurde von dem Parlament als ein für die Religion und die bürgerliche Gesellschaftsordnung gefährliches Werk verdammt und von dem Scharfrichter öffentlich verbrannt.
Voltaire hatte sein möglichstes getan, um anstoßerregende Äußerungen zu vermeiden. Der dreizehnte Brief, der den Titel Sur M. Locke trägt und vorsichtig Lockes Auffassung des Verhältnisses zwischen Körper und Seele darstellt, ist uns in seiner ursprünglichen, von Voltaire verworfenen Form aufbewahrt geblieben. Hier sind die Gedanken viel kühner und klarer, der Stil lebendiger, der Vortrag dadurch einleuchtend, daß der Verfasser selbst deutlich hervortritt und sich nicht hinter Lockes Rücken versteckt. Der Brief ist eine Eingabe gegen den Glauben an die angeborenen Ideen des kleinen Kindes, jene Ideen, die es in der Stunde der Geburt vergessen haben soll, und er ist mit Beredtsamkeit und Humor geschrieben. Im Vergleich damit ist der in dem Buche aufgenommene Brief geflissentlich matt und neutral. Gefährlich für die Religion wurde das Buch genannt. Voltaire hatte es gewagt, die Antitrinitarier zu erwähnen und anzudeuten, was auch richtig scheint, daß Newton nicht an die Dreieinigkeit glaubte. (Er hat ein Manuskript gegen diese Lehre als nicht biblisch hinterlassen.) Aber wie wir gesehen haben, vermeidet Voltaire jede Erörterung der englischen Deisten und es konnte doch unmöglich als ein Angriff auf die Religion gelten, wenn er in einem spöttischen Tone sagt:
Jenes undefinierbare Wesen, das weder geistlich noch weltlich ist: mit einem Wort, das, was man in Frankreich einen Abbé nennt, ist eine in England unbekannte Abart; die Geistlichen hier sind alle zurückhaltend und fast durchwegs Pedanten. Wenn die Engländer erfahren, daß es in Frankreich junge Männer gibt, die ihrer Ausschweifungen wegen bekannt und durch weiblichen Einfluß zum Prälatenstand gelangt sind, die öffentlich Liebesverbindungen haben, sich daran ergötzen, zärtliche Verse zu schreiben, jeden Abend lange und feine Soupers geben, zugleich aber den heiligen Geist anrufen und sich dreist Nachfolger der Apostel nennen, so danken sie Gott dafür, Protestanten zu sein. Aber natürlich sind sie erbärmliche Ketzer, die man verbrennen und dem Bösen überantworten sollte, wie Meister François Rabelais sagt. Darum mische ich mich auch nicht in ihre Angelegenheiten.
Kein moderner Mensch wird es als eine Religionsverhöhnung auffassen, wenn Voltaire sagt, daß auf der Londoner Börse Juden, Mohammedaner und Christen einander in so gutem Verständnis begegnen, als hätten sie alle nur Eine Religion und daß sie nur den als gottlos betrachten, der Bankerott macht.
Gefährlicher war das Buch offenbar in politischer Beziehung, insoweit es Unzufriedenheit mit den politischen und sozialen Verhältnissen in der Heimat des Verfassers erwecken und nähren mußte. Den Franzosen müssen die Ohren geklungen haben, wenn man zu Beginn der Regierung Ludwigs des Fünfzehnten Worte wie diese las: »Die englische Nation ist die einzige, die die Königsmacht durch Widerstand reguliert hat und durch fortgesetztes Streben nach und nach die vernünftige Regierungsform zu erreichen imstande war, unter welcher der Fürst alle Macht, Gutes zu tun, besitzt, aber die Hände gebunden findet, wenn er Unrecht tun will, während die Lords große Herren ohne Unverschämtheit und ohne Vasallen sind und das Volk Anteil an der Regierung hat, ohne irgendwelche Verwirrung dadurch zu erregen«.
Voltaire zeigt hier, wie diese Regierungsform entstanden ist, erzählt von dem Zustandekommen der Magna Charta und welch geringe Freiheit dieser Freibrief dem Volke anfänglich zusicherte, das immerhin den Fortschritt im Vergleich mit den früheren Zuständen groß fand. Und er schildert den Einfluß des Unterhauses, bis dessen Macht die übertraf, die dem Hause der Lords zufiel.
Es folgt eine Verherrlichung des englischen Kaufmannsstandes, des Ansehens, das er genießt, der Bedeutung, die er für die Machtstellung des Reiches hat. Voltaire erklärt, wie Prinz Eugen dadurch instand gesetzt wurde, Ludwig des Vierzehnten siegreiches Heer aus Savoyen zu vertreiben, daß die Londoner Krämer dem Prinzen mit einer Frist von wenigen Tagen fünfzig Millionen liehen. Daher fühle sich ein englischer Kaufmann so stolz wie im Altertum ein römischer Bürger. – Es bleibt beständig dem Leser überlassen, die Parallele mit französischen Verhältnissen zu ziehen, mit der Geringschätzung, die der erste beste Provinzedelmann ohne Grafschaft oder Baronie damals einem französischen Kaufmann bezeigte, der, wie tätig und begütert er auch sein mochte, keine soziale Stellung einnahm.
Ein folgender Brief empfiehlt die Impfung, weist nach, wie die Tscherkessen dieses Verfahren frühzeitig gekannt haben, wie Lady Wortley-Montagu es in England einführte und wie Königin Caroline als Prinzessin von Wales es an vier zum Tode verurteilten Verbrechern erproben ließ, die sie begnadigte, als das Experiment sich als unschädlich und nützlich erwies.
Voltaire leitet das Mannigfache, das er über englische Philosophie und Naturwissenschaft zu sagen hat, mit einer kurzen aber treffenden Charakteristik Lord Bacons ein. Er sagt über Bacon: »Er kannte die Natur nicht, aber alle die Wege, die zu ihr führen.« Und er macht auf die interessante, ja verblüffende Stelle in Novum scientiarum Organum aufmerksam, wo Bacon so lange vor Newton die Anziehungskraft schildert und zu der Untersuchung auffordert, ob es nicht eine Art magnetischer Kraft gebe, welche zwischen der Erde und schweren Körpern, zwischen dem Mond und dem Meere, zwischen den Planeten untereinander wirksam sei. Man sollte, sagt er, versuchen, ob die gleiche Uhr mit Gewichten auf dem Gipfel eines Berges schneller geht als auf dem Grunde einer Grube; denn vermindere sich die Schwere der Gewichte auf dem Berge und erhöhe sich in der Grube, so sei es augenscheinlich, daß die Erde eine wahre Anziehung ausübe.
In dem Briefe über Descartes und Newton bestrebt sich Voltaire, dem ersteren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und erklärt sein Naturell und Genie auf eine Art, daß das französische Nationalgefühl sich durch die offensichtliche Unterlegenheit seiner Lehre gegenüber der Newtons nicht allzu verletzt fühlen möge. Descartes Verdienste um die Forschung der Vergangenheit werden mit Kraft hervorgehoben; seine Irrtümer ohne herabsetzende Bemerkungen beleuchtet: »Hat er auch nicht mit guter Münze bezahlt, so hat er doch das nicht geringe Verdienst gehabt, gegen falsche zu warnen.«
Mit Begeisterung werden Newtons Entdeckungen geschildert. Voltaire weiß gut Bescheid darüber, daß der große Forscher 1665 seine Berechnungen beiseite legte, weil er, während die Umlaufzeit des Mondes ihm ziemlich genau bekannt war, nur Pilotes ungenaues Maß des Erdradius kannte, so daß sein Resultat unrichtig wurde, ungefähr um ein Siebentel zu klein. Wenn Voltaire aber hierauf erzählt, daß Newton volle siebzehn Jahre später, 1682, durch einen Zufall mit den Gradmessungen des Franzosen Picard bekannt wurde, die Größe der Erde also viel genauer wie bisher bestimmen konnte, seine Berechnungen von 1663 wieder aufnahm und bei der neuen Bestimmung der Größe des Erdradius mit Begeisterung sah, daß sie stimmen, so daß die sublime Entdeckung getan war, so vergißt Voltaire nicht zu betonen, welche Ehre Picards Messungen Frankreich gebracht haben, da sie das ihrige dazu beigetragen, den größten Fortschritt zu ermöglichen, den die Wissenschaft kennt.
Nach der Vorführung der astronomischen Forschungen Newtons, für die wahrscheinlich Maupertuis (der später von Voltaire so sehr Angefochtene) von Anfang an sein Interesse geweckt hatte, geht er zur Darlegung der Newtonschen Optik im Gegensatz zu derjenigen Descartes über und erklärt, wie Newtons Prismen die Lehre von dem Licht als einer Vereinigung farbiger Strahlen, die zusammen die weiße Farbe ergeben, bewiesen haben.
Er verabsäumt nicht, Newtons Verdienste als Erfinder der Differential- und Integral-Rechnung und seinen Wettstreit mit Leibniz auf diesem Gebiet hervorzuheben, nimmt aber hier, um das Mathematische faßlich zu machen, besonders seine Zuflucht zu Fontenelle. Endlich werden Newtons Versuche einer genaueren Bestimmung der Chronologie erörtert, in welchen der große Forscher teils auf die unrichtige Methode hinwies, die Durchschnittsregierungszeit eines Königs mit den dreißig Jahren einer Generation zu identifizieren (die Regierungszeit belaufe sich vielmehr durchschnittlich auf zwanzig Jahre) teils mit Hilfe astronomischer Angaben in der Geschichte des Altertums, diese richtiger zu datieren, als es bis dahin geschehen war. Allerdings ist für Newton der Argonautenzug Geschichte, und er versucht im Ernst zu bestimmen, wie viele Jahre zwischen diesem und dem ersten peloponnesischen Krieg gelegen haben mögen. So hat er, der sich ursprünglich mit Theologie beschäftigte, auch einen Kommentar zu Johannes Offenbarung geliefert, nach Voltaires Auffassung, »um die Menschen über die Überlegenheit zu trösten, die er im übrigen über sie besaß«.
An der Stelle, wo Voltaire erwähnt, wie der Cardinal von Polignac Newton des Atheismus beschuldigte, kann er einen Herzensseufzer nicht unterdrücken: »Wenn man sich vorstellt, daß Newton, Locke, Clarke, Leibniz in Frankreich verfolgt, in Rom gefangen genommen, in Lissabon verbrannt worden wären, was muß man da von der menschlichen Vernunft denken? – Daß sie in diesem Jahrhundert in England geboren wurde.«
Den Briefen über England hat Voltaire einen Abschnitt hinzugefügt, der eigentlich in loser Verbindung mit dem Plan des Werkes, wenn auch in fester mit dessen Geist steht: eine Reihe als Widerlegungen geformter Antworten auf ausgewählte Gedanken Pascals. Wahrscheinlich sind diese Aphorismen nicht in einem Zug niedergeschrieben worden, sondern bei gelegentlicher und wiederholter Lektüre Pascals in dem Zeitraum zwischen 1728 und 1733 entstanden.
Schon die Konstellation Voltaire-Pascal, Voltaire contra Pascal, hat zu allen Zeiten die Frommen in Aufregung versetzt. Man hat mit Entrüstung einen Geist, dem niemand Tiefe absprach, von einem Geiste angegriffen gesehen, dem sogar Verehrer diese Eigenschaft versagt haben. Nichtsdestoweniger ist Voltaire hier in jedem Punkte, wo er sein eigenes gesundes und klares Urteil den von Seelenqualen und Dogmenglauben erzeugten Paradoxen Pascals entgegenstellt, in seinem Recht. Mögen Theologen Pascals Gedanken tiefsinnig finden: ein Denkender kann sie bloß ergreifend finden. Ihr Interesse beruht nicht auf ihrem Wahrheitsmoment, sondern auf dem Gefühlsleben, dessen Ausdruck sie sind.
Es gibt jedoch einen Punkt, der den aufmerksamen Leser hier mehr fesselt als selbst die Debatte zwischen Pascal als Pessimisten und Lebensverneiner und Voltaire als Optimisten und Lebensbejaher; dies ist der Streit, worin Voltaire hier mit seiner eigenen, zwanzig Jahre später verfochtenen Ansicht tritt. Er hat sich in älteren Jahren nicht viel weniger pessimistisch ausgedrückt, als Pascal es in seinen Gedanken getan hat.
Die Schwarzseherei der beiden großen Schriftsteller ist allerdings von grundverschiedener Art. Der Pessimismus Pascals ist der einer kränklichen schwermütigen Natur, die sich an Offenbarungsglauben und Dogmen klammert. Der Mensch ist für Pascal ein unfaßliches Wesen, das sich nur kraft des Dogmas von der Erbsünde verstehen läßt, die übrigens selbst ein Mysterium ist. Voltaire wendet ein, das Unfaßliche lasse sich nicht kraft etwas noch Unfaßlicherem begreifen und der Mensch sei zwar ein zusammengesetztes Wesen, aber kein Rätsel, überhaupt nicht unbegreiflicher als die Allnatur. Daß er veränderlich und wechselnd sei, sei nichts Merkwürdigeres, als daß ein Hund bald liebkose, bald beiße, oder daß eine Henne zuerst voll Sorgfalt für ihre Küchlein sei, sie aber später verlasse und kaum mehr erkenne.
Pascal geht darauf aus, dem Menschen Schrecken vor sich selbst einzuflößen; Voltaires Bestreben ist es, ihm Vertrauen zu sich selbst mitzuteilen. Er fragt: »Soll ich verzweifeln darüber, daß ich Gott nicht von Angesicht zu Angesicht schaue und die Mysterien der Dreieinigkeit nicht begreife? Da könnte ich ebensogut darüber verzweifeln, nicht vier Füße und zwei Flügel zu haben.« Und er sucht die Mitte zu halten zwischen lähmendem Mißmut und törichter Zufriedenheit. »Das All als ein Gefängnis und die Menschen als arme Verbrecher zu betrachten, die auf ihre Hinrichtung warten, ist die Idee eines Fanatikers. Die Welt als einen Belustigungsort, ein Paradies, in dem nur Vergnügungen unser harren, ist der Traum eines verhätschelten Wollüstlings. Zu glauben, daß die Erde, die Menschen, die Tiere das sind, was sie nach der Ordnung der Vorsehung sein müssen, ist meiner Meinung nach vernünftig.« Wie man sieht, gebraucht Voltaire hier den Ausdruck Ordnung der Vorsehung, wo man der Natur erwarten könnte. Aber er ist eben teils vorsichtig, teils aufrichtiger Deist.
Den Aphorismen Pascals, in welchen des Menschen Wirkungsdrang aus seiner natürlichen Unseligkeit und Erbärmlichkeit heraus erklärt wird, die er nur aushält, wenn er nicht an seine Qual zu denken braucht, stellt Voltaire seine Lebensanschauung gegenüber, der er sein lebelang treugeblieben ist, sogar als seine Zufriedenheit mit der Weltordnung allmählich einer recht bitteren Schwarzseherei gewichen war, und sie ist die folgende: der Mensch ist nicht zur Selbstbetrachtung geschaffen. Ein Mensch, der sich ihr hingebe, werde Idiot. Der Mensch ist zur Arbeit geschaffen, ganz so wie es in der Natur des Feuers liegt, emporzusteigen, in der Natur des Steines, abwärts zu streben. Hier hat Voltaire sein eigenes innerstes Wesen scharf definiert.
Pascals Melancholie ob der Erbsünde hat er nicht bloß seinen Trieb zur Energie, sondern auch seinen beruhigenden Vorsehungsglauben entgegengehalten. Als später – nach dem Erdbeben von Lissabon – dieser Vorsehungsglaube ins Schwanken geriet, schwand nach und nach die Überzeugung von der Vortrefflichkeit der ganzen Ordnung, jedoch nicht so, daß er zu dem von ihm bekämpften Dogma von der Erbsünde zurückkehrte, sondern in der Weise, daß er den Vorsehungsglauben fahren ließ, welchem zufolge diese Welt die bestmögliche aller Welten war. Den Glauben an Arbeit als seine Lebensaufgabe ließ er niemals fahren.
Bei der Erörterung der großen Lebensfragen kam Voltaire gleich Pascal verschiedene Male mit dem Ästhetischen in Berührung, das ihm ebensosehr am Herzen lag wie Metaphysik und Theologie.
Pascal hatte ein wenig höhnisch über den Ausdruck poetische Schönheit gescherzt. Man wisse nicht recht, was das sei, behauptete er; aber man nenne eben gewisse sonderbare Ausdrücke wie goldenes Zeitalter, verhängnisvolle Lorbeeren, glitzernde Sterne poetisch schön, – im Grunde sei es ein lächerlicher Jargon. Man weiß, schreibt er, worauf die Geometrie ausgeht und worauf die Medizin ausgeht; aber was das Ziel der Poesie sei, weiß niemand.
Hierauf erwiderte Voltaire, Pascal müsse wenig Geschmack haben, um zu glauben, daß irgend jemand Ausdrücke wie die obengenannten poetisch schön nennen würde, und im übrigen wisse man sehr wohl, was das Ziel der Poesie sei.
Ein moderner Leser achte genau auf das, was nun folgt; denn das nun Folgende ist ja in wenigen Worten Voltaires Poetik:
»Das Ziel der Dichtkunst ist, mit Kraft, Deutlichkeit, Feinheit und Harmonie zu malen. Poesie ist die harmonische Beredtsamkeit.«
Man kann ohne Übertreibung sagen, daß diese Worte die Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts enthalten.
Wir haben gesehen, wie Voltaires Zusammenleben mit Baron Görtz seine Gedanken auf einen König lenkte, dessen Schicksale und Taten einen Teil seiner eigenen Lebenszeit ausgefüllt hatten und der, kaum zwölf Jahre älter als er selbst, mit seinen ungewöhnlichen Vorzügen und fast ebenso auffallenden Eigenheiten und Torheiten wohl geeignet war, einen Dichter zu fesseln: Karl den Zwölften.
Voltaire hatte seither den König nicht mehr aus den Augen verloren. In England sammelte er fast sein ganzes Material zu dem Buche über ihn und machte sogar (auf englisch) seine vorläufigen Aufzeichnungen, von denen noch heute einige in der Nationalbibliothek zu Paris aufbewahrt sind.
Seiner Gewohnheit nach forschte Voltaire mit größtem Eifer jedermann aus, der imstande war, nützliche Aufschlüsse zum geplanten Werke zu erteilen. Bolingbroke als früherer Staatsminister war ihm hierin von wesentlichem Nutzen. Desgleichen Jeffreys, der englischer Gesandter bei Karl während dessen langen Aufenthalts in der Türkei gewesen war. 1727 vermittelte die Herzogin von Marlborough ihm Einzelheiten betreffs des zwischen dem Herzog und Karl in Alt-Ranstadt 1707 stattgehabten Gesprächs, als die Alliierten erforschen wollten, welche Rolle Schweden in dem großen Krieg zu spielen beabsichtige. Voltaire nennt die Herzogin in seiner Geschichte ausdrücklich als seine Quelle. Er erzählt, der König habe in seinem Lager zu Alt-Ranstadt Abgesandte von fast allen Fürsten der Christenheit empfangen. Einige baten ihn, den Boden des deutschen Kaiserreiches zu verlassen; andere hätten ihn gern seine Waffen gegen den Kaiser kehren sehen; hatte sich ja sogar das Gerücht verbreitet, er würde sich mit Frankreich gegen das Haus Österreich vereinigen. Unter diesen Gesandten kam, von Anna von England geschickt, der Herzog von Marlborough, der nie eine Stadt belagert, die er nicht eingenommen, nie eine Schlacht geliefert, die er nicht gewonnen hatte, im übrigen aber der geschmeidigste Hofmann und Diplomat war, der Frankreich reichlich soviel durch seine Klugheit wie durch seine Waffen geschadet hatte. Von ihm hatte der Sekretär der Generalstaaten, Herr Fagel, erzählt, er sei, so oft die holländische Regierung beschlossen, sich den von ihm überbrachten Vorschlägen zu widersetzen, gekommen, habe französisch gesprochen – eine Sprache, die er äußerst schlecht beherrschte – und habe nichtsdestoweniger alle überredet. Voltaire beruft sich dafür auf Bolingbrokes Zeugnis.
Marlborough wußte, daß Karl dem Kaiser zürnte und daß die Franzosen ihn heimlich zu gewinnen suchten, ein bedenklicher Umstand, der leicht eine Niederlage der Alliierten zur Folge haben konnte. Allerdings hatte Karl im Jahre 1700 sein Wort darauf gegeben, sich nicht in den Krieg zwischen ihnen und Ludwig dem Vierzehnten zu mischen, aber Marlborough glaubte nicht, daß ein Fürst sich gebunden fühlen würde, falls sein Versprechen seinen Interessen zuwiderlief. Er beschloß daher, die Reise zu unternehmen, um den König in bezug auf Schwedens Absichten zu sondieren.
Voltaire schreibt hierüber:
Herr Fabrice, der damals bei Karl dem Zwölften war, hat mir versichert, daß der Herzog von Marlborough bei seiner Ankunft sich nicht an den Premierminister Graf Piper, sondern heimlich an Baron Görtz wandte, dem der König ein ebenso großes Vertrauen entgegenzubringen begonnen hatte. Er traf sogar in Görtz Wagen in dem Quartier Karls des Zwölften ein, und es herrschte daher zwischen dem Kanzler Piper und ihm eine gewisse Kühle. Als er zusammen mit dem englischen Minister Robinson dem König vorgestellt wurde, sprach er diesen französisch an und sagte ihm, daß er sich glücklich fühlen würde, unter des Königs Fahnen lernen zu können, was ihm an Kriegskunst gebräche, der König jedoch antwortete ohne jede Artigkeit auf dieses Kompliment, offenbar uneingedenk des Umstandes, daß es Marlborough sei, der mit ihm sprach. Ich weiß sogar, daß er die Kleidung des großen Mannes zu gewählt und sein Aussehen zu wenig kriegerisch fand. Das Gespräch wurde ermüdend, da der König schwedisch sprach und Robinson als Dolmetsch dienen mußte. Marlborough, nie übereilt in der Unterbreitung von Vorschlägen und dank langer Gewohnheit mit der Kunst vertraut, zwischen den heimlichen Gedanken eines Menschen und seinem Wesen zu unterscheiden, studierte den König aufmerksam. Während er mit ihm von Kriegen im allgemeinen sprach, glaubte er bei ihm eine aufrichtige Abneigung gegen Frankreich und eine unverkennbare Freude an den Eroberungen der Alliierten zu entdecken. Er nannte den Namen des Zaren und sah die Augen des Königs trotz des ruhigen Gesprächstons aufleuchten. Auch erblickte er auf dem Tische eine Karte von Moscodien. Er brauchte nicht mehr, um zu schließen, daß es Karls wahre Absicht und einziger Ehrgeiz sei, den Zaren seines Thrones zu berauben, sowie er den König von Polen des seinen beraubt hatte ... Befriedigt, Karl den Zwölften durchschaut zu haben, machte er ihm gar kein Angebot.
Der hier als Gewährsmann angeführte Fabrice war ein in Holstein geborener schwedischer Baron, Görtz sehr verbunden und von ihm ausgesandt. Er hatte während der vielen Jahre, die Karl in der Türkei verbrachte, ein vertrautes Zusammenleben mit ihm geführt und ihm in Bender Racine zu lesen gegeben, von dessen Stücken dem König am besten Mithridate gefiel, der Tapferkeit und Ausdauer wegen, die die Hauptperson im Mißgeschick an den Tag legt. Fabrice war ein kühner und lebensfroher Mann, der in Bender warnend und ratgebend auftrat, als der König durchaus nicht glauben wollte, daß es dem Sultan einfallen könnte, seine Abreise zu erzwingen. Den Türken gegenüber bot er seinen vermittelnden und beschwichtigenden Einfluß auf, um sie zu veranlassen, nicht mit Gewalt vorzugehen. Er streckte dem in Geldsachen wie in anderen Dingen achtlosen Monarchen 24 000 Taler vor. Er bemühte sich ehrlich, die schwedischen Gefangenen in der Türkei auszulösen. Er war mit Karl in Demotica, wo, wie er sagt, das Geld so selten war, daß man vergaß, wie es aussehe, ob es rund oder viereckig sei. Und er ritt neben dem Wagen des Königs, als dieser von den Türken nach Timurtasch gebracht wurde.
Fabrice war Kammerherr bei Georg dem Ersten gewesen, als dieser noch Kurfürst von Hannover war, und blieb in des Königs Gunst. Er saß in Georgs Wagen auf jener letzten Reise nach Osnabrück, wo ein Schlaganfall den im Wagen sitzenden König tötete, und er kehrte 1727 mit des Königs Juwelen und anderen Hinterlassenschaften nach England zurück.
Es ist nicht genau bekannt, durch wen Voltaire Fabrice kennen lernte, ob an Georges des Zweiten Hof oder durch Lord Chesterfield, der sehr intim mit ihm befreundet war. Voltaire sagt in seinem Vorwort zur Geschichte Karls des Zwölften (1748), er habe gleich anfangs Fabrices, Villelongues, Poniatowskis und Fiervilles Erinnerungen vor sich gehabt; in seinem Commentaire Historique (1776) sagt er ausdrücklich, er habe Karls des Zwölften Geschichte zusammen mit Herrn Fabrice komponiert, der sieben Jahre – von der Schlacht von Pultava an – mit Karl gelebt habe. Später hat Voltaire mit König Stanislaw gesprochen, Adlerfelts militärisches Journal studiert, kurz, jede Art von Aufschlüssen gesucht.
Das Werk ist in den Jahren 1727 und 1728 geschrieben und war im wesentlichen bei Voltaires Rückkehr nach Frankreich im März 1729 abgeschlossen. Natürlich wurde es für seine zwei Jahre später ins Werk gesetzte Herausgabe durchgesehen und verbessert und später wieder und wieder geändert, je nachdem die Kritik, zumeist eine ungemein kleinliche (die Nordbergs und La Motrayes), Lärm schlug und von seinen Feinden ausgenützt wurde.
Als das Porträt eines merkwürdigen Mannes, von einem Meister ausgeführt, ist Voltaires Geschichte Karls des Zwölften in der Literatur stehengeblieben, auch nachdem seine Schilderung des Königs längst von schwedischen Chronisten überflügelt worden war. Sie erweckte seinerzeit in Europa ein Interesse für Schweden, das sich mit dem Interesse vergleichen läßt, welches Dänemark Shakespeares Hamlet zu verdanken hat.
Sehr charakteristisch beginnt Voltaires Erzählung damit, zwei Hauptpersonen einander dramatisch gegenüberzustellen: Karl den Zwölften und Peter den Großen, die beide zu Anfang in ihren Grundzügen gezeichnet werden. Peter ist sofort in die Exposition aufgenommen, denn, so stark auch das Interesse des Verfassers für den großangelegten Charakter und die merkwürdigen Schicksale des schwedischen Königs war, ist doch sein eigentlicher Held nicht Karl, sondern Peter; nicht die bloß streitbare und hartnäckige Natur, die ihr Land ins Unglück stürzte, sondern der Souverän, der trotz der brutalen Vergnügungen, die er suchte, trotz der Wildheit seiner Sitten und der Grausamkeit seiner Rache ein Erzieher, ein Zivilisator war, der eine vielhundertjährige Barbarei überwand und Handwerk, Technik, Baukunst, Wissenschaften bei einem widerstrebenden, aber begabten Volke einführte.
Mit der Klarheit, die die Grundeigenschaft Voltaires als Historiker ist, stellt er zunächst die polnische Gesellschaft und das polnische Volk Seite an Seite mit dem schwedischen und dem russischen und gibt solcherart seiner Schilderung der Persönlichkeiten Augusts des Starken und späterhin Stanislaw Leszczynskis einen ebenso notwendigen Hintergrund, wie er ihn Karl dem Zwölften und Peter dem Großen in seinen Charakteristiken schwedischen und russischen Wesens gegeben hat.
Voltaire konnte natürlich nicht Schwedisch und dies ist ja insoweit ein Mangel bei ihm; aber wäre er auch dieser Sprache mächtig gewesen, hätte er doch kaum zu seiner Zeit hierin irgendetwas gefunden, was ihm als Wegweiser bei einer Darstellung Karls des Zwölften hätte dienen können. War ja er selbst derjenige, der am frühesten über den König schrieb. Erst 1740 erschien in Stockholm das ungeheure Foliowerk, das des Königs Kaplan, Jöran A. Nordberg, über ihn zusammengeschrieben hatte, eine umfassende Materialsammlung, herausgegeben von einem geistlichen Pedanten, der in tiefer Veneration sich jegliche Kritik versagt, aber in ebenso tiefer Selbstzufriedenheit diese über seine Vorgänger ergießt, insbesondere natürlich über den einzigen berühmten unter ihnen, Voltaire, welchen er in seinem Vorwort in folgender Weise verhöhnt: »Seine behende Feder und sein schöner Stil verdienen Lob; aber ein Puffendorf würde ihm das Prädikat Varillas erteilen: Tausendlügner.«
Von jedem Punkt, bei dem er Voltaire bei einer Ungenauigkeit zu ertappen glaubt, macht er viel Aufhebens. Tatsächlich waren diese Ungenauigkeiten von sehr geringem Gewicht: Voltaire hat einem der Diener Karls des Zwölften den Namen Frederik gegeben; in Wirklichkeit hieß er anders. Er erwähnt bei der Belagerung von Thorn, daß General Liewen eine rote gallonierte Uniform trug; die Uniform war galloniert, aber nicht rot. Er erzählt, daß der König vor der Schlacht von Pultava Graf Rehnschöld in sein Zelt rufen ließ; tatsächlich waren alle Generäle in dem Zelt versammelt, nicht um Ratschläge zu geben, sondern um Befehle entgegenzunehmen. Er gibt an, daß während der Schlacht, als eines der Pferde, die des Königs Bahre zogen, erschossen wurde, vier Grenadiere den König auf ihren Lanzen trugen; es waren jedoch Gardisten, die des Königs Bahre aufluden, und zwar nicht auf ihre Lanzen, sondern auf ihre Schultern. Stellenweise hat auch Voltaire die Dokumente nicht vollständig abgedruckt, so z. B. den Brief nicht, den August auf Befehl des Königs an Stanislaw schreiben mußte, um ihn zu seiner Thronbesteigung in Polen zu beglückwünschen.
Alle diese geringfügigen Mängel, über welche Nordberg Beschwerde führt, sind, soweit er im Recht war, sofort von Voltaire geändert worden. Sie sind aus dem Werke – welches in einer Auflage nach der andern erschien – in seiner jetzigen Fassung vollständig verschwunden.
Nordberg wurde rasch übersetzt und Voltaire erfuhr nicht bloß von jeder gegen sein Werk gerichteten Einwendung, sondern er antwortete seinem Angreifer auch 1744 auf die Beschuldigungen, ein Erzlügner zu sein, in einem Briefe, der ein kleines Meisterstück an überlegener Bildung, an Höflichkeit gegenüber einem Grobian und an Witz gegenüber einem Pedanten ist. Der Brief schließt amüsant mit folgenden Worten:
Ein Historiker hat viele Pflichten. Erlauben Sie mir, Sie hier an zwei zu erinnern, die von einiger Bedeutung sind: die, nicht zu verleumden, und die, nicht zu langweilen. Ich kann Ihnen die erstere vergeben, weil Ihr Werk nur wenig gelesen werden wird. Aber die zweite kann ich Ihnen nicht vergeben, weil ich ja genötigt war, Sie zu lesen. Ich bin im übrigen, so weit ich kann, Ihr sehr untertäniger und sehr gehorsamer Diener.
Voltaire hat sein Buch als eine psychologische Studie und als eine unterhaltende Erzählung angelegt. Er versäumt zwar nicht eine Darstellung der Umgebungen, ebensowenig des politischen Details. Aber die Art seiner Kenntnis des Stoffes, die Art der damaligen geschichtlichen Forschung, besonders über zeitgenössische Begebenheiten, endlich die Art seiner Fähigkeiten, der Hang zum dramatisch Fesselnden bringt es mit sich, daß er bedeutend weniger unterrichtet ist als moderne schwedische Forscher, wie z. B. Vater und Sohn Carlsson.
Es gibt verschiedenes von Wichtigkeit, das gleich von Anfang an seiner Aufmerksamkeit entgeht. Um etwas Geringfügigeres zu nennen: der Umstand, daß Karl in seiner Leidenschaft für Absolutismus, der Verfassung zu Trotz, es bei seiner Krönung unterließ, den Eid abzulegen. Um etwas Wichtigeres anzuführen, der weitere Umstand, daß Dänemark nicht ohne Herausforderung Schweden mit Krieg überzog, sondern daß Karl im tiefsten Frieden seine Truppen nach Holstein gesandt hatte, das dänisches Land war, um seinen Schwager, Herzog Karl Friedrich, gegen den dänischen König zu unterstützen.
Voltaire hatte keine Möglichkeit, die Wahrheit des ihm Mitgeteilten zu kontrollieren, z. B. die Richtigkeit der Zahlen, die man in unseren Tagen besitzt. Er glaubt, das König Karl bei Narva 80 000 Russen schlug, während es aller Wahrscheinlichkeit nach bloß 40 000 waren. Immerhin war es ehrenvoll genug für die Schweden, einer gegen fünf zu siegen, selbst wenn sie nicht – wie man lange glaubte – einer gegen zehn waren.
Ebensowenig sind die vielen Einzelheiten, die die Schilderung einer Schlacht erst fesselnd machen, ihm immer bekannt. So ist die Darstellung des Treffens bei Kissow bei ihm arm, verglichen mit der gleichen von Carlsson. Freilich war es ihm hier so wenig wie sonst in seiner Geschichtsschreibung um Einzelheiten zu tun. Was ihn fesselte, waren die großen Grundzüge, war die große Linie.
Sein Stil, den der alberne Nordberg, um ein Zugeständnis zu machen, rühmt, schafft die moderne Geschichtsschreibung, diejenige, die nicht Jahrbücher, auch nicht Dokumentensammlungen gibt, sondern Resultate mitteilt. Und was hier auffallend ist: Voltaire ist in diesem seinem Stil niemals dichterisch im modernen Sinne des Wortes, will es keineswegs sein, verhöhnt z. B. später den einfältigen La Beaumelle, wo er sich in dieser Art versucht. Voltaires Prosastil hat weder Farbe noch Duft noch Melodie. Er hat Klarheit, Kürze, Nerv und Gleichgewicht. Er ist mithin sehr geeignet, das Organ der einfachen historischen Wahrheit zu sein.
Die Geschichte Karls des Zwölften ist ganz durchsetzt von Äußerungen der Augen- und Ohrenzeugen. Dort, wo von der Schlacht bei Narva erzählt wird, beruft Voltaire sich auf die ihm von Axel Sparre gemachten Mitteilungen. Wo von dem tragischen Schicksal Patkuls die Rede ist, dessen Auslieferung von August dem Starken Karl der Zwölfte verlangte und den er pfählen ließ, obwohl er der Gesandte Peters des Großen war, führt er an, was sich zu Augusts Entschuldigung vorbringen läßt, und beruft sich auf die mündlichen Mitteilungen des Marechal von Sachsen, Augusts Sohn. Bezüglich der ersten Begegnung zwischen Karl dem Zwölften und Stanislaw Leszczynski bringt er vor, was König Stanislaw selbst ihm von den auf Latein gewechselten Repliken mitzuteilen die Ehre erwiesen hat. Über Karls Tod empfing er seine Auskünfte mündlich durch den eigenen Adjutanten des Königs, den Franzosen Siquier, der an seiner Seite stand, als die tödliche Kugel ihn traf.
Der aufmerksame Leser der Chronik erkennt leicht, daß Voltaire zahlreiche Rücksichten zu nehmen hatte. Die meisten der Hauptpersonen mit Ausnahme des Helden lebten noch, als er das Buch schrieb: Peter der Große war eben erst gestorben. Aber es war für einen nahen Freund von Moritz von Sachsen notwendig, mit Achtung von dessen Vater zu sprechen. Andererseits war es unmöglich, sich nicht mit Wärme über Augusts unglücklichen Rivalen, König Stanislaw, Voltaires eigenen Beschützer und Schwiegervater des Königs von Frankreich, zu äußern. Und dennoch ist die Schilderung des Königs Stanislaw als Jüngling nicht rühmender als moderne Darstellungen es sind; auch sie betonen ja Stanislaws gewinnendes Äußeres, die Mischung von Kühnheit und Sanftmut in seinen Gesichtszügen, das Redliche und Freimütige seines Charakters. Nur ist Voltaire genötigt, die fast erbärmliche politische und pekuniäre Abhängigkeit, in welcher der polnische König sich gegenüber Karl dem Zwölften befand, einigermaßen in den Hintergrund zu drängen. Wo er von des Königs notgedrungener plötzlicher Flucht aus Warschau erzählt – als August unvermutet mit seinem Heer hier einrückte, während Karl die Zeit nutzlos verlor, um Lemberg zu erobern – vergißt Voltaire nicht, mitzuteilen, wie während der Flucht der königlichen Familie nach Posen die Amme der jungen Königstochter das Kind aus den Augen verlor und wie der König seine Tochter in einem Trog im Stalle wiederfand, jene selbe Tochter, die später Maria Leszczynska, Frankreichs Königin, werden sollte.
Bemerkenswert ist auch die Mäßigung, welche Voltaire in seinem Urteil über die Generäle walten läßt, die Karls oder Rehnschölds überlegener Gabe, die Truppen zu elektrisieren, weichen mußten. Besonders wird mit starker Bewunderung Schulenburgs Rückzug behandelt, der durch Übersetzung der Oder mit seinen Truppen zu König Karls Verdruß sein Heer vor den Umgehungs- und Einschließungsversuchen der Verfolger rettete. Schulenburg war zu jener Zeit noch am Leben und hatte trotz seines Alters den militärischen Beruf keineswegs aufgegeben. Nachdem er das sächsische Heer kommandiert hatte, war er in venezianische Dienste gegangen und hatte als venezianischer General Korfu mit solcher Bravour gegen die Türken verteidigt, daß ihm eine Statue errichtet wurde, die noch heute auf der Insel steht. 1740 ließ er durch den französischen Gesandten Voltaire das Journal über seinen Feldzug in den Jahren 1703 und 1704 übersenden, und Voltaire antwortet der neunundsiebzigjährigen Exzellenz mit einem höchst liebenswürdigen Briefe, in welchem er teils Schulenburgs Verdiensten Gerechtigkeit widerfahren läßt, teils seine Freude ausdrückt, alles, was er in seiner Geschichte Karls des Zwölften über diese Feldzüge geschrieben hatte, vollauf bestätigt zu finden, und Schulenburg um neue Auskünfte ersucht.
Wie man sieht, ist Voltaires Geschichte Karls des Zwölften ein Werk über einen Zeitgenossen, auf Grundlage mündlicher und schriftlicher Zeugnisse von Augenzeugen und Gewährsmännern verfaßt. Diese Zeugen gehören den verschiedensten Nationen an, sind Schweden, Polen, Deutsche, Franzosen, Russen, Engländer. Doch der erste Entwurf des Werkes wurde in England niedergeschrieben und auf Grund der Quellen, die ihm in England zugänglich waren.
Es war auf englischem Boden, daß er Historiker wurde.
Es war auf englischem Boden, daß das Fernglas, durch welches er das Erdenleben betrachtete, neu ausgezogen wurde. England gab ihm den archimedischen Punkt außerhalb Frankreichs, von welchem aus er Frankreich und das ganze Festland bewegen konnte. Er fand hier den Kontrast zu den französischen Zuständen, den Gegensatz, der seine verfeinerten, hochkultivierten Landsleute, in deren Mitte er sich wohl befunden hatte, als in religiösem und politischem Joche lebende Sklaven erscheinen ließ.
Er hatte sich frühzeitig als Fürsprecher der Vernunft gefühlt; er verließ England als Fürsprecher und Ritter der Freiheit.
Newton war ihm in der Welt des Geistes der große Befreier geworden. Die englische soziale, bürgerliche, literarische Freiheit wurde ihm das große Vorbild. Nicht in dem Sinne, daß ihn das in der englischen Politik packte, was die Erziehung der breiten Schichten zum Verständnis der Angelegenheiten des Staates und zum Eingreifen in dessen Leitung bedeutet: die demokratische Seite der politischen Freiheit blieb ihm fremd. Aber, daß niemand durch ein willkürliches Machtgebot seiner Freiheit beraubt, daß niemand ohne Gesetz und Urteil gestraft werden konnte, daß das Wort frei, der Gedanke frei war, daß alle Religionsformen geübt, daß im Parlament, in der Literatur, in der Presse alle Geistesrichtungen miteinander ringen durften, dies war ein idealer Zustand, von dem er in Frankreich kaum zu träumen gewagt und den er hier in England verwirklicht gefunden hatte. Was er viele Jahre später von einer anderen Gegend schrieb, sagte er schon jetzt von England:
Liberté, liberté! ton trône est en ces lieux.