Fredrika Bremer
Nina
Fredrika Bremer

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Heilquellen.

O, ich möcht' die ganze Menschheit drücken
An mein warmes, liebevolles Herz,
Mit dem Blute löschen jeden Schmerz,
Mit dem Schlag erhöhen das Entzücken.
                                                  Fr.

Siehst du, mein Leser, wie ich sie sehe, diese langen Alleen von hohen Linden und Ahornbäumen, deren dichtes Laubwerk die Morgensonne mit goldenen Strahlen durchbricht? Siehst du rechts und links von grünen Plätzen und Bäumen umgeben, hübsche hölzerne Häuschen, aus deren Thüren Schaaren von Menschen, mit Gläsern in der Hand, hervorkommen? Siehst du, wie sie unter gegenseitigen Begrüßungen langsam nach dem Brunnensaal und den Heilquellen hinströmen? Dort begegnen sich Arme und Reiche, Hohe und Niedrige, Körper- und Seelenkranke, Alle wollen neues Leben saugen an der Brust der Natur. Die gute Mutter! Ihre Quellen sprudeln für Alle, Alle! Sie macht keinen Unterschied zwischen ihren Kindern, sie weiß Nichts von Stiefkindern, sondern bietet Allen ihr Leben und ihre Kraft.

Frisch ist der Morgen und Etwas kühl. Das Silber des Thaues liegt auf dem Grase, dessen Halme sich unter der Schwere der klaren Perlen beugen. Derb und scharf ruft die Luft eine lang vergessene Blume auf die Wangen des Siechlings hervor. Die Schwalben kreisen sorgenfrei um die Wipfel der hohen Bäume, und der Sängerchor der Natur, die Spatzen, Buchfinken und Zeisige singen ein tausendfältiges Vivat aus dem Walde.

Die G . . . sche Familienpartie zeichnet sich unter der Menge aus durch Geschmack in der Kleidung und jene ungezwungene edle Haltung, die das schöne Kennzeichen hoher Weltbildung ist. Ninas Schönheit fesselt manche Lorgnette an das Auge. Die vornehmsten Herrn von der Brunnengesellschaft sammeln sich bald um diese 174 Gruppe. Viele sind Bekannte, Andere möchten es gerne werden. Reichthum, Schönheit und Rang behalten ihre Zauberkraft auf der Welt, man schreie, so lang man will, daß sie nur Staub und Asche seien. Niemand bemerkt Klara, aber Klara genießt mehr, als die andern Alle. Sie ist nie vorher auf dem Lande gewesen, sie hat noch nie den Morgengesang der Vögel im Grünen gehört, nie die Thauperlen im Grase gesehen, nie den Duft der Blumenwelt und die Frische der Luft eingesogen. Jetzt versteht sie die Herrlichkeit des Lebens, ihr Herz ist voll, übervoll, sie möchte gerne ihrem Schöpfer danken und sie fürchtet in Thränen auszubrechen. Fräulein Margarethe sieht ihre Rührung und mildert sie durch ihre heitern Scherze.

Fräulein Margarethe und Klara trennen sich von der übrigen Gesellschaft und gehen die Alleen hinab. Aber wer kommt ihnen hier entgegen, wiegenden Ganges, groß, wohlbeleibt und stattlich von Figur, den Kopf Etwas zurückgebeugt, das vergnügte volle Gesicht schmunzelnd in der Morgensonne, und gefolgt von einem kleinen Knaben, dessen blonder Kopf beinahe im Rockkragen verschwindet, als ob dieser die Ohren vor der Morgenluft schützen sollte? Wer Anders als Baron H. und sein Filius? In gerader Linie steuert er auf Fräulein Margarethe und Klara zu, die obgleich Etwas verwundert über seine Erscheinung, ihn sehr freundlich empfangen. Filius wird geliebkost, auch von Fräulein Margarethe – wer wird nicht liebreich in Gesellschaft der Natur? Sie setzen sich zusammen auf eine Bank zwischen den Bäumen. Bald füllte sich die Allee mit Wanderern, welche die Sonne aus dem dunkleren Brunnensaale herauslockt.

Baron H. theilt nach Rechts und Links Grüße, Winke und Kußhändchen aus, er scheint die ganze Welt zu kennen. Fräulein Margarethe setzt die Lorgnette ans Auge und Baron H. präsentirt in seiner eigenthümlichen munteren Weise seinen Freundinnen die Vorübergehenden:

»Dort, meine Gnädigsten, ging ein Mann, der 175 einmal in seinem Leben sich als Tropf gezeigt hat, später aber ein ganz braver Bursche geworden ist. Sein Nebenmann hat einmal eine Handlung à la Titus begangen, dann aber sich niedergesetzt um darauf zu trinken, und sich nach und nach bis auf die niedrigste Stufe der Menschheit herabgetrunken. Daraus kann man sehen . . .«

»Daß eine Schwalbe noch keinen Sommer macht,« fiel Fräulein Margarethe ein.

»Vortrefflich bemerkt! So meine ich auch. Diese ältliche und reputirliche Frau mit dem bunten Shawl – ist meine gnädige Tante Q. In meinen jungen Jahren war ich viel in ihrem Haus. Ich kann es mir noch recht gut denken, wie glücklich ihre Kinder und ich waren, wenn wir sie in der Lektüre eines Romans begriffen sahen, und wie uns immer eine heimliche Angst befiel, wenn wir ein Predigtbuch in ihrer Hand bemerkten. Eine fröhliche Laune, freundliche Nachsicht für die Vergnügungen Anderer, um dadurch einen Ablaßbrief für die eigenen zu erhalten, waren die Wirkungen des Romans. Tiefe Runzeln in der Stirne dagegen, strenge Moral und Verbote waren die Früchte der Predigt, und es ließe sich aus diesem Allem der höchst thörichte Schluß ziehen, daß man Nichts als Romane und ja keine Predigten lesen solle.«

»Sehen Sie,« sagte Klara mit einer Stimme, die vom tiefsten Mitgefühl zeugte, »sehen Sie diese arme Gebrechliche dort, die so kränklich aussieht. Ist sie Ihnen bekannt?«

»Ja wohl, recht gut. Sie heißt Fanny M. Ein armes Mädchen, ohne Eltern, ohne Verwandte und das ganze Jahr keine Stunde lang gesund.«

»Großer Gott!« seufzte Klara mit Thränen in den Augen, »welch' ein trauriges Leben!«

»Nicht so sehr, als Sie vielleicht glauben. Sie hat eine Beschäftigung, die ihrem Leben seine Widerwärtigkeiten nimmt, und sie sogar in Stunden schwerer Leiden manche Himmelfahrt machen läßt.« 176

»Und die wäre?«

»Das Lesen der besten, ausgezeichnetsten Dichter. Bestimmt, auf Erden eine wurmstichige Blume zu sein, saugt sie Leben für eine höhere Welt ein, durch die Propheten derselben, die Dichter. Wer wollte sie deßwegen tadeln, oder ihr nicht vielmehr von Herzen Glück wünschen? Sprechen Sie einmal mit ihr über Klopstock, dann werden Sie sehen, wie dieses vergilbte Auge strahlen kann.«

Auch Klaras Auge strahlte fromm bei dem Gedanken an eine getröstete Unglückliche. Fräulein Margarethens Aufmerksamkeit wurde durch die Vorübergehenden zerstreut.

»Vor allen Dingen, mein lieber Baron,« begann sie, »sagen Sie mir Etwas über diese Familie da, die so ausgesucht häßlich ist und so getreulich zusammenhält. Vater und Mutter, fünf Töchter, drei Söhne, glaube ich an ihrer Eulenähnlichkeit zu erkennen. Was sind es für Leute? Sie müssen recht herzlich satt an einander bekommen.«

»Sie sind die besten und glücklichsten Menschen von der Welt. Gut, heiter, witzig, gebildet und so anhänglich an einander, daß sie wenig darnach zu fragen brauchen, was die übrige Welt von ihnen denkt.«

»Ich danke für den Bescheid. Aber ich bitte Sie, wer ist die Dame dort, die auf der Bank gegenüber von uns sitzt, Sie haben Sie, wie ich sah, gegrüßt. Sie macht einen ängstlichen Eindruck auf mich. Ihr Gesicht ist edel, aber ohne alle Spuren von Anmuth. Eine unheimliche Düsterkeit nimmt ihm Alles Leben. Sie ist still und finster, wie eine Mumie. Hat sie vielleicht ein Verbrechen begangen? Oder kann sie auch sein wie andere Menschen? Kann sie ein fröhliches Wort sprechen, kann sie lachen?«

»Nein, das kann sie nicht. Sie kann bloß beten. An diesen beständig niedergeschlagenen Augen, an diesem Gesichte, das mehr dem Tod, als dem Leben angehört, sieht man, daß nur unaufhörliches Gebet sie vom Wahnsinn 177 erretten kann. Ich habe mir sagen lassen, sie habe Jemand geliebt, der ihrer nicht würdig gewesen, und eines schlimmen Todes, d. h. von eigener Hand, gestorben sei. Sonst weiß ich von Sophie J. weiter Nichts, als daß sie zu Hause nicht glücklich ist. Vater, Mutter und Geschwister sind in Allem das Widerspiel von ihr, und leben noch überdieß in unaufhörlichem Hader mit einander. – Ueberlaute Zänkereien sind die Musik in ihrem Hause, und alle wetteifern einander zu überschreien.«

»Die Unglücklichen, oder vielmehr die Garstigen! Und sie?«

»Sie hat geschwiegen; sie hat sich verfinstert, bis sie einem Schatten ähnlich geworden ist, und scheint nur dazu auf der Erde zu verweilen, um zu beten, zu beten für den Unwürdigen, den sie geliebt, zu beten für die Ihrigen, welche sie und sich selbst unter einander plagen. Ihr Aussehen erinnert mich an einen Märtyrer von Dominichino. Es ist ein stilles aber lebendiges Miserere.«

»Guter Gott! Ein unaufhörliches Gebet – und dieser finstere Ausdruck! Man möchte verzweifeln.«

»Das soll man nie. Wenn sie noch lange betet, zieht sie gewiß den Himmel zu sich herab; aber Alles will seine Zeit haben. Sehen Sie nicht so viel auf sie. Es ist ihr nicht angenehm und Sie können ihr doch nicht helfen. Sie hat einmal auch ihre Bürde zu tragen, wie so manche Andere.«

»Und wenn sie närrisch wird.«

»Das sind schon Viele vor ihr geworden und es findet sich noch immer Platz in einem Irrenhause. Es ist dieß nicht das Schlimmste, was einem begegnen kann. Die Nacht der Narren hat wohl auch einen Morgen. Indeß lassen Sie uns jetzt auf etwas Erquicklicheres sehen. Wissen Sie wohl, wovon dieser Herr da, mit den langen Beinen, lebt, was ihn bei Muth und Kraft erhält? – Vergessenheit. Er vergißt Alles, nur sein 178 Mittagessen nicht; – Sorgen und Freuden, Feindschaft und Freundschaft; über Nacht hat er den gestrigen Tag vergessen und deßwegen erwacht er jeden Morgen als ein neuer Mensch, oder als ein neues Geschöpf, wenn Sie lieber wollen. Und dieser Andere mit dem stillen Wesen, mit der ernsthaften Stirne und der Etwas kofferähnlichen Figur – wissen Sie auch, was diesen ruhig durchs Leben führt und thätig und munter erhält? – Die Erinnerung. Seine ganze Lebenskraft ist Dankbarkeit. All sein Dichten und Trachten ist darauf gerichtet, für die Kinder seines Wohlthäters Vermögen zu sammeln.«

»Das ist schön,« sagte Fräulein Margarethe.

»Ja, das sage ich auch, und . . . Ah, gehorsamster Diener, Madam Pre . . . . ein gar zu artiges Weibchen. Sie hat eine allerliebste Art, ganze Stunden lang fortzuschwatzen; – nur das genirt mich ein wenig, daß sich Alles um ihr liebes Ich, um ihre Erfahrungen und Verdienste dreht, sowie um den Grundsatz, man solle nie von sich selbst sprechen, ja nicht einmal an sich selbst denken. Wenn man sie hört, könnte man Lust bekommen zu glauben, sie denke vom frühen Morgen bis an den späten Abend nie an sich selbst, und rechne ihre eigenen Neigungen und ihre eigene Gemächlichkeit für Nichts, wenn nur ihr Mann, ihre Kinder, und ihre Schwägerin Ursache haben, zufrieden zu sein. (NB. Ich kenne eine Menge Frauenzimmer, die dasselbe von sich meinen.) Gerührt über ihre eigene Vortrefflichkeit, bezieht sie mit demüthiger Zuversicht alles Schöne, was Dichter und artige Schriftsteller zum Lobe der Frauen gesagt haben, auf sich selbst, und betrachtet sich in frommer Täuschung als einen leibhaftigen Engel. (Siehe das obige NB.) Indeß hat mir Jemand ins Ohr geflüstert, ihr Mann habe eines Tages auf die Aeußerung eines Freundes, »dein Engel von einer Frau,« in herzlichem Mißmuth gerufen: »Ja wahrhaftig, ein sauberer Engel!«

Fräulein Margarethe lachte aus vollem Hals und sagte: 179

»Sie sehen also keinen Engel unter den Frauenzimmern?«

»Ich, meine Gnädigste? Ich sehe mehr Engel unter ihnen, als mein Kopf und mein Herz recht ertragen können. Aber meine Engel loben sich nicht selbst.«

»Und thun wohl daran, denn es gibt nichts Widerwärtigeres. Aber wer ist denn dort? Der Herr sieht aus, wie ein Schriftsteller, doch glaube ich, es würde mich keine große Lust anwandeln seine Bücher zu lesen.«

»Ich muß ihre feine Nase bewundern. Der Herr ist wirklich ein Schriftsteller, und zwar hat er ein Buch über die Bestimmung des Weibes verfaßt, dessen Inhalt ungefähr so lautet:

»Das Weib soll für den Mann erzogen werden. Du sollst deinem Mann unterthänig sein. Du sollst deinem Mann zu gefallen suchen auf die eine oder auf die andere Art. Hat er Fehler, so sollst du ihn mit großer Demuth davon abbringen, ohne daß er es weiß. Ist dieß nicht möglich, so sollst du sie vor der ganzen Welt geheim halten und ihn nur um so inniger lieben. Summa: du sollst deinen Mann erziehen, sollst deinem Manne ergeben und jederzeit vollkommen sein. Amen!«

»Wissen Sie auch, Baron,« sagte Fräulein Margarethe, »daß ich oft schon daran gedacht habe, Sie hätten ein Schriftsteller werden sollen. Ich bin überzeugt, Sie hätten uns recht gute und nützliche Bücher geliefert.«

»Und wissen Sie auch, mein gnädiges Fräulein, daß ich selbst die gleiche Ueberzeugung gehegt habe, und wirklich eine Zeit lang im Begriff war, diese Bahn zu betreten. Ich fing an, einen philosophischen Roman zu schreiben, und war selbst gerührt, über all die Weisheit und Güte, die ich mit meiner Feder den Menschen einblasen wollte. Ich meinte, die schlechte Welt könne sich ohne mein Buch nicht mehr helfen, und begriff kaum, wie sie sich so lange gehalten habe. Ich war gerade in der Mitte meines Opus, als ich eines Tags den Catechismus 180 in die Hand nahm, um meinen kleinen Knaben zu examiniren. Allein bald fing ich an, für mich selbst zu lesen, und ich kann Ihnen kaum beschreiben, welchen Eindruck diese Lektüre auf mich gemacht hat. Ja ich wurde gerührt, entzückt, und doch zugleich beschämt, als ich sonnenklar einsah, daß die Welt schon hier Alles hatte, was sie bedurfte. Ich ging sogleich nach Hause und verbrannte mein Manuscript, in dessen letzten Gedanken ich jetzt ein Extrakt vom Catechismus sah. Und von dieser Stunde an hat die Stimme meines Verstandes jedesmal, so oft ich mich versucht fühlte, aufs Neue zur Belehrung der Menschen die Feder zu ergreifen, mit Donnerlaut meiner Eitelkeit zugerufen: Sie haben Mosen und die Propheten! Was hälfe es ihnen, wenn einer von den Todten aufstände?«

»Sehr schön, Baron, aber verzeihen Sie, wenn ich glaube, daß Ihr bescheidener Theil Faulheit auch dazu beigetragen hat, Sie vor Moses und den Propheten, sowie von Ihrer Arbeit zurückzuschrecken. Auch gestehe ich, daß ich weit entfernt bin, Ihre Ansicht von dem Ausreichen eines Buches zu theilen. Ich bedarf ohnehin Bücher, auch um mich zu amüsiren.«

»Amüsiren wollen Sie sich! Dann meine Gnädigste, besehen Sie sich einmal diesen Herrn da mit dem schwerfälligen Gang und die leichtfüßige Frau neben ihm, die immer mit einander gehen, wie etwa eine Koppel Hunde, welche sich fortwährend ziehen und reißen und doch nicht von einander kommen können. Nie hat wohl der Himmel so ungleiche Geschwister geschaffen. Er findet in Allem Schwierigkeiten: im Leben, im Sterben (und im Letzteren mag er wohl Recht haben), im Stehen, im Sitzen, im Gehen und im Liegen – ich begreife wahrhaftig nicht, wie er durch die Welt kommt. Sie dagegen gehört zu den wohlmeinenden aber unklaren Optimisten, welche, ohne zu wissen warum, wirklich glauben und Jedermann versichern, es diene Alles zum Besten. Sie sagt von der Zerstörung Lissabons und von den Gräueln der 181 französischen Revolution, daß sie gewiß zu Etwas gut seien. Ist es heute recht schlecht Wetter, so sagt sie, es werde morgen um so schöner sein . . . kommt einmal das jüngste Gericht und der Weltbrand, so bin ich überzeugt, daß sie einen Augenblick finden wird, um irgend einen brennenden Mitchristen zu versichern, es diene Alles zum Besten. Obgleich ich nun wirklich die ganze Ansicht sowohl für christlich, als für verständig halte, so kann ich doch nicht läugnen, daß sie mich oft an den Papagai erinnert, der, als ihm ein Truthahn die Augen aushakte, beständig schrie: »Das ist gut, das ist gut!« Ich kam einmal auf den Gedanken, mich ein Bißchen in sie zu verlieben, denn auch ich fasse das Leben gern von seiner besten Seite auf, und ich dachte, mit einer Person, die es so leicht nehme, müsse es ganz ungemein leicht werden. Aber als sie mich bei einem verdammten Gichtschmerz, der mich ein ganzes Jahr lang plagte, auch damit tröstete, er diene zum Besten, so war es aus mit unserem Einverständniß. Inzwischen kann ich ihr zu ihrer Weltansicht nur Glück wünschen, und muß ihre Geduld mit dem Bruder bewundern, der nicht ohne sie leben kann, obgleich er sich beständig über sie wie über alles Andere ärgert. Die Etwas wunderlich gekleidete Frau, die hinter ihr geht . . .«

»Ah, Frau K.! ich kenne sie,« unterbrach sie Fräulein Margarethe, »diese Frau hat mir schon mehr als einmal Lust gemacht, Dummheiten zu begehen. In ihrer Nähe und wenn ich sie höre, werde ich immer entweder gedankenlos oder leichtsinnig.«

»Das wundert mich, denn sie ist gerade das Gegentheil von leichtsinnig.«

»Ebendeßhalb oder vielmehr deßwegen, weil sie den Verstand so langweilig macht. Sie will, glaube ich, Philosophin sein, und über Alles raisonniren, abhandeln und disputiren. Schon tausendmal hat sie mich an die Werte der Bibel erinnert: »Deine Rede sei ja, ja, nein, 182 nein, was darüber ist, ist vom Uebel.« Du lächelst, Klara! – ich sehe, daß ich bei dir Anklang finde.«

»Und doch,« wandte Baron H. ein, »kann eben diese Disputirsucht und Wortklauberei von einem ganz guten Streben herkommen, nämlich von dem Bedürfniß sich der Welt klar zu machen.«

»Das ließe sich denken,« sagte Fräulein Margarethe nach einer kurzen Pause – »aber soviel ist gewiß, daß ich ihr weder helfen kann noch will; auch glaube ich nicht, daß sie die rechte Manier hat. Da höre ich tausendmal lieber der Madame M. zu, die unaufhörlich, aber mit wahrem Eifer von ihren Kindern und ihren Dienstboten erzählt.«

»Ich gebe Ihnen vollkommen Recht und denke ganz wie Sie. Dieser Gegenstand der Unterhaltung kann auf eine Weile so gut sein, als jeder andere. Es kommt dabei viel auf den Geist an, der . . .«

Hier legte Fräulein Margarethe ihre Hand auf des Barons Arm und flüsterte ihm eifrig zu: »Um Gotteswillen, wer ist das – das schwarze Frauenzimmer dort, das sich an dem Fliederbusche hinschleicht? sie entspricht vollkommen meiner Vorstellung von einem lebendigen Schatten, und heftete so eben einen so scharfen, so ganz besondern Blick auf uns! . . .«

Kaum hatte der Baron einen Blick auf die schwarzgekleidete Dame geworfen, die in diesem Augenblick hinter dem Busche verschwand, als er, wie von einem elektrischen Schlage getroffen, auffuhr und pfeilschnell ihrer Spur nachstürzte.

Aufs Höchste verwundert und neugierig folgte ihm Fräulein Margarethe mit den Augen. Erst im Brunnensaal trafen sie sich wieder, und der Baron, schweißbedeckt, keuchend und verstört, sagte bloß, er habe in dieser Dame eine Bekannte zu sehen geglaubt, sie aber nicht auffinden können.

Das recensirende Gesellschäftchen war inzwischen stille geworden und beschäftigte sich bloß mit Füllung 183 und Leerung seiner Gläser. Während sie indeß trinken und herumspazieren, will ich die Musterung noch einen Augenblick fortsetzen, Augen und Gedanken über die wandelnde Menge schweben lassen, und dem Leser erzählen, was ich wahrnehme, denn es ist dieß ein Gegenstand, der die Aufmerksamkeit nicht so leicht ermüdet, und es bleibt immer interessant, das ungleiche Leben und Treiben der Menschen zu beobachten, zu sehen, wie verschieden die Welt sich in ihnen Allen spiegelt, und dennoch immer den Menschen wieder zu erkennen. Den Gottesblick und den Todtenschädel haben sie ja alle.

Den Todtenschädel! Kann man diesen wohl in dem niedlichen Köpfchen da wiederfinden, das so fröhlich und lebenslustig in die Welt hinausblickt? So viel bleibt einmal gewiß, daß die junge Besitzerin desselben nicht viel davon weiß. Sie liebt Tanz, Musik, fröhliche Gespräche und Gesichter, die Sonne und die Blumen. Ihre Seele ist ganz und gar der Sommerseite des Lebens zugewendet; die andere fürchtet sie, wie die Sünde. Sie tanzt durchs Leben, unschuldig, singend und spielend. Möge kein Griesgram den Kopf über sie schütteln! Auch im Menschenleben muß es Lerchen geben.

Laß die Triller froh erklingen,
    Auf zur Höh', aus heitrer Brust,
Mögen Andre Messen singen,
    Singe du des Lebens Lust.

Laß die Leier sanft ertönen,
    Wo ein Lebensmüder weint,
Bis des bittren Jammers Söhnen
    Abermals der Frühling scheint.

Ja, die Freude kehret wieder
    Bei dem sanften Himmelston,
Einst dann wirst du Jubellieder
    Singen an Allvaters Thron. 184

Der Lebensmüde! . . . O ja, wenn du kannst, so erquicke sein Gemüth. Siehe, wie er sich gebeugten Hauptes an die Heilquellen schlüpft, nicht zu hoffen wagt und doch nicht verzweifeln will. Von dem grünen Baum herab, wo ich meine Leier aufbewahrt, will ich euch für ihn ein Liedchen singen.

Ist keine Freud' für dich auf Erden mehr?
    Nicht Freude, Hoffnung nicht auf bessre Loose?
    Kein ruh'ger Schlaf, als in der Erde Schooße?
Für dein Gebet nicht Lindrung, nicht Gehör?

O dann gibt's doch den himmelskräft'gen Muth,
    Der auch das Bitterste kann still ertragen,
    Und Trost gewährt des Lebens trüben Tagen,
Heil dir, Geduld, du schönstes, höchstes Gut!

Du bist der Port, in dem der Wogen Braus
    Sich legt; der Blick, ein ruh'ger Himmelsspiegel,
    Dem du hast aufgedrückt dein heil'ges Siegel,
Strahlt klar den reinen Himmelsfrieden aus.

Kein andrer Anblick ist so schön, wie du,
    Der du verklärest dieser Erde Schmerzen,
    Und alle Zweifel tilgst in meinem Herzen,
Seh' ich des Leidenssohnes sanfte Ruh.

Dann glaub' ich an den Gott, der Solches kann,
    Der Kraft verleiht, die Schmerzen zu bezwingen,
    Ich glaube an des Geistes freie Schwingen,
Und bet' in Demuth den Befreier an.

O Schmerzenssohn! Prophet der bessern Zeit!
    Bald wird dem hohen Muth zum Siegeslohne
    Voll Rosen blüh'n die bittre Dornenkrone,
Und glänzt als Krone deiner Herrlichkeit.

Wo war ich soeben? Richtig bei einer Heilquelle. Ich habe die Freude, die Geduld besungen. Gut! Meine Ader ist höher gesprungen und ihr spielender Strahl hat 185 das sprudelnde Wasser des ewigen Lebens begrüßt, das sich aus unsterblichen Quellen über die Menschheit ergießt. Ich will ihm folgen, ich will sehen, wie es ihren Seelen Segen bringt, ich will die Menschen um mich her betrachten. – Hier die Guten, die Liebenden, die von gegenseitiger Liebe leben. Wie sie meinem Herzen wohlthun! Wie lieblich die Luft ist in ihrer Nähe! – Dort die Starken. Diejenigen, die mit mächtigem Willen ihr Schicksal selbst schaffen, die in großen Gedanken athmen und sich durch Betrachtungen über das Leben und über sich selbst erheben. Ihr Anblick wirkt stärkend. Ihr Auge ist klar; kein Wunder, es hat die Wahrheit gesucht und geschaut, die schöne, liebliche, herrliche.

Und sie, denen die Natur keine große Kräfte gab, denen das Leben keine großen Freuden schenkte, die aber die Brosamen von seinem Tische vergnügsam nehmen und den Himmel nicht mit Geschrei nach Mehr ermüden; – die Kleinen des Lebens, die Unbemerkten der Welt, wie schön, wie gut stehen nicht auch sie da in Gottes Ordnung! Wie manches stille Leben, das seinen Genuß in Blumen, in Vögeln, in einem Stübchen nach der Sonnenseite findet, wo sie, die sorgenfreien Kinder der Natur pflegend, Etwas von ihrer Ruhe und Lebensfrische gewinnen! Es ist ein wonnevoller Gedanke, wie manche Freudenquellen der allgütige Vater seinen Kindern bereitet hat, und wie er sich ihnen selbst darin offenbart. Wir fühlen seine Gegenwart nicht bloß in Augenblicken religiöser Andacht; das göttliche Feuer lebt in allen Gliedern des Lebens, und jedes reine Menschenstreben ruft seine Blitze hervor. Die Liebe, die Natur, die Wissenschaft, die Kunst, die Philosophie – sind sie nicht Alle Gedanken von ihm, Ausflüsse Gottes? Hat er nicht in jedem dieser Reiche jedem Menschen ein Vaterland gegeben, worin er sich erbauen und wohnen kann? Und derselbe Himmel, derselben Liebe eine ewige Sonne strahlt über und durch sie Alle! Wie oft werden nicht die Menschen auf ihrem Wege, in ihrer Arbeit, von einer plötzlichen 186 Klarheit, einem unnennbaren Wonnegefühl durchdrungen! Strahlen eines höheren, eines unfaßbaren Lebens durchzucken sie, und sie müssen dann sagen: »Dem Herrn sei Ehre!«

Und doch gibt es auch im Leben Einsame, Arme, die Alles entbehren, was dem Leben Werth gibt. Es wird nicht so bleiben. Der Prophet hat seinen Tag gehabt, der Held den seinen, jetzt ist der Tag des Menschen. Aber der Mensch ist Legion, und jedes Individuum dieser Masse tritt heutzutage mit der Vollmacht des Himmels hervor, und begehrt auf der Erde Raum für seine Freiheit, seine Liebe, seine Wirksamkeit und sein Glück. Daß es am Anfang Püffe und ein Gedränge geben muß, ist klar. Alle stürzen nach den Heilquellen hin, Alle wollen ihre Becher füllen. Einige werden zurückgedrängt, Andere zu Boden getreten werden. Aber Geduld; es wird besser werden! Der Führer des Volks hat zu dem Felsen gesprochen, und dessen Schooß hat sich aufgethan und die Quellen sprudeln immer höher, immer reichlicher. Es wird dereinst für Alle genug da sein.

Eine Quelle gibt es, deren Ader jetzt erst anfängt, für die Masse der Menschen ihre Silbertropfen perlen zu lassen, eine Quelle, die den Durst von Millionen stillen und denjenigen, die daraus trinken, ein volles Maß des Friedens und der Freude gewähren wird.

Es ist der Trank aus der Quelle der Wissenschaft, der intellektuellen Bildung, die den Blick des Menschen so klar, sein Leben so friedlich und so unabhängig von äußeren Geschicken macht. Gehe und trinke daraus, du vom Glück Verwahrloster, und du wirst dich reich fühlen. Du wirst in die weite Welt hinausgehen und überall zu Hause sein; du wirst dich in dein einsames Stübchen einschließen und Gesellschaft genug haben; denn deine Freunde, die immer bei dir sind, sie, mit denen du dich frei besprechen kannst, sind die Natur, die Vorzeit und der Himmel! Das Reich der Ameise und das Werk des Menschen, der Regenbogen und die Rune, sie alle laden 187 deine Seele zum Mahle! Die Herrlichkeit der Schöpfung wird nicht bloß von deinem Auge geschaut, sie verklärt sich auch in deinen Gedanken, sie wird Licht für deine Vernunft. O, so zu betrachten, zu verstehen und anzubeten – ist das nicht genug für das Erdenleben? Genug? O, es ist unendlich, unaussprechlich viel!

Aber warum ist es so genug, so viel? Unendlicher! Quelle des Lichts und des Lebens! Weil es uns Dir näher führt, weil wir in jedem Tropfen des Daseins immer besser Dein Licht schauen und Dein Leben vernehmen können. Wenn, wie ein großer Schriftsteller sagt, das ganze Heidenthum im Vergessen des Schöpfers über dem Geschaffnen besteht, so kommt es gewiß dem wahren Christenthum zu, daß es überall in dem Geschaffenen den allweisen Schöpfer zu verstehen und anzubeten sucht.

 


 


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