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Mit stierem Blick betrachtet Otto die roten Mönchsteine. Sein starres Auge, in dem das Weiße eine gelbgraue Farbe angenommen hat, sucht durch die Mauer hindurch zu dringen, ob es ihm nicht doch endlich gelingen würde, einen Weg hinaus zu finden.
Das Tageslicht vom Guckloch hoch oben in der dicken Mauer fällt auf die schwere Tür mit den eisernen Riegeln.
Die Schale mit Bier und Brot, die er zum Mittag bekam, hat er auf den Boden neben dem Kaminloch gestellt. Die Speise ist unberührt; es gilt zu beten und zu fasten, wenn es ihm schließlich gelingen soll.
Da kommt aus dem Kamin hervor die Maus, seine treue Gefährtin. Sie schaut zu ihm auf mit ihren kleinen, funkelnden Augen, als bäte sie, sich von dem Essen nehmen zu dürfen.
Ihr schwarzer Balg hat schon die Frische des Frühlings.
»Grünt es denn draußen schon?«
Die Maus gibt keine Antwort. Sie sitzt auf dem Rand der Schale und schlürft das Bier.
Nicht starren! Nicht zusammensinken! Nicht in Grübeleien versinken!
Nun ist es Zeit zu wandern.
Otto steht auf und geht auf und ab – von dem Bettpfosten an der roten Mauer hin, an der Tischklappe neben der Tür unter dem Guckloch vorbei und wieder zurück. Die fleischlosen, abgemagerten Hände, die grau und fahl sind, wie das Licht auf der Mauer seiner Zelle, reiben sich langsam aneinander.
Der Frühling jagt da droben hinter dem Fenster die Wolken am grauen Himmel hin. Otto schielt nach der Mauer, wo er für jeden zu Ende gegangenen Tag einen Strich eingeritzt hat.
Ja – nun ist wieder der erste April.
Die Schatten der jagenden Wolken dort droben ziehen unruhig über die Mauer hin.
Nun liegen sie dunkel über der Tapheide; aber über dem Kloster Asmild scheint helles Licht.
Otto bleibt vor der Mauer stehen und betrachtet die verhängnisvollen Striche, die er im vergangenen Jahr durch den Schimmel hindurch in die rote Mauer geritzt hat.
Hier unten – all die kleinen Striche links – da hatte er eben Rast gehalten, als seine Leute die weißen Banner des Grafen über dem Hügelkamm auftauchen sahen.
»Dreiundzwanzig!« zählte Niels Ebbesen, der neben ihm stand.
»Er stand auch neben mir, als Erik auf der Loheide floh – hoch und fest im Sattel saß er – mit dem nachdenklichen Blick unter den geraden Brauen.
Und da – da kamen die Brandenburger dahergeritten, die der Graf ausgesandt hatte, um uns zu täuschen. Sie trugen das Zeichen des Markgrafen, und sie riefen und winkten meinen Leuten zu, so daß ich glauben mußte, es seien die meinigen, die ins Gedränge geraten wären.«
Der Hinterkopf tut ihm weh, als sollte er zerspringen.
Das Fasten ist schuld daran, daß ich jetzt nicht mehr immerfort an dasselbe denken kann. Überdies liegt das Frühjahr in der Luft und macht meine Beine so schwach und elend, daß ich mich kaum aufrecht halten kann.
In plötzlich dumpfer Verzweiflung wirft er die Arme in die Höhe.
»Ach Gott im Himmel – wie lange soll dies dauern?«
Ruhig – ruhig! – Denk an Segeberg im ersten Jahr! Da schlug ich den Kopf gegen die Wand, und meine Augen waren wie mit Blut gefüllt von dem ewigen auf die Mauer Starren und von der Dunkelheit in dem feuchten Loch. Beinahe hätte mich der Wahnsinn ergriffen.
Ruhig – ruhig! – Hier in Rendsborg ist es doch viel besser. Ich kann ein Stück Himmel da oben sehen. Morgen und Abend kann ich unterscheiden und ab und zu einen einzelnen Stern. Die Messe in der Kapelle drüben kann ich hören und den Tageszeiten folgen und die Kirchengebete vernehmen und mitbeten.
Er dachte sicherlich nicht daran – er, der Kahlköpfige – als er mich von Segeberg hierherschickte in den Rendsborger Turm – den er sich nach dem Brande rund und stark wieder aufbauen ließ – daß er mir mit dem Licht und mit der Messe eine Waffe in die Hand gab. Er dachte gewiß nicht daran, daß sein Gefängnis und seine schlechte Kost ihn selbst treffen könnten. Hätte er einmal in seinem Leben erfahren, wie ich es erfahren habe, welche Kraft im Gebet ist, wenn es sich mit Fasten und Einsamkeit verbindet, er hätte mir sicherlich, um seiner selbst willen, bessere Pflege angedeihen lassen.
Ha ha – ich war einst in Paris – Herr Graf! Ein Weib, namens Sara, lehrte mich Zauberei kennen, denn sie behexte mich, und ich wurde ihre Beute, wie die Maus die Beute der Katze wird, wenn sie zum Sprung ansetzt. Tag für Tag habe ich mich geübt, habe gefastet und gebetet – gebetet und gefastet – und nun ist mein Wollen wie eine geschliffene Klinge, die durch Wände und Mauern dringt, durch Luft und Wasser.
Wüßte ich nur, wo du bist, wohin ich starren müßte mit meinen Augen und mit meiner Seele, dann hätte ich dich sicher schon lange getroffen.«
Wie befreit hebt er die Hände über seinen Kopf.
»Diese Mauern versperren mir den Blick, doch weichen sie zurück, sobald ich will. Sie fallen vor dem starken Flügelschlag meiner Seele, sobald ich will, und sobald ich weiß, wohin ich meine Kraft und meine Gedanken schicken soll.
Aber nie verrät er mir irgend etwas, der träge Hund von einem Kerkermeister, ob ich mich auch demütig und einfältig stelle und das Essen aus seiner Hand annehme, wie ein Hund aus der Hand seines Herrn.
Bst! – War das nicht Glockenton?
Dann ist endlich die Vesper da.«
Leise nur klingen die Glocken herauf, aber sein Ohr ist in allen Tönen, die um den runden Turm beben, wohl geübt.
Nun wirft er sich vor dem Bett auf die Knie, beugt das Gesicht auf die Hände und nimmt seine ganze Lebenskraft zusammen, wie eine Katze sich zum Sprung zusammennimmt. Alle Gedanken und Gefühle verjagt er und beugt den Kopf auf sein Lager, denn nichts anderes ist zurückgeblieben, als das wogende Blut hinter seinen Augen.
So liegt er da, ohne sich zu rühren, bis das Eingangsgebet des Pfarrers durch die Luft leise und wie aus der Ferne an sein Ohr dringt. Die Worte selbst kann er nicht unterscheiden, aber er kennt das alte Gebet so gut, daß er es mitbetet:
»Deus in adjutorium meum intende!« Gott, sei darauf bedacht mir zu helfen.
Und der Chor antwortet:
»Domine, ad adjuvandum me festina!« Herr, eile mir zu helfen.
»Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto! Sicut erat in principio et nunc et semper.« Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist. Wie es im Anfang war, so jetzt und allezeit.
Und Chor und Gemeinde singen: »– et in saecula saeculorum. Amen. Alleluja!« und in alle Ewigkeit. Amen. Halleluja!
Dann spricht er sein eigenes Gebet, das immer wiederholte, er betet es im Takt mit der Angelusmesse drüben; und er vereinigt die vielen hundert Stimmen der Gemeinde mit der höchsten Kraft seiner Seele, die Fasten und Gefängnis ihm verliehen haben, – und schickt sie, von seinem Gebet getragen, nach oben.
»Herr, verdamme ihn!
Er ist in Haß gezeuget gegen mein Land und mein Geschlecht, das seine Väter beherrscht hat.
Christus verdamme ihn!
Gib, daß er durch Verrat ermordet werde, so wie er selbst Hartwig Reventlow, seinen Freund und Gefährten, in der Nacht zu seinem nahen Verwandten schleichen ließ, um dessen Land in Besitz zu nehmen.
Heilige Dreieinigkeit und du, o Mutter Gottes, verdammet ihn!
Er war es, der die Mannen meines Vaters zum Verrat an ihrem Herrn verlockte. Er belohnte den Marschall und den Truchseß und die meineidigen Geächteten für ihren Verrat an jenem Tage von Nykjöbing.
Heiliger Michael, heiliger Gabriel, heiliger Raphael, verdammet ihn!
Er war es, der den König verlockte, das Land zu teilen und es um Gold zu verpfänden. Und er machte ihn bei seinen Leuten verhaßt und bereitete ihm einen schmählichen Tod.
Herr, schlage ihn mit deinem Zorn!
Er war es, der deinen Bischof aus Schleswig verjagte, den Altar deiner Domkirche plünderte und deinen heiligen Peterspfennig raubte, so daß das Land verflucht dalag, ohne Messen für die Toten, ohne Schutz gegen den Bösen!
Herr, schlage ihn mit Seuche und Krankheit – so wie er die dänische Erde und die dänischen Männer geschlagen hat, die Lebendigen und die Toten!
Er war es, der mich und meine Mannen auf der Tapheide in einen Hinterhalt lockte. Er nahm mich zum zweitenmal gefangen, gab mir den härtesten Kerker ohne Tageslicht, um mich meines Verstandes zu berauben. Er ließ mir das Leben, nicht aus Barmherzigkeit, sondern weil er es am vorteilhaftesten fand. Denn wenn ich umgebracht worden wäre, dann hätten meine Mannen sich um Waldemar geschart, um meinen Tod zu rächen, und die Dänen hätten aufs neue einen Zweck und einen König gehabt.
Heilige Dreieinigkeit, heilige Jungfrau, heiliger Erzengel und all ihr seligen Engel, Patriarchen und Propheten, verflucht ihn und übergebet ihn dem ewigen Tod. Amen!«
Nun hebt er das Gesicht von den Händen und wendet sich nach dem runden Knauf des Bettpfostens.
In diesen Knauf hat er zwei Löcher gebohrt, als die schwarzen stechenden Augen, und zwei Linien geritzt, als die kurze kräftige Nase, und eine Furche gezogen, für den harten zusammengekniffenen Mund.
»Herr, siehe hier! – nun steche ich seine Augen aus.« (Und er sticht in die Löcher mit dem Splitter eines Bretts, das er von der Bettstelle losgemacht hat.) »Laß es also geschehen durch deine Gnade!
Christus, höre mich! – Sein Haupt sei der Seuche und der Krankheit überliefert. (Er streicht mit seinen magern Händen beschwörend über den Scheitel des Knaufs und an den Seiten des Bettpfostens herab.) – Seine Arme sollen verdorren! – Sein Blut soll unrein werden – Eiter soll seinen Leib zerfressen – und ihn mit Beulen schlagen seiner Bosheit wegen. Laß alles also geschehen um deiner Gnade willen!
Amen, im Namen der heiligen Dreieinigkeit, Amen!«
Otto trocknet sich den kalten Schweiß von der Stirne. Er ist so matt, daß er kaum aufstehen kann. Doch muß er hin zur Mauer unter dem Guckloch und einen Strich für das Gebet einritzen. Mit Mühe liest er die Zahl – es ist jetzt halbdunkel – mit dem Morgen- und Abendgebet von heute ist es der dreihundertundsiebenundzwanzigste Strich.
Mut und Hoffnung versiegen ihm plötzlich, die Glieder erschlaffen, der Rücken beugt sich.
»Was helfen Zauberei und Hexenkunst, wenn ich den Weg nicht weiß, den ich sie senden soll?«
Tritte ertönen draußen. Der Schlüssel rasselt. Die Klappe in der Tür öffnet sich vor dem graubärtigen Gesicht unter der Kapuze dort im Halbdunkel.
Otto richtet sich hastig auf, geht nach der Tür, nimmt die Schale vom Tisch, lächelt demütig und fragt:
»Wo lebt denn der Graf, Euer Herr? Mir träumte heute Nacht, er sei krank.«
Der Kerkermeister sieht ihn an und überlegt einen Augenblick. Dann sagt er:
»Der Graf liegt krank zu Randers.«
Verstohlen betrachtet er Ottos Augen, ob sie Freude ausdrücken. Dann fügt er schadenfroh hinzu:
»Aber heute kam Botschaft hierher, daß er wieder wohl sei. Und nun wird er die aufsässigen Jütländer, die ihn nicht leiden können, züchtigen. Das freut Euch wohl für meinen Herrn?«
Dann schlägt er die Klappe zu und grunzt in den Bart über seinen Witz.
»Endlich! – Gott sei gelobt!
In Randers? – Da ist der Fjord – und der Fluß – die Kirche – nein, nicht da – beim östlichen Graben – ja da – in dem neuen steinernen Haus – in Mogen Munks großem Haus – da an der Ecke der Storestraße – ja da – ein anderer Ort genügt nicht für den vornehmen Grafen.
Hier hinter der dicken Mauer mit den hohen Fenstern – da hält er seinen Rat. O – laß mich sehen – ungefähr in gerader nördlicher Richtung –«
Otto stellt sich auf, das Gesicht gegen Randers gewendet. Aber er kann nicht ruhig stehen bleiben. Das Blut hämmert in seinen Adern, daß sein ganzer schwacher Körper bebt. Es treibt ihn hin und her in der Zelle, die nun ganz dunkel ist. Droben hinter dem Guckloch schaut ein klares, bleiches Stück Himmel herein – die Wolken sind verschwunden – hier ein Stern und dort einer –
Der fahle, seltsame Schein dort ganz am Rande – er greift nach dem Herzen – ja, das ist Saturn.
»So bist du doch endlich bis zu meiner Zelle gekommen – und jetzt, wo ich den Weg weiß, wo ihn mein Wille finden kann. Ist es ein Zeichen? – Willst du mir jetzt dienen? Nun kann ich dich gebrauchen! Du, der das Böse über alle Seelen ausgießt – nimm du meinen Fluch auf deinen Strahl und schleudre ihn auf sein Haupt, während er schläft!«
Er wirft sich vor dem Stern nieder und betet mit emporgehobenen Händen:
»Schlage ihn mit deiner schleichenden Krankheit!«
Er wendet sich nach Norden gegen Randers, wirft sich mit vorgestreckten Armen auf den Boden und fleht um den Tod für den bösen Grafen.
Sein Tod allein kann ihm Freiheit bringen und sein Land retten.
Lange betet er; er schleppt sich auf den Knien bis zum Bett hin und betet weiter, bis ihm ist, als schwebe er frei in der Luft. Er fühlt seine Glieder nicht mehr – fühlt nur die Gedanken und das Gebet in seinem Gehirn.
Die Nacht bricht an. Große Schatten liegen stumm und schwarz auf den Wänden, aber in ihren Falten bewegt es sich wie der Widerschein ferner Feuersglut, und Otto sieht durch die Wände hindurch über das ganze Land hin.
Undeutlich erblickt er die Stadttore von Randers in der Dunkelheit und die Brücke über den Fluß. Seine Gedanken schweifen umher wie geblendete Vögel, wie Fledermäuse, die sich mit den Flügeln vorwärts tasten. Er sieht sie alle vor sich – die Männer, die neben ihm standen in der Schlacht – und er spricht mit ihnen – und ermahnt sie mit seinem Blick. Aber sie schütteln den Kopf – Anders Frost und Paul Glob und Jens Bruun und Iver Urne und Jörgen Munk und alle, alle. »Wie sollen wir ihn töten – mitten unter seinen Mannen?« scheinen sie zu sagen.
Er streckt ihnen flehend die Arme entgegen – und siehe, nun tritt einer hinter den andern hervor – der eine – es ist Niels Ebbesen – groß und stark, mit dem nachdenklichen Blick unter den geraden Brauen.
Otto starrt ihn an, durch Mauern und Wände hindurch.
Sieh – nun tritt er näher – sieh, er kommt ihm entgegen – durch den Strahl seines Auges wird er herbeigezogen.
»Seid willkommen, Niels Ebbesen, mein lieber Genosse!« er streckt die Arme nach ihm aus – »und weißt du wohl, daß der Graf in Randers in Jörgen Munks großem steinernen Haus krank liegt?«
Und siehe – er nickt, und er erkennt Ottos Willen aus dessen Augen. Aber Otto wagt nicht zu sprechen. Niels Ebbesen verlangt die Worte mit seinem Blick, aber Otto kann nicht sprechen.
Da beugt er sich vor, zieht leise das Brett aus der Tiefe des Bettes heraus – er zeigt es Niels Ebbesen, reicht es ihm als ein Schwert und deutet auf den Bettpfosten, wo der Kopf des Grafen steht mit seinen stechenden Augen über dem harten Mund. –
Wieder umfängt ihn dunkle Nacht. Niels Ebbesen ist nicht mehr da. Otto ist eingeschlummert, aber der Schweiß rollt ihm über die Wangen und den Hals hinab, und seine heißen, zitternden Hände sind fest ineinander gepreßt.
Lange liegt er zwischen Schlaf und Schlummer. Aber er merkt nicht, daß er auf seinem Lager liegt. Die ganze Kraft seiner Seele ist weit weg an einem fernen Ort – in der einzig rechten Richtung – vor den Toren von Randers dort im Dunkel.
Es klopft an die Tür –
Mit Schwerterklang –
»Öffnet, Herr Graf!«
»Wer da?«
»Nachricht von Eurem Sohn!«
»Ist es Henriks Bote, dann trefft mich bei der Messe um acht Uhr in der Kirche.«
»Gute Botschaft, Herr Graf! – Kolding hat er genommen, und Ribe hat er abgebrannt – und am Galgen hängt jener freche Ritter Niels Ebbesen.«
Nun fliegt die Tür auf. Da steht er – dort – hoch und stark, ein graues Hemd über dem Panzer, das Schwert in der Rechten.
Sieh – da faßt er den Grafen, der sich im Bette aufrichtet, an dem schwarzen Gelock.
Otto greift nach dem Knauf des Bettpfostens.
»Nun halte ich seinen Kopf – und das Schwert habe ich auch, und – hui – da kracht der böse Hals!
Wirf den Kopf weg, Niels – wirf den Kopf weg! Sieh, wie er starrt mit seinen schwarzen, stechenden Augen – – Herr Jesus Christus – nun fällt die Mauer über mich –«
Otto liegt in Krämpfen am Boden. Die Latte seines Bettes hat er in der Hand und schlägt mit Armen und Beinen um sich.
Die Maus, seine treue Gefährtin, die auf der Schale mit dem Abendbrot sitzt, wird in der Dunkelheit von einem Schlag getroffen; sie pfeift laut und kann sich kaum noch nach ihrem Loch schleppen.
Der Morgen graut durch die Luke.
Schritte ertönen und Schlüssel rasseln, – die Klappe geht auf vor dem graubärtigen Gesicht unter der Kapuze.
Wo ist der Gefangene?
Da auf dem Boden.
Was ist geschehen? – Der Schaum steht ihm vor dem Mund, und sieh, wie seine Glieder zucken! – flach am Boden liegt er – und –
»Heilige Jungfrau!«
Die Klappe wird heftig zugeschlagen. Der Kerkermeister fährt zurück – denn eben vorhin sah er den bösen Geist in den Kamin hineinfahren, in Gestalt eines Mäuschens, das dem Gefangenen durch die Finger schlüpfte.
Er bekreuzt sich vielemal – und betet ein Ave. Dann geht er zum Schloßvogt, um Bericht zu erstatten.
*
Da liegt er auf dem Bett, die spitzigen Knie unter der Bettdecke hinaufgezogen und die wachsgelben Hände verschränkt unter dem Kopf, der ihn schmerzt und ihm weh tut, als ob sich ein Rad darin immer im Kreise herumdrehte.
Seine großen Augen stehen über den eingefallenen Wangen hervor und starren nach der Decke, wo alte Spinnwebschleier herunterhängen wie mit Flor umwundene Trauerfahnen unter einem Kirchenbogen.
Er starrt nach der Spinne dort in der Ecke. Stunde um Stunde, Tag für Tag hat er das neue Gewebe beobachtet, hat zugesehen, wie es gewachsen ist, wie es sich gerundet hat und wie es von Mauer zu Mauer gespannt wurde.
»Was ist mit mir geschehen?« fragte er die fleißige Weberin. Aber nie gibt sie ihm Antwort, und doch hat sie wahrscheinlich alles gesehen.
Er wendet das Gesicht langsam ab und schaut auf den Boden, wo die Schale mit Brot und Bier steht, so daß er sie mit der Hand erreichen kann. Aber die Maus ist nicht mehr da; auch sie hat ihn verlassen.
Immer wieder kommt es ihm vor, als liege er noch in seiner Zelle in Paris – an jenem Morgen, als Bruder Galfreds Gesicht mit den vollen Augen sich über ihn beugte und mit lauter Stimme betete: Te deum laudamus!
Ist es ein Fiebertraum, der ihn im Wachen verfolgt – oder hat der Graubart unter der Kapuze ihm in der Tat die Worte gesagt, die er beständig hört: Der Graf liegt krank in Randers?
Ist es ein Fiebertraum, daß er jenen bösen Stern Saturn über der Luke sah und ihn bat, den Grafen zu treffen?
Es kommt ihm vor, als habe Niels Ebbesen in der Nacht vor seinem Bett gestanden – hier hatte er gestanden und ihn mit seinem nachdenklichen Blick angeschaut.
Und was dann? – Was noch weiter?
Es wird leer und dunkel in seiner Erinnerung, als wäre da ein großes, großes Loch. Aus dem Loch taucht der Graubart unter der weit ins Gesicht hereingezogenen Kapuze auf, und andere Gestalten, die er nicht kennt, standen daneben. Sie flüsterten und sprachen, aber er verstand nicht, was sie sagten.
Als er wieder erwachte, war er so allein wie noch nie. Er hatte keine Tränen mehr – keine Gedanken – nur einen bebenden Schrecken vor etwas grauenvoll Dunklem, in dem er sich nicht zurecht finden kann.
»Was ist mit mir geschehen?«
Der Graubart unter der Kapuze steht nicht mehr an der Klappe. Er tritt nun ganz in die Zelle herein und stellt das Essen neben das Bett. Er – Otto – ist also krank. Aber der Alte gibt ihm keine Antwort, wenn der Gefangene mit ihm spricht, um über sich selbst ein wenig Auskunft zu erhalten. Er sieht ihn nur an mit seinem mißtrauischen Blick und hütet sich wohl, ihn anzurühren.
Nun schickt Otto ein Gebet zur Decke empor – ganz dort oben muß sich doch irgendwo der Himmel wölben!
»Herr, laß mich sterben!«
Einmal ums andre gehen die Speisen unberührt in die Hand des Kerkermeisters zurück. Wenn er nicht ißt, wird doch wohl schließlich das Leben zerrinnen. Dann wird er doch endlich von dem bösen Leben befreit, das Gott ihm zugeteilt hat – in seiner Gnade – in seinem Zorn – warum?
Und die Gebete – die vielen, die Strich für Strich dort hinten unter dem Guckloch in die Mauer geritzt sind – er betet sie nicht mehr. Er hat keine Kraft dazu, keinen Willen. Sie haben nicht gewirkt. Vielleicht hat jener böse Stern, den ihn Raimund fürchten lehrte, die Flüche seiner Gebete auf ihn selbst zurückgewendet.
Er schließt die Augen und sinkt in eine Art Schlummer; aber das Rad in seinem Kopf dreht sich rund und rund herum, so daß es in seinen Händen zuckt, die die Schläfen zusammenpressen.
*
Die Klappe an der Tür öffnet sich lautlos.
Vier Augen schauen in die Zelle – zwei junge, kluge, kalte und zwei dunkle, durchdringende Augen.
Der braune Bart und die spitzigen Knie und die wachsgelben Hände dort auf dem elenden Lager – sind es wirklich die seinigen – die Ottos, meines Bruders?
Hart hat er ihn gebettet, der böse Geist, denken die dunklen Augen, nun gleicht er seinem Vater.
Und Bischof Svend von Aarhus erinnert sich an alte Tage, wo er der einzige Freund Christoffers von Dänemark war. Der letzte Zweifel verschwindet aus seinem Herzen.
Er, der da liegt, ist vom Tode gezeichnet, und von dem, den man nicht zu nennen wagt; er kann nicht König von Dänemark werden.
Nun wählt der Bischof die jungen klugen Augen an seiner Seite, – sie, die er am Hofe des Markgrafen beobachtet hat – um das zerrissene Reich zu überschauen und es wieder zusammenzufügen.
Als Otto die Augen aufschlägt, ruhen die vier Augen auf ihm.
Langsam sucht er diese Augen in seiner Erinnerung. Dann streckt er ihnen lächelnd die Hand entgegen.
»Waldemar, mein Bruder!« sagt er. Dann betrachtet er nachdenklich die durchdringenden Augen des Bischofs und dessen kräftige Schultern – er kennt sie nicht.
»Bischof Svend von Aarhus«, sagt Waldemar und ergreift Ottos Hand.
Da geht es jetzt wohl dem Ende zu, weil diese an sein Bett gekommen sind.
»Der Graf ist tot«, sagt Waldemar.
Und nun erzählt er Otto, was vor zehn Tagen geschehen ist, in der dunklen Nacht zwischen dem ersten und zweiten April, innerhalb der Tore von Randers.
Es dämmert aus dem Dunkel hervor. Nun sieht er es – nun weiß er es –
Dann hat also der Herr sein Gebet doch erhört – und Niels Ebbesen, sein lieber Geselle, war zu dem schweren Werk erwählt worden.
Die Mauern weichen zurück; die Luft strömt stark und frei zu ihm herein, so daß er schwer atmet. Seine Brust hebt sich, und er streckt die Arme aus, dem Leben entgegen. Kommen sie nun zu ihm mit der Freiheit? – Wird er wieder grüne Wiesen und das hohe, klare Himmelsgewölbe sehen?
»Herr Jesus Christus, ich danke dir!«
Er fällt zurück auf sein Lager, Schluchzen erschüttert seinen schwachen Körper.
»Wir kommen mit der Freiheit zu dir,« sagt Waldemar, »wenn du die Bedingungen annehmen willst, die der junge Graf stellt.«
Bedingungen? Welche Bedingung wird er nicht annehmen – wenn er nur wieder Licht sehen und Freiheit atmen darf!
Waldemar zieht einen Brief aus der Tasche und sagt:
»Dies mußt du mit deinem Namen unterschreiben. Hierin gelobst und schwörst du, der Krone zu entsagen.«
Langsam wendete sich Otto nach ihm um.
»Und wer soll an meine Stelle treten?«
»Waldemar, Euer Bruder«, sagt der Bischof, und indem er seine durchdringenden Augen wieder auf Otto heftet, ergreift er zum erstenmal dessen Hand.
Otto schaut in die kalten, klugen Augen, die einen Augenblick vor ihm zurückweichen. Er sieht sie an, um darin zu lesen, welche Gedanken und welcher Wille sich dahinter bewegen.
»Meine Freiheit soll ich mir erkaufen um mein Recht und meine Bestimmung? – Ist das dein eigener Wille?«
Waldemar gibt keine Antwort. Aber nun sagt der Bischof die harten Worte, die gesagt werden müssen.
»Wißt Ihr wohl selbst, was mit Euch vorgegangen ist?«
Und er heftet seine dunklen, scharfen Augen forschend auf Otto, ob er wohl ertragen könne, es zu hören.
Einen Augenblick zögert er. Dann berichtet er ihm von dem bösen Geist, den man in Gestalt eines kleinen schwarzen Tieres aus seinem Körper herausfahren sah, während er, den Schaum vor dem Mund, in heftigen Krämpfen um sich schlug.
»Hüte dich vor den schwarzen, hastigen Tieren!« hatte Raimund gesagt; »und wenn du sie fassest, dann halte sie fest.«
Die kleine Maus – sie also war von dem Fürsten des Bösen selbst ausgesandt gewesen? Seit jenem Tag ist sie nicht mehr in seiner Zelle erschienen. Haben die Männer, die er nicht kannte, sie aus seiner Nähe gebannt durch Beschwörung? Wie ein Freund war sie zu ihm gekommen in seine Einsamkeit und hatte von seiner Speise genippt, auf seine Worte gelauscht und seine Gedanken kennen gelernt.
»Hätte man nur die Maus fangen können, und wäre sie ins Feuer geworfen worden, dann wäret Ihr sicherlich gerettet gewesen. Aber nun kann sie zurückkehren und Euch aufs neue besessen machen, an welchem Tag und zu welcher Stunde sie will. Antwortet mir aufrichtig – habt Ihr früher nie ihre Krallen an Eurem Körper gefühlt?«
Otto denkt an Sara und Asmodäus. Ja, das ist es, was ihm aufs neue widerfahren ist, obgleich er Galfreds Skapulier auf dem bloßen Leib über Rücken und Brust trägt.
Nun sieht er es – nun weiß er es. Er wendet das Gesicht ab vor den scharfen Augen und wünscht sich den Tod. Aber er will es nicht sagen – er kann das von Paris nicht sagen.
Da beugt sich Waldemar über das Bett und sagt:
»Höre nun, Otto, und verstehe mich recht. Ich will dir etwas sagen, und der Bischof ist mein Zeuge. In deinem Namen will ich König sein, und an dem Tag, wo deine Seele und dein Körper wieder gesund sind, gebe ich dir die Krone zurück. Ist es nicht besser für dich, besser für Dänemark und für uns alle, wenn ich während deiner Not der Vorstand des Reiches bin, als daß die Söhne des Grafen dir Macht und Namen rauben?«
Der Ruf kam zu mir auf der Loheide. Gott wollte es so. Mein Leben habe ich seither danach eingerichtet, und nun soll nichts daraus werden. Aber wer von dem Bösen besessen ist, kann nicht König sein.
Er richtet sich auf.
»Wenn du und der Bischof mir schwöret – hier – wie ich vor Gottes Angesicht daliege, daß ihr keinem Menschen verraten wollet, was mir Böses widerfahren ist – außer dem, daß ich krank sei – und daß du das Reich in meinem Namen regierest, bis ich wieder gesund bin – dann werde ich meinen Namen unter den Brief setzen und meine Freiheit erkaufen. Aber den Königsnamen will ich tragen, und Herzog von Estland will ich heißen, denn das ist mein Erblehn. Und dann mußt du mir schwören, daß du dich an deinen dem Vater geschworenen Eid erinnern willst. Die Pfänder mußt du lösen, und nicht einen Streifen des alten Landes darfst du aufs neue versetzen. Und noch eins; Niels Ebbesen und seine Leute, die die Tat vollführten – sie sollst du aus aller deiner Kraft vor der Rache der jungen Grafen schützen. Willst du mir das versprechen?«
»Ich verspreche es«, sagt Waldemar und hebt die Hand zum Schwur.
»Amen!« sagt der Bischof.
»Nehmt mich mit Euch, weg von hier!« bittet Otto und richtet sich auf.
»Wir können nicht«, sagt Waldemar zurücktretend. »Wir reisen nach Spandau zum Markgrafen. Dorthin haben wir die jungen Grafen zur Vereinbarung berufen. Wenn der Brief in ihrer Hand und der Frieden besiegelt ist – erst dann kannst du in Freiheit gesetzt werden.«
»Nehmt mich mit!« fleht Otto und streckt die Arme nach ihm aus.
»Wir dürfen nicht«, sagt der Bischof. »Mit einem Eid auf die Sakramente haben wir es beschworen. Unbewaffnet und ohne Gefolge mußten wir hierherreisen.«
Dann breitet der Bischof den Brief auf dem Bett aus. Feder und Tinte hat er bei sich.
Und nun entsagt Otto durch seine Unterschrift der Krone – seinem Recht und seiner Bestimmung.
Aber Waldemar streicht sich die weißen Hände und wendet sich gegen die Wand mit seinen kalten, klugen Augen und mit seinem ruhig geschlossenen Mund.