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Dreizehntes Kapitel
Käthe kleidete sich am andern Morgen sehr langsam an und stand eine lange Zeit am Spiegel, ehe sie sich überhaupt entschließen konnte, nach dem Frühstückszimmer hinunter zu gehen. Der Grund hierzu war nicht etwa, daß sie Sorgen in betreff ihrer Toilette hatte, sondern vielmehr den Wunsch, die schlimme Stunde einer abermaligen Zusammenkunft so lange wie möglich, wenn nicht für immer, hinauszuschieben. Die Glocke hatte schon zum zweitenmale geschellt. Da erst veranlaßte sie eine plötzliche Erinnerung, sich neuerdings nach dem Toilettentisch herumzudrehen.
Am Abend vorher hatte sie am Halse eine dünne zierliche Kette getragen, an der ein kleines gotisches Kreuz aus Onyx und Gold gehangen hatte – und plötzlich schoß es ihr in den Sinn, daß sie es beim Ankleiden nicht gesehen hatte. Sie konnte sich nicht besinnen, daß sie es abgelegt hatte, und auf dem Toilettenständer lag es doch gewiß nicht. Vielleicht war es auf den Boden gefallen. Sie bückte sich und sah darnach, ohne daß es ihr etwas half: das Kreuz war nicht zu finden. Ihre Großmutter hatte es ihr an dem Tage geschenkt, als sie mit Mrs. Montgomery fortgereist war, und hatte ihr gesagt, daß es ihrer verstorbenen Mutter von ihrem Vater zum Andenken gegeben worden sei. Sie hatte es damals in Newport oft getragen und Karl Seymour einstmals die Geschichte, die sich daran knüpfte, erzählt. Er hatte sie bei diesem Anlaß gefragt, ob das treue Herz der Mutter sich auf die Tochter vererbt hätte.
Vielleicht war es, als sie gestürzt war, aufgegangen und auf die Treppe gefallen – und vielleicht hatte er es aufgehoben!? Das war die einzige Möglichkeit, wie sie sich die Abwesenheit des Kreuzes erklären konnte, und der Gedanke, durch eine Nachfrage bei ihm den Vorgang ihm in die Erinnerung zurückzurufen, wollte ihr gar nicht gefallen. Wenn er es gesehen hatte, dann stand es außer Frage, daß er es ihr auch, ohne daß sie darnach fragte, zurückerstatten würde.
Sie gab die weitere Nachforschung als nutzlos auf und ging in die Kinderstube hinunter, um nach Klara und Johny zu sehen, die auf sie warteten, um mit ihr nach dem Frühstückszimmer zu gehen.
Tante Dorcas, die über das Baby gebeugt stand, blickte nicht ohne Sorge auf, als sie eintrat. Das Baby lag noch immer still da, sein Gesichtchen war von tiefer Röte überhaucht, die, wie Käthe wußte, von Mrs. Armadale mit ganz besonderer Furcht überwacht wurde, und ein nervöses Zucken zerriß ihr das Herz, als sie die dunklen Ringe um seine Augen bemerkte und den schweren Schlaf, in den es versunken zu sein schien.
»Ist's mit dem Kinde schlimmer geworden?« fragte sie rasch. »Wie ist denn sein Schlaf gewesen, Tante Dorcas?«
»Ganz schlecht, schrecklich schlecht, Miß Käthe. Ist eingeschlafen erst jetzt seit gestern zwölf Uhr die Nacht, und vielleicht es ihm wird davon besser. Schlaf mächtig weil gut thun bei Kindern.«
Mrs. Armadale hatte ganz gewiß niemals eine besorgtere, ängstlichere Miene gezeigt als jetzt von ihrer Gouvernante gezeigt wurde, während sie sich über das kleine Wesen beugte und seine heiße Wange mit ihrem weißen Zeigefinger berührte. Es war genau die Weise, wie die hübsche Barbara auszusehen pflegte, und auch in ihren milden Augen kam ganz die gedankenvolle Fürsorge zum Ausdruck, welche einen eigentümlichen Reiz des jungen Hausmütterchens auszumachen pflegte.
»Nun,« sagte sie, den Kopf erhebend, »zum Frühstück muß ich mich jetzt hinunter begeben – wenn es aber mit dem Baby nicht bald besser wird, werde ich nach dem Arzte schicken.«
Sie ließ die Kinder vor sich her nach dem Wohnzimmer gehen und plauderte vergnügt mit ihnen; trotz allem fand sie es aber nichts weniger als leicht, ihren Gutenmorgen zu sagen. Ihr Gesicht zeigte, aller ihrer Anstrengung, sich zu beherrschen, ungeachtet, eine tiefe Röte, und ihre Hand zitterte thatsächlich, während sie die erste Tasse voll Kaffee goß. Eine Zeit lang hatten Karl und sie die Rollen gewechselt, denn wenngleich er um einen Schatten blässer war als sonst, so war er doch ganz ruhig und Herr seiner selbst.
»Wir dürfen heute einen Brief von Barbara erwarten, vermute ich,« sagte er mit schwachem Lächeln. »Wenn sie fort von zu Hause ist, dann bin ich wohl oder übel immer gezwungen, Bulletins aus der Kinderstube zu veröffentlichen, wenn ich nicht will, daß sie, bis Alf sie wieder nach Hause schafft, zum Gerippe abmagern soll.«
Käthe konnte nicht umhin, sich ihm für sein ungezwungenes Benehmen zu Dank verpflichtet zu fühlen. Aber er konnte sich's auch gestatten, die Dinge mit Ungezwungenheit zu behandeln. Er war's ja nicht gewesen, der ihr in die Arme gesunken war, und ihre Wangen erhitzten sich um verschiedene Grade stärker als vordem.
»Ich fürchte, daß das Bulletin von heute nicht sehr befriedigend lauten dürfte,« sagte sie, mit ihrem Löffel tändelnd; »Baby ist heute Morgen nicht munter.« Und ehe sie ihren Satz zu Ende gesprochen, da gewahrte sie wiederum, daß ihr die Röte zu Gesicht stieg, denn er lächelte wieder. Wenn er sich auf »die Circe« von Newport besann mit ihrer langen Schleppe und auf den Kranz von Berühmtheiten, der sich um sie scharte, und auf das Schmetterlingsleben, das sie damals geführt hatte, da bedünkte es ihn so seltsam, sie dort sitzen zu sehen in ihrem züchtigen Kleide und mit dem in der einfachen Schulzimmertracht zusammengeknoteten hellbraunen Haarzopf. Eine neue Stellung ganz gewiß für »die Circe«, diese Stellung der Kindermuhme, tröstenden Pflegerin und stellvertretenden Mama.
Er wäre, meinte er zu ihr, sehr betrübt, dergleichen zu vernehmen. Sie dürfte sich deshalb nicht erschrecken lassen; wenn sie es aber für notwendig hielte, dann wollte er auf der Stelle nach dem Hausarzte schicken.
»Ich danke Ihnen bestens,« gab sie zur Antwort, »bis heute Abend werde ich warten. Wenn ich dann noch Ursache zu Sorgen zu haben meine, werde ich es Ihnen sagen lassen.«
Sie war froh, als das Essen vorbei war und sie vom Tische aufstehen konnte.
Aber ehe sie das Zimmer verließ, kam ein Dienstmädchen herein, um den Tisch abzuräumen, und diesen Augenblick meinte Käthe für die beste Gelegenheit halten zu sollen, um die Rede auf ihr verlorenes Kleinod zu bringen. Sie that es demzufolge auch.
»Gestern Abend,« setzte sie hinzu, das Wort an das Dienstmädchen richtend, »hatte ich es noch. Ich dürfte es auf der Treppe verloren haben.«
Aber das Mädchen hatte das Kreuz nicht gesehen und Karl Seymour sprach kein Wort; bloß als sie das erste Wort darüber sagte, da hatte Käthe die Beobachtung gemacht, daß er die Augen von dem Zeitungsblatte aufschlug, das er las. Sie erlangte indes keine Auskunft, und mußte sich demzufolge darein fügen, die Treppe wieder hinauf zu steigen und das Kreuzchen seinem Schicksale zu überlassen.
Was für ein verschlafener Tag doch dieser Tag war! Der Himmel war verschlafen, das Haus war verschlafen, die Kinder waren verschlafen, und Käthe selbst war die Beute eines förmlichen Anfalls von Hysterie. Der Unterricht nahm auch keinen rechten Fortgang. Johny litt an Kopfschmerz und das arme kleine Klärchen sah ganz blaß aus. Ehe der Vormittag noch halb verstrichen war, klappte Käthe die Bücher zu.
»Wir wollen heute nichts weiter mehr vornehmen, Kinder,« sagte sie. »Wir müssen uns jetzt mit Deinem Kopfweh befassen, Johny; vielleicht thäten wir auch klüger, uns nach dem Baby umzusehen.«
Daß Johny klagte, kam nicht häufig vor, denn er war ein wunderbar geduldiges Kind; heute aber schien ihm seine gewöhnliche Ruhe abhanden gekommen zu sein, und sobald er den Fuß in die Kinderstube gesetzt hatte, fing er an zu weinen.
Heute vorm Jahre würde Käthe ihn der Fürsorge seiner Wärterin überlassen haben und nach dem Wohnzimmer hinunter gegangen sein mit einer ladyhaften Empfindung von Belästigung und Verdruß; jetzt aber schien Barbaras Verantwortlichkeit auf ihre Schultern gefallen zu sein, und sie überbot sich förmlich in Trostesworten, nahm Johny auf die Kniee und erzählte ihm eine von den Geschichten, die sie immer bei der Hand hatte: sie sang ihm ein Liedchen vor; sie baute ihm ein Rindenhaus auf dem Herde und erzählte ihm ernst die Geschichte von seinen mutmaßlichen Insassen. Aber wenn auch die Thränen zu fließen aufhörten, so war doch Johny nicht derselbe. Er ließ sich nicht zum Lachen bringen, selbst nicht durch die Abenteuer des Riesentöters Jack. Er saß bloß still und ruhig da und lauschte, ließ den Kopf auf der Hand ruhen, während ihm hier und da die Augenlider schwer niedersanken. Käthe empfand, während sie ihn im Auge behielt, ernstliche Unruhe und zuletzt thatsächliche Furcht; denn als sie mit ihrem Erzählen zu Ende war, verfiel er, auf ihrem Arme ruhend, in einen tiefen, unnatürlichen Schlaf. Sie legte seine Hand an seine Wange und fand, daß sie vor Hitze förmlich brannte, und auf der Haut war dieselbe scharlachrote Farbe, die sie an dem Baby beunruhigt hatte.
»Tante Dorcas,« sagte sie ruhig – »ich will hinunter gehen und mit Mr. Seymour sprechen, daß er nach dem Arzt schickt. Ich fürchte, die Kinder werden uns krank.«
In der Art, wie sie die Thüre hinter sich schloß, als sie aus dem Zimmer trat, kam ein gewisser Grad von Entschiedenheit zum Ausdruck. Sie dachte bei sich, wie oft nun wohl noch das Schicksal sie nötigen würde, sich Karl Seymour in den Weg zu stellen.
»Von der Bettlerin zur reichen Erbin – und von der reichen Erbin zur Bettlerin!« sagte sie mit einem Schatten von Bitterkeit. »Und nun bin ich Herrin eines Familienhaushalts und Krankenpflegerin in spe. Was wird denn als nächstes nun kommen?«
Und dann klopfte sie an die Thür des Ateliers, und eine Stimme antwortete mit lautem »Herein«.
Seit Vormittag hatte sich Karl in seinem Zimmer eingeschlossen und angestrengt gearbeitet. Die Thür ging auf, und seine Verwunderung war nicht gering, als er der schlanken Gestalt der ernst dreinschauenden jungen Dame im schwarzen Kleide ansichtig wurde, die ruhig und gemessen auf der Schwelle stand und mit der einen ihrer zarten, vornehmen Hände die Thürklinke hielt.
»Ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie störe,« sagte sie ernst – »aber ich habe gemeint, Ihnen sagen zu müssen, daß Johny nicht gesund und es mit dem Baby nicht besser geworden ist. Ich möchte bitten, den Arzt holen zu lassen.«
Jedenfalls hatte sie sich, indem sie diese auswendig gelernten Worte hersagte, nichts vergeben, denn die purpurn-irisierten Augen begegneten seinem Blicke, ohne daß eine einzige ihrer Wimpern zuckte.
Er stand sogleich von seinem Stuhl auf.
»Ich will selbst zu Dr. Chaloner gehen,« sagte er. »Es schmerzt mich sehr, solche Worte zu hören. Meine Schwester wird sich unsagbar ängstigen. Kann ich auf meinem Ausgange vielleicht für Sie persönlich etwas besorgen, Miß Davenant?«
»Nichts,« sagte sie mit einer höflichen, kalten Verbeugung und nach ein paar weiteren Worten des Anstands verließ sie ihn ganz ruhig, ebenso ruhig, wie sie gekommen war.
»Was für eine Lage!« sprach sie in sich, im Hause eine kurze Weile stehen bleibend. »Bliebe ich nicht um der Kinder willen da, so würde ich morgen das Haus verlassen.«