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Eine stille Zeit verfloß, drei, vier Jahre. Auf dem Uhrenmichelshof gerieten die Dinge wohl, man schaffte sein Tagwerk, kam vorwärts, rodete und pflegte die Scholle, Vieh und Haus. Die Stille war so groß und so wenig gestört von Außergewöhnlichem, daß man hätte sagen können, eine große, schöne, genau gebaute Schwarzwälder Uhr laufe ohne Fehler, ohne hinkenden Pendelschlag, ohne harten Klang und ohne leise knarrenden Gang in ewigem Frieden. Für träge Herzen sieht so das Glück aus. Aber Agathe kam jetzt in die Frauenjahre, die voller Unruhe sind. Sie stand in der Kühle und fühlte sich plötzlich von hinten her mit rascher Hitze überfallen, die fast den Atem erstickte. Oder sie ging in der Sonne, und die Schultern bebten in heimtückischem Frösteln. Oder sie mußte ob dummen Sachen unbändig lachen, über die andere kaum den Mund krumm zogen. Oder sie weinte aus dem ruhigen Gleichmaß einer Stunde heraus, als sei unnennbares Leid über sie gekommen. Heute putzte sie sich, und morgen ließ sie das Nötigste sein, 158 heute war ihr alles recht und morgen alles schlecht, was jemand schaffte. Sie quälte Stoffel oft mit ihren Launen, mehr noch den Markus. Der stand jetzt im äußerlich rauhen und innerlich doch so empfindlichen Knabenwesen, wo alles in der Umwelt doppelt rätselvoll und angefüllt mit mächtigen Träumen und Abenteuern ist. Da ergriff ihn zuweilen die Mutter und küßte ihn heftig ins Gesicht. Und ein andermal zerschlug sie ein Lattenstück auf seinem Rücken, für welchen Streich ahnte er nicht.
Vor allem machte sie dem Vater das Leben zur Hölle.
Markus hütete mit einem Hirten das Vieh, sonst kroch er im Wald herum, belauschte die Tiere, Hasen, Füchse, Kaninchen und Rehe, und sein sehnlichster Wunsch war eine Flinte.
Stoffel verlernte schier das Reden. Das Weib mochte schelten oder aufgeregte Geschichten erzählen, er gab kein Wort dagegen. Er schaffte und schwieg. Er schien fast so still wie ehedem, da er noch Knecht war. Er dachte über viele Dinge nach, über Gott und Ewigkeit, über den Sinn des Todes und die Wunder der Auferstehung. Und zuweilen kam er an seine Vogtszeit und spann sie weiter, er würde das und das durchgesetzt haben mit einsichtigen Räten. So schweigsam er nach außen war, so eifrig stand er sich im Innern Rede und Antwort. Er blieb sogar bisweilen beim Eggen und Pflügen stehen, hielt halblaute Selbstgespräche und bewegte die Hände.
Alle Uhrenmichelshofer wurden wunderlich. Sie hatten daher großen Wechsel im Gesinde. Die alte Christine war tot. Peter, der Knecht, hatte eine Kleinbäuerin geheiratet in Buchenbronn, und der Laublefritz ging auf Tagelohn in die Wälder, weil er so besser raufen, saufen und auch heimlich jagen konnte. Er war nicht mehr auf dem Hof zu brauchen gewesen. Junge Mägde blieben nicht lange. Der Bauer war ihnen zu still und die Frau zu zänkisch.
Oft lag Agathe auch im Fieber, scharfe Röte stach in kreisrunden Flecken von den graugelben Wangen ab, und Stoffel saß dann neben ihrem Bette, lauschte auf die wirren Worte und jähen Schreie und löschte ihr den Durst, wenn sie ermattet wach lag. Einen Doktor holten sie nicht. Die Bäuerin wehrte sich dagegen, auch war oft anderntags das Fieber schon wieder von dannen, wie weggeblasen. 159
Es schlich etwas um den Michelshof. Man fühlte kalten Hauch und schweres Wehen in den stillen, schlaflosen Nächten, ja selbst an den Mittagen im heißen Sonnenglast, wenn man einsam auf dem Acker jätete oder mähte. Bisher stand alles gut, man konnte nicht klagen. Und nun geschah es, daß im Stalle des öfteren etwas letz ging. Die neumelkende Bleß, ein stattliches Jungvieh, stand plötzlich dürr und fiel vom Fleisch. Ein Wurf Ferkel verreckte, man konnte sich nicht denken warum. Auf einmal lief der Brunnen nicht mehr, weil eine tote Maus in der Röhre steckte, ein unheimliches Geschehnis; und beim ersten Schwung im Heuet brach der Sensenstiel ab, die Sense flog seltsam und hieb dem Stoffel eine Wunde ins Bein, schier bis auf den Knochen. Und wenn eines vom Michelshof, Stoffel oder Agathe, oder auch Marks, nach Buchenbronn ging, so lief ihnen jedesmal Jakob über den Weg mit unflätigem Schimpfen und nie nüchtern. Anna sah man nicht. Es hieß, sie sei eine scheue Frau geworden und schaffe rastlos auf fremden Höfen. Das Geld lege Jakob in Schnaps an.
Und der Schneider Albiez hatte ein Jahr gesessen, wegen eines Vergehens gegen die Sittlichkeit. Sein Weib Marie, das schon das fünfte Kind unterm Herzen trug, hielt derweil das Hauswesen mühsam, jedoch mutig zusammen. Als der Albiez zurückkam, soll sie ihn herzhaft gestellt haben. Seit der Zeit war er häuslicher und ruhiger, stand zwar immer noch der Sekte vor; denn sie fanden ihn nicht schuldig; aber sein alter, hinreißender Schwung beim Predigen fehlte, die heimliche Glut hinter seinen Lehrsätzen vom fröhlichen, arglosen Leben. Da bröckelte die Gemeinschaft langsam ab.
Die vom Michelshof hatten ihn nicht mehr zum Schneidern geholt. Einer von Furtwangen ging dort auf die Stör. Aber Albiez wollte schon wieder zuweg bringen, daß man ihn annahm. Er glaubte, wenn er erst dort einmal die Schwelle wieder überschritten habe, sei seine Ehre wieder hergestellt. Es war doch der einzige Hof der Gemarkungen Buchenbronn, Siehdichfür und Schiltebach, der ihm nicht offen stand! Die Marie wollte das auch haben. Sie ist wohl die vernünftigste Frau, die es weitum gibt, dachte Albiez, seit ihr Blut ausgelodert hat. Fünf Kinder, das macht zu schaffen. Freilich, ob sie sein sind, das weiß der Josua nicht gewiß; aber das drückt ihn nicht, dafür 160 wird auf manchem Zinken ein heimlicher Albiez das Vieh hüten, dünkt es ihn.
*
Eines Tages mußten Stoffel und Agathe nach Buchenbronn hinab, dort war der Jakob im Krankenhaus gestorben. Mir seinem Tod war alles Elend ausgelöscht und vergessen, in dem er zuletzt lasterhaft gelebt hatte. Die Bauern folgten seinem Sarge, als wäre der Großbauer vom Götzenhof und nicht ein Armenhäusler gestorben. Aus keinem Haus fehlte ein Geleite. Dem Stoffel wurde auch mit manchem kalten Blick gezeigt, daß man ihm nicht die Schuld abnahm am Unglück des Bruders. Anna weinte keine Träne am Grabe, sie schluchzte nicht, als die ersten Schollen fielen. Stoffel stand hinter ihr und sah, daß sie nicht einmal zitterte. Er schaute auf ihre langen, festgeflochtenen Zöpfe, deren mattes Braun in der Sonne schimmerte wie blindes Kupfer.
Stoffels Hand indes zitterte, da er nach dem Brauch drei Spaten voll Sand in die Grube warf. Anna sah auf diese zitternde Hand, die schwarzbraun gebrannt war und knorrig geschafft wie eine bloße, starke Wurzel. Da faßte sie ein grausames Weh an, und sie schrie hinaus, grell und maßlos, immer wieder, in heftigen Stößen, und wollte nicht still werden, obschon alle Weiber um sie her waren mit Trostworten und guten Versprechungen. Es blieb nichts anderes übrig, als die geistverwirrte Witwe gewaltsam aufzunehmen und in einem Wagen ins Spital zu fahren, woselbst man sie schon pflegen und beobachten würde. Stoffel tat dies; denn keiner der Männer getraute sich, Anna anzurühren und fortzutragen, weil sie sich heftig wehrte, sobald einer nahe kam. Stoffel ging mit raschen Schritten auf sie zu, lupfte sie, um die Hüften gefaßt, und trug sie, es war schier lächerlich anzusehen, an seinen Wagen. Sie ließ es geschehen, schluchzte nur noch still, da er sie ins Spital fuhr und dort den Schwestern übergab.
Als er zurückkam, war die Trauergemeinde schon in die Gaststuben getreten, und Agathe verweilte noch auf dem Kirchhof vor den Gräblein ihrer drei frühgestorbenen Kinder. Stoffel konnte sie vom Wagensitz herab gut sehen; denn die Kirchhofsmauer war nicht sehr hoch. Er rief sie leise am Mit leerem Blick wie eine Schlafwandelnde kam sie heraus und setzte sich neben 161 Stoffel. Als einzige nahen Verwandten des Jakob Götz hätten sie eigentlich in den »Adler« gehen müssen und dem Geleite einen Trunk bieten, aber Agathe wollte nicht, sie begehrte heim, das Fieber brenne sie wieder.
Da drückte ihr Stoffel die Zügel in die Hand: »So, fahr allein. Ich muß hier bleiben, es geht gegen den Brauch, wenn ich nicht hineinschaue. Ich komm zu Fuß nach.«
Agathe war zufrieden.
Wie immer war die Wirtsstube überfüllt bei solchen Anlässen, doch räumte man Stoffel einen Platz im Herrgottswinkel ein, von wo aus er seine Trauergäste leicht überblicken konnte. Man sprach von seinem Bruder, dem man jetzt gute Worte übers Grab nachsandte. Er hatte niemand ein Leid angetan als sich selber und war nun tot, hatte seine Ruhe. Wer ahnte, was an jeden, der noch lebte, kommen mochte? Es wußte keiner, wie man das Glück unberufen heben und das Unglück von der Schwelle jagen konnte. Keiner wußte das, auch der Stoffel nicht, obschon ihm alles halbwegs geraten war seither und obwohl er in seinem Blicke Macht über Mensch und Tier hatte; man sah es ja wieder vorhin, daß die schmerzensreiche Anna still wurde und willig wie ein Kind, als er auf sie zutrat. Und sie haßte ihn doch.
Stoffel zahlte manchen Schoppen und trank auch manchen. Die letzten drei gingen bestimmt über seinen Durst. Viele der Bauern und Bäuerinnen hatten sich längst auf den Weg gemacht, und nur mit etlichen Seßhaften saß Stoffel zuletzt noch um den runden Tisch im Herrgottswinkel.
Der Schneider Albiez mußte sich nachher dazugestohlen haben; denn als Stoffel noch nüchtern war, hätte er sich gewiß nicht an den Tisch getraut. Man sang eine Weile Soldatenlieder. Die fünf, sechs Männer, die standhielten, waren Großbauern aus der Umgebung, in den vierziger Jahren, kräftige Kerle und lauter ehemalige Soldaten. Zum erstenmal machten sie sich mit Stoffel einig und nahmen ihn unbesehen für ihresgleichen. Jägersprüche wurden aufgetischt, ein Stündchen Jaß gespielt, aber das ging nicht gut, weil sie nicht mehr so klar sehen und denken konnten. Zuweilen brach Schweigen in die Gesellschaft. Sie stemmten die hartgeschnitzten Wälderköpfe auf die aufgestützten Arme und stierten irgendeine belanglose Stelle an. 162
Stoffel dachte dann: »Du mußt jetzt heimgehen«, jedoch fiel es ihm nicht ein, dazu aufzustehen. Er trank weiter. Sagte einmal in das Schweigen hinein: »Ja, ja, der Jakob, jetzt hat's ihn.«
»Er hat ein schlechtes Leben gehabt«, meinte jemand.
»Was«, brauste da Stoffel auf, »schlechtes Leben? Gutes willst du wohl sagen. Ist das etwa besser: Tag und Nacht schaffen und schinden, nichts sich gönnen, weder Sonntag noch Feiertag, besser, als sich mitten im Tag an die Sonne legen und alle Viere von sich strecken, trinken, wenn man Durst, schätzeln, wenn man Lust hat, und sonst allerhand treiben, wie es grad in den Kram paßt? Der Jakob hat gut gelebt, sag ich euch, und wir sind Esel – Esel sind wir. Leben, Leben, überhaupt was heißt denn Leben? Wissen wir, alle wir da herum, was das heißt, Leben? Albiez, du vielleicht, du bist so gescheit!«
Er machte eine fahrige Armbewegung auf Albiez zu, der erschreckt zurückfuhr.
»He, Schneiderbock, wenn du keine Antwort hast für den Uhrenmichelsbauer, lupf ich dich an deinem verpesteten Hosenlatz zur Tür hinaus.«
Albiez, völlig nüchtern – Trinken war seine Leidenschaft nicht –, lächelte und sagte mit künstlicher Ruhe: »Ja, Bauer, müsset mich doch erst denken lassen. Was Leben heißt? Nun, ich meine, dem folgen, was einen treibt. Aber sehet zu, Christoffel Götz, daß Ihr es schlauer macht als ich, die Polizei ist gegen das lebendige, freie Leben, von allem darf man nicht zu viel tun: trinken, spielen und so, es heißt, wenn jeder nach dem Trieb leben würde, gäb es zuletzt lauter abgetriebene Menschen.«
Stoffel blickte Albiez starr an: »Ihr grinst so, Schneider, da lügt Ihr. Weh Euch, noch kann der Stoffel mitdenken, und er muß sagen: Dreck habt Ihr jetzt geschwätzt!«
Er wollte aufstehen, fiel aber wieder auf die Bank zurück. Die Trunkenen lachten ihn aus.
»Hoho«, schrie er, »nun weiß ich, wo ich bin: Gemeinderät! Brüder! Vogt ist Vogt!«
Die Bauern schlugen die Fäuste auf den Tisch, stampften mit den Füßen den Boden vor Lachen: »Vogt ist Vogt«, schrien sie im Chor. 163
Der Stoffel starrte sie an, kam einen Augenblick zu sich, wurde hilflos wie ein Kind. Sein Gesicht zitterte, als wolle er weinen: »Jakob, lieber Jakob, Herzbruder mein, nun bist du tot.«
»Und Ihr seid schuld, Stoffel«, schürte Albiez leise.
»Kain und Abel waren Brüder«, murmelte der Christoffel.
Die Bauern, die einen Spaß haben wollten, verboten dem Albiez dreinzureden.
»Vogt ist Vogt«, sagte der Dobeltoni, dem Michelsbauern den lustigen Trumpf wieder zuspielend. Die fremde Stimme mochte Stoffel geweckt haben, er sprang auf, mit blutunterlaufenen Augen im kalkweißen Gesicht, und stürmte hinterm Tisch vor, stand wie angewurzelt still mitten in der Wirtsstube und sagte, die schweren Arme schleudernd, den Kopf vordrängend, mit glatter, starker Stirn: »Komm einer, komm mir nur einer her, hin mach ich alle, hin.«
Im Nu fuhren die Gesellen auf, Kittel flogen heraus, fortgeschlenkert, wohin es traf, und alle standen gegen den einen, den mit der leuchtenden Locke über der Stirn.
»Man sollt ihn zeichnen, den Kain«, rief einer.
»Den Zünsler«, ein anderer.
Stoffel rammte die Beine noch fester gegen den Boden.
Die Adlerwirtin schloß alle Türen. Es sollte keiner hereinkommen können und den Krach vergrößern helfen. Sie schlich sich hinter Stoffel und sagte leise an ihm hinauf: »Bauer, macht's gnädig, sagt, es sei ein Spaß.«
Er kehrte sich rack um, packte das feste Weib an den Hüften und schwang es über den Schanktisch.
»Oha, den Weiberlupf hat er hausen«, foppte der Moosbruggersepp, der gern raufte, »heut schon zum zweitenmal. Hä, Knechtle, das battet, wenn man geschickt ist. Man kann Bauer werden dabei, die Witwen haben das gern,dieAgath' . . .«
Schon saß ihm eine Handfertige unterm Kinn. Er lag und streckte die Beine in die Luft, indes Stoffel wieder an der alten Stelle stand. Aber der Dobeltoni, sonst ein gutmütiger Mann, geriet jetzt in Hitze, denn der Gefällte war sein Vetter. Er sprang Stoffel heiß an und faßte dessen Kehle. Sie rangen, stürzten übereinander, keuchten und knurrten wie wütende Tiere. bis Stoffel sich frei geschafft hatte, und der Toni, ohne einen 164 Schnaufer zu tun, dalag. Die andern sahen, daß auch der Sieger nicht ungeschunden davongekommen war, denn Stoffel taumelte rückwärts, erreichte gerade noch die Ofenbank und brach nieder.
Albiez schlitzte zur heimlich geöffneten Tür hinaus, den Bader zu holen, der zum Glück nebendran wohnte. Die Bauern suchten ihre Kittel zusammen und befühlten darauf die drei Bewußtlosen. Sie lebten! Natürlich, so arg war die Geschichte auch nicht, meiner Seel!
Als der Bader kam, stöhnten zwei schon wieder. Stoffel wurde mit Essig gerieben und erwachte auch nach kurzer Zeit. Der Albiez bot sich an, ihn heimzubringen, die beiden andern Verletzten nahmen die Bauern in Obhut, und es ging recht hurtig, wie sie aufbrachen, wortlos, ohne Gruß die Stube verließen, die sofort in Dunkelheit fiel, und wie sie in verschiedener Richtung dann auseinandergingen, auf merkwürdig festen Füßen.
Von der Turmuhr der Buchenbronner Kirche schlug es vier, und Stoffel hatte eine gute Stunde Heimweg vor sich. Die Nachtluft nahm etwas den dumpfen Druck von seinem Hinterkopf, er beachtete auf einmal den Albiez neben sich. Was wollte denn der?
»Geht heim, Schneider«, sagte er klar, so daß Albiez erschrak. »Geht heim, ich find den Weg allein, ich brauch Euch nicht!«
Albiez folgte. Er wünschte dem Stoffel Glück auf den Weg und war froh, daß er heim konnte. Die Marie hätte schön gejuchzt, wenn er zum Melken noch nicht dagewesen wäre.
Stoffel fand seinen Weg. Die Sterne sanken schon hinunter. Die Vögel wachten schon auf und fragten leise nach der Sonne. Stoffel ging gen Osten, dort wurde es bereits hell.
»Was ist denn geschehen?« fragte Stoffel. »Wie komme ich in dieser Stunde auf diese Straße?«
Er entsann sich nicht. Vor ihm wurde es hell und heller. Der Morgen graute. Überm Ostwald stand eine lange graublaue Wolkenbank, dazwischen flackerte rötliches Gold. Wie ein schmaler Flammenreif an unendlicher Stirn legte sich die Helle an die flache Rundung der hohen Wälder. Stoffel schaute, blieb stehen, versank in Schauen. Die Sonne sprang herauf, 165 zerriß die mürben Schatten, die Vogelchöre begannen, der Wald wurde wach. Stoffels Füße wurden auf einmal leicht, er ging so leicht den Berg hinauf und war fast lustig. Er meinte fast, er habe keinen Kopf mehr, weil er den dumpfen Druck hinten überhaupt nicht mehr spürte. Alles wird gut, dachte er, alles. Er wird sich nicht beirren lassen und Trübsal blasen, er wird schaffen und fröhlich sein, lustig.
Es war noch nie vorgekommen, daß der Michelsbauer in solcher Herrgottsfrüh schon einen Fuß in die Wirtschaft setzte, nun aber kehrte er ein in der »Krone«, lachte die Wirtin an, machte derbe Mannswitze und stürzte Bier hinunter. Sonst war er jedoch ganz beieinander, man merkte nicht, daß er eine tolle Nacht hinter sich hatte. Er sang, wie er die Treppe hinunterging, auf völlig sicheren Füßen: »Ich schieß den Hirsch im wilden Forst . . .«
Er hängte den schwarzen Rock über die Achsel, weil er ihm warm machte, auch schob er den Hut ins Genick. Die blonde Locke schnellte unterm Rande vor und fiel dem Bauern in die Stirn. So sah er aus wie ein Bursch, der freien geht.
Sie lachten alle, die ihn sahen. Was mochten sie hinter ihm drein sagen, wenn sie ernsthaft über seinen befremdlichen Anblick nachdachten!
Selbst Agathe mußte ein bißchen lächeln, als er den Hof heraufgeschlendert kam. Aber kaum entdeckte Stoffel die Frau, die hinterm Milchhaus stand, rückte er den Hut vor und fuhr in den Rock. Er tat, als wäre sie nicht da, ging in die Stube und sagte kein Wort zu Markus, der vor der Kaffeeschüssel saß und erstaunt den Vater anschaute.
Hurtig warf Stoffel in der Schlafkammer das schwarze Zeug ab, zog andere Schuhe an und ging mit gelassenen Schritten, als wäre gar nichts geschehen, in den Stall. Er kam noch nicht einmal zu spät zu seiner täglichen Verrichtung. Agathe wußte kaum, was für ein Gesicht sie machen sollte. Sie beobachtete ihn heimlich und fand: Der sieht gar nicht aus, als habe er wüst getan. War er am End gar nicht in der Wirtschaft, war er am End . . . Sie ging unruhig zu ihm hin, ganz nah, sie mußte seinen Atem schmecken. Schon einmal hatte sie gemeint, er müsse getrunken haben, und es war nicht so, kurz vor der Hochzeit. Damals war er bloß herumgelaufen. Aber sein Atem riecht 166 nach Bier! Stoffel schaut sie an, wechselt die Farbe und sagt: »Gelt, wunderst dich? Ich hab' einen Rausch gehabt, sicher, und darnach weiß ich nichts mehr. Auf der Straße, plötzlich wie die Sonne aufging, bin ich ein anderer gewesen, was weiß ich wie.«
Er blickte verlegen an Agathe vorbei.
»Es stimmt was nicht mit dir, Bauer, du hast doch sicher wo geschlafen, ein Rausch hat seine Nachwehen. Irgend etwas lügst du her.«
Sie ließ ihn stehen. Nun grübelte sie nach, bei wem er gewesen sein könnte. Sie stritt mit sich gegen den Verdacht, aber immer wieder tauchten Gesichter vor ihr auf, das der Marie Albiez, dann das der Lioba (die war allzu lustig gewesen nach der Beerdigung gestern und nicht mit heimgefahren), und dann das Antlitz, das sie am tiefsten quälte, das der Witwe Jakobs.
Stoffel schaffte sein Sach, war gelassen heiter zu allen, scherzte sogar zuweilen.
*
Man erntete. Seit Wochen hatte es keinen Spritzer mehr geregnet. Durstig stand das Land und in lodernder Dürre. Keines vom Michelshof war über den Besitz hinausgekommen, weder in die Kirche noch sonstwohin in der Nachbarschaft. Ein Stückchen Wald begann zu brennen, man mußte auf der Hut sein, daß die Glut nicht weiter fraß, man schanzte und grub. Der Brand erlosch. Die Männer spürten ihre Knochen nicht mehr vor Müdigkeit. Dann ging's in der Frühe, die Sense über der Schulter, an das Korn. So vergingen fast zwei Wochen, bis Agathe zu Ohren kam, was in der Nacht nach der Leich des Jakob vorgefallen. Ein Händler erzählte es ihr lang und breit, der überall herumzog und Kleinkram feilbot. Sie konnte es kaum glauben. Nachts darauf, als sie schlaflos lag, weckte sie Stoffel und fragte ihn. Er wußte von nichts mehr etwas, keine Silbe. Der Mond erhellte die Kammer, Stoffel hockte im Bett und blickte ins Licht, Agathe sah Zug um Zug. Er mußte das alles vergessen haben, nur ganz, ganz hinten im Kopf, richtig, da dämmerte etwas; aber das Wie und Was der Geschehnisse enthüllte sich ihm nicht. Wen, sagte sie, habe er verdroschen, den Dobeltoni? Und er, Stoffel, kriegte auch Dresche? Ha, nein, das war nicht möglich! Wenn er sich nur besser hätte besinnen 167 können, aber das kribbelte in seinem Kopf wie in einem Ameisenhaufen. Der Albiez sei noch ein Stück weit mit ihm heim? Der Schneider? Ja, derselbige. Also, den mußte man aushorchen. Zu Tod geschämt hätte er sich, wenn er hätte hören müssen, er sei unterlegen. Es sei auch sonst eine Schande, von der Leiche eines Bruders weg zum Raufen zu kommen, sagte Agathe hart.
Da legte sich Stoffel in die Kissen zurück und gab keine Antwort mehr. Bauer und Bäuerin wollten nicht merken lassen, wie es sie blangerte, die heikle Sache richtig zu erfahren; sie bestellten darum beide den Schneider. Den lächerte, trotz aller Freude, die doppelte und anscheinend von jeder Seite heimlich gegebene Aufforderung, zum Nähen auf den Michelshof zu kommen. Der Schneider kam. Und das Lustigste war, daß er nun, niemand überraschend, in der Stube stand mit Sack und Pack, und der Stoffel sich bloß wunderte, weshalb Agathe nicht über den frechen Albiez schimpfte, die Bäuerin aber sich fragte, warum Stoffel kein übles Gesicht machte, als Josua sich auf den Tisch schwang und sofort das Nähzeug richtete.
Der sagte, ohne sich zu besinnen, mit den Augen blinzelnd zu beiden hin: »Nun, ist der schwarze Frack noch ganz?«
Agathe verließ die Stube, und Stoffel horchte den Schneider aus, der bald merkte, wie den Bauern das Gedächtnis im Stich gelassen hatte. Und Agathe erfuhr das Abenteuer hernach durch Albiez auch, vielleicht noch ein bissel verbrämt, der Stoffel heldenhaft darstellte und wegen seiner Kraft und Klugheit bestaunte. Agathe wurde es ganz leicht ums Herz. Schon damals im Bett, als sie ihn so barsch abgetrumpft hatte, fiel ihr ein Stein von der Brust. Um dies nicht merken zu lassen, kränkte sie den Mann.
Der Stoffel indessen lachte heimlich über die Geschichte; er mußte einfach lachen, so wenig lustig die ganze Sache eigentlich war. Nach und nach klammerten sich aber die Gedanken immer tiefer an die Frage, wieso er in so etwas Wildes sich habe einlassen können. Im Rausch tat einer manches, was dumm war, jedoch daß man nun Gelegenheit hatte, über ihn von Hof zu Hof zu sagen: Es hat ihn auch niedergerissen, er ist, scheint's, nimmer so stark wie früher, das ärgerte ihn höllisch.
Er nahm sich vor, den Albiez noch genauer auszuhorchen, 168 vorsichtig und schlau. Allzu vorsichtig war er dann doch nicht; denn Albiez sagte im Gespräch zu ihm: »Natürlich, ich weiß auch nicht mehr genau, womit ihr euch beschimpft habt. Ihr, Stoffel Götz, seid halt manchmal jäh. Tät mich in acht nehmen, nicht immer schadet die Wildheit so wenig, mein ich, wie selbigsmal, da Ihr dem Gockler in der Brandnacht den Kragen abgedreht habt oder den Schmetterling erdrücktet, was mir der Ratsschreiber erzählt hat. Man vergreift sich im Jast auch mal an einem Menschen, dann geht's bös aus.«
Von dem getöteten Hahn und dem Schmetterling wußte Stoffel nichts mehr. Seine wilden Taten vergaß er also gleich, oder hatte sie ohne Bewußtsein getan. Gewiß, das konnte einmal schlimm enden!
*
Endlich gewitterte und regnete es nach langer Trockenheit. Agathe lag wieder einmal stöhnend und gelb im Bett. Schwermut ohnegleichen trübte ihr Wesen. Sie war nur noch ein Schatten. Stoffel hatte gar nicht viel Geduld mit ihr. Er horchte selten auf ihre wirren Gespräche. Ein krankes Weib im Bauernhof zur Erntezeit ist eine Last. Gegen den Doktor wehrte sie sich, als wäre er der Tod selber. Aber Stoffel holte ihn doch. Der nahm den Fall nicht sehr ernst. Das vergeht wieder mit der Zeit, meinte er, verschrieb Tropfen und vermahnte den Bauern zur Geduld. Er solle wohl ein Auge auf die Bäuerin haben, aber sie sonst machen lassen, was sie wolle, ob sie schaffe oder feiere, er solle ihr nicht dagegen sein. In diesen Jahren verkehre es gern den Frauen das Gemüt, bei den Fallers sei ja dies Übel daheim.
Stoffel ließ sich beruhigen. Auch lenkte ihn Markus, der Sohn, ab. Es zeigte sich immer mehr, wie wenig Lust der Bursche zum Bauernhandwerk hatte, er tat mit Aberwillen, was man ihn hieß, und wenn er konnte, schlüpfte er in den Wald, stellte Vogelnetze, ließ aber die Gefangenen wieder fliegen, fing Eichhörnchen und junge Füchse, nahm sie eine Weile in seinen Besitz und gab ihnen die Freiheit wieder. Stoffel ertappte ihn auch dabei, daß er mit der Flinte davonschlich, Sonntags vor Tag. Er wollte ihn gehörig abstrafen, aber wie er dem Jungen in die Augen sah, ergriff es ihn seltsam, er wandte sich ab und ließ Markus stehen. War es nicht sein eigen 169 Gesicht, das ihn anschaute? Seine mutigen Träume und Taten, die ihm die Knabenzeit so groß und so atemlos schön gemacht hatten, die standen in den scheuen, hellen Augen wie Bilder. Das ergriff ihm Niemand hatte ihm gewehrt früher, niemand ihn auch verstanden. Er wollte Markus nicht wehren, aber mit ihm gehen und vielleicht hören, was der Bub sann und grübelte. So kam es, daß Stoffel Markus mit auf die Jagd nahm und ihn, ohne viel zu reden, das waidgerechte Jagen lehrte und dabei mit Freude merkte, wie stolz der Bub auf seinen Vater sah und wie aufgeschlossen er sprach, viel offener als Stoffel jemals.
Fast zu offen, meinte Stoffel bei sich, man trägt das Herz nicht auf der Zungenspitze, das mag der Bauer nicht. Und Stoffel lehrte Markus auch die Scholle ehren, der Väter Gut, wie er sagte, dabei im Innersten beunruhigt, daß Markus meinen könnte: Er kann uns nicht ins Herz gewachsen sein, der Michelshof, da er den Götzenbauern noch kein Menschenalter gehört. Doch Markus begriff die Kraft des Bodens und den Reichtum der Ernten und ging jetzt dem Vater zur Hand beim Bauernhandwerk und bewunderte ihn wie einen der großen Helden der Sagen, von denen er in der Schule gehört hatte.
Wenn der Vater säte, tönte der Arm förmlich vom Schwunge, wenn er mähte, war der Sensenhieb weit und voll, daß keiner der besten Mäher ihm gleichkam.
So lebte Stoffel dem Jungen ein Beispiel vor in seiner großen, sicheren Manneskraft und war nie glücklicher als jetzt, da, wo er ging und stand, der ranke Sohn neben ihm schritt, kein Sohn eigentlich, sondern ein guter Kamerad.
Stoffel zählte über die vierzig, der Markus fünfzehn Jahre, als sie sich fanden im heimlichsten Jagdgebiet ihrer Träume.
*
Da geschah es eines Tages, es war im darauffolgenden Mai, an den Schattenrainen schwand der Schnee, daß unversehens nach föhniger Klarheit ein Gewitter losbrach und der Blitz in die Pappel vor der Schlafkammer der Eltern fuhr, ein kalter Schlag zwar, der den Baum von oben bis unten in zwei Hälften zerriß. Sie standen alle drei unterm Fenster damals. Und als habe dieser Schlag die Seele der Frau gespalten, die schon einen Riß seit langem zeigte, wurde es mit Agathe in 170 der Folgezeit noch schlimmer. Sie war zwar nicht mehr im Bett zu halten, wurde im Gegenteil von rastloser Unruhe gepeinigt, die sie schaffen hieß ohne Unterlaß, aber irgendwie geschah alles, was sie tat, unheimlich rasch und wurde stets nicht vollendet, so daß eine dritte Hand dahinterher sein mußte, das Letzte zu tun. Wie sie in großer, ungezügelter Leidenschaft gegen die Arbeit anging, so überfiel sie auch, bar allen Stolzes und einfach weiblicher Scheu, den Stoffel mit bedrängender Liebe. Sie war eifersüchtig, wenn Markus beim Vater sich aufhielt, und glühte vor Neid, wenn Stoffel dem Sohne Lob gab und gute Worte. Markus begriff das nicht. Stoffel, innerlich kühl geworden und abgestumpft gegen Agathens krankhaft wechselndes Wesen, löste ihm das Rätsel der Mutter nicht. Er hielt sich sogar gern fern dem Hause, um Agathe zu entgehen, er schämte sich ihrer vor dem Gesinde. Die Ärmste merkte nicht, wie sie zum Gespött der anderen wurde. Bisweilen wurde die zerrissene Fieberglut der Bäuerin abgelöst von einer harten, steinernen Stille: für Stunden erst, dann für Tage. Da saß die Erschöpfte irgendwo im Hause, wo es düster war, meistens in der Küche, und rührte sich nicht, flüsterte nur vor sich hin. Niemand gab sich Mühe, sie zu verstehen. Die Bäuerin war eben wirr, man gewöhnte sich an diesen Zustand.
Sie hockte brütend und murmelnd vor dem Herde, als Markus eines Nachmittags vor den andern vom Felde heimkehrte, weil er sich beim Sensenschärfen ungeschickt die Hand verletzt hatte und die tiefe Schnittwunde nicht aufhören wollte zu bluten. Er betrat die Küche, die Mutter um Leinen zu bitten und um ein blutstillendes Mittel, deren sie gewiß eines zur Hand hatte. Er lauschte unwillkürlich hin, was sie denn wieder herfaselte und hörte, daß sie es vom Sündenfall hatte und dem Feuerbrand der ewigen Verdammnis. Ach, fiel ihm ein, das ist ja ein Stück aus einem Bußgebet. Er mußte die steinerne Frau heftig am Arm schütteln, bis sie ihn bemerkte. Sie stand rack auf, sah ihn wild an und sagte: »Trutz Tod, komm her, ich fürcht dich nit.«
»Wie wirr sie ist«, dachte Markus, von Grauen gepackt.
»Hast einen herben Griff, Tod; Tödlein, nimm auch den Stoffel mit, sonst kriegt ihn die Anna, die Schlutti vom Götzenhof.« 171
Marks begann sie heftig zu schütteln und schrie ihr ins Ohr: »Mutter, Mutter, wach doch auf, wach doch auf!«
Das wirkte. Sie reckte sich, öffnete und schloß die Augen ein paarmal, als blende sie etwas, und ein Zittern rann durch ihren Körper. Markus hielt sie: »Bäuerin, Mutter«, sagte er und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Das Blut tropfte von seiner Hand, als wolle sein Leben darinnen fortfließen.
»Schau her!« Er wies ihr das Übel.
Langsam wandte sie den Blick, sah die Wunde und erschrak heftig.
»Marks, was ist das?«
Jedoch wartete sie keine Antwort ab, rannte wie ein Wiesel in die Scheuer, kam mit einer Handvoll Spinnhudeln wieder und legte sie auf den Schnitt, murmelte einen Blutbann darüber, den Markus nicht verstand.
»Hol Linnen, Mutter«, bat er.
Sie holte es; Markus hatte die Weben weggestrichen und die Hand in den Wasserkübel gesteckt, das kühlte. Das Blut stand nicht. Er hob den Arm hoch über den Kopf. Es wollte sich nicht stillen. Agathe sagte in einem fort den Bannspruch: »Frisch ist die Wund, glückselig die Stund, glücklich der Tag, da Christe erlöset ward.«
Endlich konnte Markus den Arm senken und sich verbinden lassen. Die Mutter war jetzt blaß und still. Sie gingen selbander in den Stall zum Schaffen. In ihrem Wesen lag die Offenbarung aufgebrochener Liebe, zart und scheu wie eine Frühlingsknospe. Aber es war ja Sommer, spät am Abend dazu. Die Grillen lärmten, der Wald duftete herüber, denn der Abendhauch trug voll den Atem der Tannen. Noch kehrte Stoffel nicht heim. Der Weg von der Vogelsmatte herab, wo sie geheuet hatten, war weit und beschwerlich. Noch ehe er anlangte mit dem Gesinde, sagte Agathe, als sie mit Melken und Füttern fertig waren: »Was bin ich müde, Markus, ich geh in die Kammer.«
Ihre Stimme klang matt, aber doch warm, wie beglückt. Marks nickte ihr nur zu.
»Komm doch noch einmal zu mir herein, Bub.«
»Ja, Mutter!«
Sie ging. Und er beeilte sich sehr mit seiner Arbeit. 172
Wo der Vater blieb? Endlich knallten Peitschen und riefen Stimmen den vor Müdigkeit störrischen Tieren zu, endlich fuhren zwei hochbeladene Heuwagen in den Hof. Die Taglöhner und die Knechte kamen, aber der Bauer war nicht dabei. Sie saßen an dem Tisch in der Stube, und die Hausmagd trug das Essen auf. Noch immer kam Stoffel nicht.
Wo war er denn?
Er komme gleich hinterdrein, hatte der Bauer gesagt und sei in die Krone ein Bier trinken gegangen. Aber er kam nicht und wurde so heiß erwartet von der Agathe, die auf dem Bett lag in den Kleidern, elend und nach Atem ringend, mit blauen, dünnen Lippen. Nicht einmal den Rock hatte sie mehr ablegen können, so schwer riß sie der Schmerz an der linken Seite nieder und quälte sie mit kalter Angst. Sie fror, es warf sie hoch im Bette. Endlich trat Markus ein, sah entsetzt ihr Leiden. Er wollte wieder davon, die Hausmagd holen. Doch die Mutter rief ihn her, ganz nahe ans Bett. »Der Vater?«
»Ist noch nicht da«, sagte er und meinte, die Furcht würge ihm die Kehle ab. Auf der Mutter Stirn standen Schweißtröpfchen.
»Bub, ich muß fort!«
»Wohin Mutter?«
»Sterben.«
Mit einem hellen Laut wich Markus zurück.
»Nicht doch, das ist das Schwerste nicht, nein, es ist schon leicht, leichter als das Leben und die Last; rück nah her, Bub, ich kann schier nicht mehr sprechen. Aber es ist mir besser.«
Markus schluchzte: »Vater, Vater, warum kommst nicht?«
»Wir brauchen ihn nicht.«
Die Frau zog mit verkrampften Händen des Knaben Kopf gegen ihren Mund. Und in leisen Worten erzählte sie vom Brand ihres Vaterhofes, den sie nicht gelegt habe, an dem sie aber doch voll Schuld sei. Die bösen Gedanken, unaufhaltsam schlimm gewachsen zu Träumen und glühigen Bildern, die hätten den Strahl herbeigewünscht, der zündete. Des Vaters Hof verbrennen sei eine Erbsünde, eine überweltsgroße, unvergebliche Sünde, und in der Asche glimme ewig der böse Funke und glimme weiter als schlafend Feuer, bis daß es einer wecke im dritten oder vierten Glied der Kind- und Kindeskinder, ein 173 Fluch also laste auf ihm, ein doppelter Fluch; denn das Unheil ruhe lange schon im Schoß des Brudergeschlechtes. Marks solle sich hüten vor dem Feuer auf allen Wegen. Es sei eine Leidenschaft, die inwendig mehr brenne, denn außen; sie verbrenne die Seele bei lebendigem Leibe.
»Drum hüt' dich, Marks, wehr dich und wahr dein Blut. Ich segne dich, Gott wird mir das noch lassen, diese Gnade, den Sohn zu segnen, in dem der Vater wachsen soll, nicht die Mutter. Ach, einmal, glaub mir es, mein Bub, war auch ich noch gut, am besten gewiß, als ich Götz ohne allen Gram herzinnig liebte. Er war nie ungut mit mir, gar nie, bloß kalt in letzter Zeit, daß es weh tat. Ich zürn ihm nicht. Er hat viel Leid getragen von meinem bösen Sinnen, und ich hab ihm Unkraut auf seinen hellen Weg gestreut. Sag ihm, er soll es vergessen.«
Agathe konnte nicht weiter. Sie verlor die Worte, lag kurze Zeit wie erstarrt, bäumte sich aber plötzlich mit starkem Schrei im Bette auf. Es warf sie empor, sie schrie noch ein paarmal wie ein gequältes Tier, wurde blau im Gesicht, rannte mit den Händen über die Bettdecke; ein gurgelnder Laut, ein Seufzer dann, der entkrampfte Körper sank nieder, sank immer tiefer, immer schmäler und kleiner wurde die Erschöpfte und immer weißer und stiller im Gesicht. Alle, das hereingestürzte Gesinde und Markus, meinten, sie schlafe, und gingen wortlos hinaus.
Markus hielt es aber nicht aus in der Stube. Er zog die schweren Schuhe ab, stellte sich einen Stuhl neben der Mutter Lager und wartete. Er sann an den Worten der Mutter herum. Er hatte bisher nicht viel gewußt vom Bruderhof. Es hatte ihn nie gefesselt, wann und wie er niederbrannte. Die Eltern sprachen nie davon.
Nun war das so!
Er blickte mitten im Sinnen zur Schlafenden hinüber. Sie lag so reglos, sie lag so atemlos. Markus spürte, daß sein Rücken kalt wurde, als riesle Eiskorn hinab. Er horchte. Die Uhr tickte so laut. Er sah auf die Brust der Mutter und glaubte, sie höbe sich leise, glaubte es auch wieder nicht. Er scheute sich, die Stirne zu berühren, die wie Linnen schimmerte, er hatte Angst, sie fühle sich feucht und kalt an. Aber die Brust hob 174 sich doch nicht? Wenn nur die Uhr stehen bliebe, daß man den Atem hören könnte. Sie tickte so laut. Markus neigte den Kopf und lauschte angespannt, immer in Angst, er müsse ungewollt die stille Frau berühren. Eine unbegreifliche Angst! Er betete das Vaterunser, ohne an den Sinn der Bitten zu denken. Wenn doch der Vater käme! Käm er doch! Marks, dem großen Jungen, rollten die Tränen übers Gesicht in den halboffenen Mund. Salzige Flut. Der Hals tat ihm weh. In der Brust tat's ihm weh. Er war wie ein Kind, das traurig und voller Furcht allein im Walde ist, allein, mutterseelenallein in der ganzen Welt.
»Mutter, ach Mutter!« rief er
»Sie soll aufwachen! Sie soll meinetwegen schelten, weil ich ungeschickt war mit der Sense.« Er riß die Binde von der Hand, damit das Blut wieder schießen konnte. Sie mußte nun erwachen, sie mußte ihm doch frisches Linnen reichen, frisch die Wunde besprechen.
»Mutter, Mutter, Mutter!«
»Was ist denn?« tönte da des Vaters Stimme aus dem Rahmen der Kammertür, »laß sie doch schlafen!«
Stoffel trat an das Bett: »Laß sie doch!«
»Sie muß mir Linnen geben, es blutet so arg«, sagte Marks, »ohne Unterlaß blutet's«, und fiel vom Stuhle.
Die Wunde blutete nicht. Stoffel trug den Ohnmächtigen in die Stube auf die Ofenbank.
»Das ist ein ewiges Theater«, dachte er und rieb die Schläfen mit Kirschwasser. Markus kam zu sich, schlief darauf jedoch sofort ein.
»Na also!« sagte Stoffel erleichtert und laut. Er schneuzte den Wichen des Öllichtes, damit es heller würde in der Stube, und saß im Winkel nieder.
Herrgott, wie still ist's im Haus! Nur Uhrenticken. Die Tür zur Kammer stand auf. Die Frau regte sich nicht. Stoffel löste die Nestel an den Schuhen, seine müden Füße brannten. Und grübelte.
»Herrgott, wie still!« dachte er hin und wieder.
Ist wohl nur er noch wach?
Schlafen wird er ja nicht können. Die Anna hat's ihm heiß gekocht vorhin. Heiß. Es klopft ihm in den Adern. Da stand 175 das Weib, wie er gleich hinter dem Heuwagen her heim will, wie aus dem Boden geschnellt neben ihm, fahl im Gesicht. Und hieß ihn ein Stückweit mitgehen den kleinen Fußpfad zum Leihwieserhof, auf dem sie dient, und sie bittet ihn, er soll sie auf seinen Hof nehmen. Als eine niedere Magd will sie schaffen. Aber sie kann nicht mehr leben ohne ihn. Und sie liebe ihn schon seit Anfang an. Sie habe genug nun verborgen, es drücke ihr das Herz ab, daß er neben einem halben Leichnam herleben müsse, den die Schuld untern Boden drücke. Das sei Agathe.
»Was für eine Schuld?« fragte Stoffel heiser.
»He, der Albiez weiß es haarfein zu berichten, wie der Brand geschah, sellesmal.«
Stoffel zerbrach der Frau fast das Handgelenk
»Du liebst mich und kannst mir so das Inwendige verstechen mit Lügen? Geh!«
Er stieß sie mit aller Kraft, doch sie stemmte sich gegen ihn, vergaß sich ganz, wurde lind und zart, erzählte vom ersten Augenblick, da sie ihn sah.
»Wir Hellen, ach, das wußt ich doch, gehören zusammen, und du hast die Schwarze genommen, der das Unheil wie Läuse so dicht schon im Haare saß, hast mich dem Jakob gelassen, dem Kindischen, dem Letzten aus einem geschwächten Schoß.«
Anna weinte an seinem Halse. Stoffel wurde es heiß. Er wollte sie wegdrängen, doch eine Flechte ihres rötlichen Haares fiel über seine Hand, weich und kühl. Er wehrte sich gegen sein wildes Begehren, riß Anna am schweren Zopf, daß sie stürzte. Stand dabei, wie sie winselte, wollte fliehen und konnte doch nicht.
Stille. Anna schwieg, lag auf den Knien, das Gesicht im Grase. Die Nacht sank nieder. Vom Schiltebach wehte es weißlich herauf, ein feiner Dunst, der strich durch das Tal, stillen Wanderern gleich.
Stoffel dachte: »Hat mich etwas angerührt, es ging so nah vorüber, ein Hauch, ein Atem.«
Seine Augen bohrten sich in die Ferne, als zöge etwas ihren Blick. Was rief denn? Klopfte so hart das Blut im Ohr? Was nötigte ihn denn? Ist wo Musik? Nein, Klage? Er schaute 176 gegen den Michelshof. Und fühlte, sein Blick ging immer weiter, immer ferner, er wuchs fort. Wohin denn, wohin?
Anna richtete sich auf, starrte in das Gesicht Stoffels, hoch über ihr die entrückten Augen, der reglose Blick! Sie erfuhr schwindelnde Furcht, kam mit Mühe auf dem Knien zum Stehen, leise, leise, daß er es nicht merkte, hielt die Arme wehrend weit von sich und wich rückwärts davon in den Wald, ins Dunkel. Jagte von dannen.
Stoffel erwachte. Nacht war um ihn. Er strich sich über die Stirn. Bei Gott, im Stehen so träumen! Er war wahrhaftig müde und hatte den kühlen Trunk zu rasch getan vorhin. Scheu sah er sich um. Welch ein Spuk! Stand er nicht auf einem Kreuzweg? Hier rechter Hand ging es nach Buchenbronn und linker Hand an den Muhrsee hinab, und vor ihm weiter in den Schiltebach zum Michelshof und hinter ihm hinauf zur Leihwieserin. Und die Nebelfrau wob zartes Linnen, potz Donner, da gab es wohl noch keinen Regen! Er zwang sich auf alltägliche Gedanken und machte, daß er heimkam.
Nun saß er im Winkel. Dort schlief der Marks, der Wehleidige, wie ein Kind. Und drinnen die Frau. Wie allein war Stoffel, wie ohne Liebe allein gelassen. Kein Wunder, daß man halb wirr wurde. Und nimmer änderte sich das. Agathe, ob sie einmal wieder lachte, wenn die schlimmen Umstände vorbei waren? Er glaubte das nicht. Aber er wollte gut sein mit ihr, überflutete es ihn jetzt. Keine Ungeduld sollte sie jetzt mehr erschrecken. Sie beide hatten es geschafft, daß sie auf dem schönen Gute saßen, und ohne sie wäre der Stoffel ein Nichts, ein Knecht oder gar ein Landstreicher; denn das Knechtsein, nein, ausgehalten hätte er das nicht für ewig.
Aber die Agathe – was für eine schöne Bäuerin war sie doch damals, mit Augen gleich Leuchtkugeln und einem Gesicht wie Milch und Blut. Und stolz und schmuck. Anders als Anna. Was für ein Traum auf dem Weg diesen Abend, was für ein heißes Wesen und dann das Wehen, das fremde Ziehen, das wie Glück und doch wie Trauer über ihn kam!
Die Uhr schlug zehn. Marks seufzte auf im Schlafe, erwachte jedoch nicht. Stoffel schob seinen zusammengerollten Kittel unter des Burschen Kopf. Auf der breiten Bank schläft er schon gut genug, dachte der Vater und nahm das Öllicht 177 in die Hand. Agathe wird zunacht geschafft haben. Aber er war doch unruhig, er ging doch erst durch den Stall, über den Hof. »Agathe!« dachte er immer; er konnte nicht anders. Fingerte am Milchhaustürchen herum, ob es geschlossen sei, daß die Katzen nicht hineinkonnten, und dachte: »Agathe!« Ging in die Küche und stocherte die Glut im Herde aus und dachte: »Agathe!« Und stellte die Schuhe vor den Herd, damit er nicht zu laut in die Kammer trete, und dachte: »Agathe, liebe Agathe!«
Aber sie war tot.
*
Die Leute schüttelten damals alle sehr die Köpfe, als sie vom offenen Grabe der Agathe Götz weggingen und noch lange Zeit darnach, wenn die Rede auf das Leichenbegängnis kam. Der Stoffel lächelte, als die traurige Handlung vorüber war. Lächelte seinem Sohn Markus zu. Daß es nur ein kurzes, zitterndes Zucken der Mundwinkel war, aber freilich ein wirkliches Lächeln, das hatten sie über diesem Entsetzen über die Haltung eines Witwers nicht gesehen. Auch wie traurig es hervorirrte und wieder in die aufeinandergepreßten Lippen zurückfloh, beachteten sie nicht. Es sollte bloß dem Markus gelten, eindringlich: Sieh, wir haben jetzt nur noch uns. Halt dich wacker, Bub!
Freilich, hätte Stoffel gejammert und getan am Grabe, dann wäre auch schlimmes Geflüster umgegangen: Seht, er spielt den Untröstlichen, den Heuchler, und man hat doch gehört, wie schlecht sie miteinander gelebt haben. Mal sehen, wann man ihn auf der neuen Freite aufspürt, er wird nicht lange warten und eine Junge nehmen. Der arme Marks! Gott gnad ihm dann! Die Menschen denken voneinander in solchen Fällen stets schlecht, und es gibt wenige, die arglos sind, nicht einmal die Gleichgültigen sind es. Haja, wie alt mag Stoffel sein, so in den Vierzig, saubere Jahre, saftige noch. Man sprach auf dem kurzen Weg zwischen Kirchhof und Adler schon von der zweiten Frau, nannte sogar Namen und ließ seine Gedanken mit sichtlicher Freude an der schönen Bewegung des neuen Erlebnisses um Stoffels Zukunft kreisen. Ein Wort gab das andere, und da sie oft aus gründlichem Nachdenken kamen, waren viele kluge dabei. Noch brannte leise die Wunde, es brauchte einer, 178 der zu früh tief am Glas gesogen beim Leichenschmaus, nur derb aufzulachen oder ein allzu keckes Wort zu fallen, das bereits Anspielung auf des Leidtragenden Zukünftige war, so brannte sie leise.
Stoffel zahlte im »Adler« ein Faß Bier und für jeden Gast Bratwürste und Kartoffelsalat, saß wortlos eine Weile mit Marks und Lioba im Herrgottswinkel der Wirtsstube, ließ die Stimmen der Bauern und Bäuerinnen um sich her wogen, ein feierliches Gemurmel, wenn man die Augen schloß, und ein dunkel verhalten festliches Volk, wenn man die Ohren verstopfte und in die schmalen, lederfarbenen oder weißen Männer- und Frauengesichter über schwarzen Kleidern blickte. Marks sah immerfort den Vater an.
Manche Bauern aßen und tranken sehr schnell, traten Abschied nehmend an des Witwers Tisch und sagten: »Ich mach meinen Dank« und »Nichts für ungut!«
»Kommet gut heim!« erwidert ihnen Stoffel.
Früh auch steht er selber auf, legt die Hand an Marks Schulter und bittet Lioba, kein Aufhebens von dem Abgang der Michelshofer zu machen, sie kehre ja doch noch nicht um.
Und sie fuhren heim. Stoffel sagte, als sie ihre ersten Matten erreichten: »Morgen machen wir das Heu vollends.«
Und dabei blieb es. Es krähte kaum der Hahn, da stand Stoffel schon am Brunnen und wusch sich. Die Nacht, die erste seit dreien, die ihn mit tiefem, ruhigem Schlaf umfangen hatte, erfrischte ihn. Er rief Markus und die Dienstboten zur Arbeit, und das Leben des Hofes setzte nach alter Ordnung wieder ein wie das Räderwerk einer neu hergerichteten Uhr: erst zögernd, übermäßig eifrig darauf und dann gelassen im vorbestimmten Schwunge.