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Achtes Kapitel.

Bei hellem Sonnenschein gingen die jungen Mädchen am nächsten Nachmittage mit Fräulein Reuter nach Grünberg; Gerhard und Alfred hatten um die Erlaubnis gebeten, mit von der Partie zu sein, und so war der fröhliche Kreis der Jugend wieder versammelt, Fritz und Konrad ausgenommen, die am meisten von Marias liebevollem Herzchen vermißt wurden. Suse war, wie zu erwarten stand, ganz Feuer und Flamme für Dores Idee und wunderte sich nur, daß nicht schon früher jemand von ihnen auf diesen Einfall gekommen war.

»Wann soll denn das erste Wäschefest stattfinden?« erkundigte sich Gerd.

»O natürlich sobald wie möglich,« entschied Eva, »je eher Trine es erlernt, desto eher hat sie auf Verdienst zu hoffen.«

»Und wem wird die zweifelhafte Ehre zu teil, ihr für die Lehrzeit Material unter die Hände zu geben?«

»Uns natürlich,« rief Wally, »wir sind die nächsten dazu und sind es ihr, als Mitglieder des Bundes, schuldig.«

»O weh,« seufzte Gerd, der einen besonders ausgeprägten Sinn für tadellose Wäsche hatte, doch Else beruhigte ihn mit der Versicherung, daß Dore die Ablieferung eines mangelhaften Stückes nicht zulassen würde.

Unter fröhlichem Plaudern erreichten unsre Freunde die kleine Kate.

Fräulein Reuter stand still. »So Kinder, da wären wir glücklich, ihr werdet aber einsehen, daß wir nicht alle acht in das Häuschen dringen können.«

»Bewahre, die Bewohner desselben würden ja zu Tode erschrecken,« rief Gerd, »ich für meine Person verzichte bereitwilligst.«

»Ich auch,« erklärte Alfred, und die jungen Mädchen kamen überein, daß Else und Suse Fräulein Reuter begleiten sollten.

Nach freundlichem Gruß trennte man sich, und Fräulein Reuter wandte sich dem Häuschen zu, während die übrigen nach dem Walde gingen. Sie waren schon bemerkt worden. Drei blasse Kindergesichter, eng aneinander geschmiegt, blickten aus dem einzigen schmalen Fenster, das dem Stübchen Licht und Luft zukommen ließ. Sie verschwanden aber eilig, als die Ankömmlinge eintraten.

Großmutter saß am Ofen und spann, während Trine beschäftigt war, grobe, schadhafte Wäsche auszubessern. Beide Frauen sprangen auf und hießen ihren Besuch willkommen. Trine fuhr mit der Schürze über ein paar Stühle und stellte sie zurecht.

Else betrachtete neugierig das Spinnrad, sie hatte noch nie einen Menschen spinnen sehen und hätte gern diese Beschäftigung näher kennen gelernt, doch Großmutter Weber wußte, was sich schickte, sie rückte das Spinnrad zur Seite und setzte sich zu ihren Gästen.

»Sieh, da sind ja auch Ihre jüngsten Kinder,« sagte Fräulein Reuter, »wir kannten sie bisher noch nicht. Wollt ihr uns nicht guten Tag sagen?«

Die Kinder gehorchten, und Fräulein Reuter fragte nach dem kranken Christoph.

»Ach, der Christoph,« sagte Trine seufzend, »glauben Sie denn, Fräulein, daß er wieder besser wird?«

»Wir müssen auf Gott vertrauen, liebe Frau. Wenn Doktor Bauer nicht die Hoffnung hätte, ihn wiederherstellen zu können, würde er ihn nicht mitgenommen haben. Nun sagen Sie mir aber, gute Frau, haben Sie auch Arbeit, daß Sie sich mit ihren Kindern ernähren können? Ich frage nicht aus müßiger Neugier, sondern weil ich den aufrichtigen Wunsch habe, Ihnen zu helfen.«

»Ach, Fräulein sind so gut und die jungen Herrschaften auch, die haben schon vieles an uns gethan,« sagte die dankbare Großmutter, Trine aber setzte klagend hinzu: »Womit sollten wir armen Frauen wohl viel verdienen, Fräulein? Sehen Sie, Mutter spinnt ja ein bißchen, aber viel schafft es nicht, denn sie hat ihr eben Teil mit den Kindern und dem Hausstand; wenn wir auch einfache Leute sind, aber rein und sauber soll's doch sein, und die Mädel und Buben sollen auch nicht zerrissen gehen. Ich kann's auch nicht allein schaffen, Fräulein; nun geht's ja eher, wo ich nichts mit dem kranken Mann zu thun hab', aber wo find' ich gleich Taglohn? Im Sommer geht's ja noch, aber im Winter ist nichts für unsereinen zu holen.«

»Hätten Sie wohl Lust, Trine, eine Wäscherei anzufangen?« fragte Fräulein Reuter; doch die beiden Frauen sahen sie so verblüfft an, daß sie die Notwendigkeit, sich näher zu erklären, wohl einsah, und sie teilte ihnen ihren Plan mit.

Trine hatte mit weit aufgerissenen Augen zugehört, jetzt sprang sie auf und schlug die Hände zusammen. »Herrgott, Fräulein, und da fragen Sie noch, ob ich will? Wo soll ich aber nur das Zeug zum Waschen hernehmen?«

Fräulein Reuter lächelte. »Das lassen Sie unsre Sorge sein, Trine. Ich habe drei junge Mädchen in Pension, für die und für mich haben Sie Winter und Sommer zu waschen, und für die Geheimrätin und ihre Tochter bis zum Herbste.«

»Und für Gerd, Tante Helene,« fiel Suse ein.

»Richtig, also beginnen Sie mit sieben Kunden, das ist für den Anfang ganz hübsch.« Sie drückte die Hand der Großmutter, die diese ihr in wortloser Bewegung hingestreckt hatte, Trine aber, leidenschaftlich wie sie war, sank vor Fräulein Reuter in die Knie und rief schluchzend:

»O, dies Glück, dies große Glück! Mutter, du hast recht, der liebe Gott hat uns noch nicht verlassen.«

Fräulein Reuter fuhr mit sanfter Hand über das gebeugte Haupt des jungen Weibes, sie war selbst zu bewegt, um sprechen zu können; auch über Suses rosiges Gesicht rannen die Thränen, und selbst Elses blaue Augen waren feucht von dem ungewohnten Anblick; sie fühlte sich seltsam bewegt und gehoben, wie nie im Leben, und sie konnte nicht anders, sie mußte die Arme um die so oft im Stillen geschmähte Suse schlingen.

Nachdem sich der erste Sturm der Gefühle etwas gelegt hatte, beriet Fräulein Reuter mit den beiden Frauen, wann Trine kommen solle, um ihren Unterricht bei Dore zu beginnen.

»Ich kann gleich kommen, wenn ich soll,« rief diese voll Eifer, »zu Haus müssen sie eben sehen, wie sie ohne mich fertig werden; die beiden Großen können ja auch schon viel thun, Reisig holen und Futter für unsre Ziege, und im Garten arbeiten. Christel kann waschen und scheuern, ist ein anstelliges Mädchen, und die Kleinen sind auch gut, so wird Mutter nicht zu viel Last haben.«

»Sorg' dich nicht um mich,« sagte die alte Frau, die still mit gefalteten Händen und feucht schimmernden Augen zugehört hatte, »der liebe Gott wird mir schon Kraft geben, daß ich die Kinder und das Haus in Ordnung halt'. Denk nur an den Christoph, Trine, was wird der wohl sagen?«

»Ja, was wird der Christoph sagen,« wiederholte auch Trine mit glückverklärtem Lächeln.

Mit Staunen sahen alle auf das junge Weib, keiner hatte vorher bemerkt, wie hübsch sie eigentlich war; wie anders sah sie aber auch aus, nun, da alle Verzagtheit aus ihren Zügen gewichen war. Wie die Blume im Schatten, so war Trine verkümmert in ihrem Herzeleid und ihren Sorgen; wie jene sich aber entfaltet, wenn der Sonnenstrahl sie küßt, so hob diese das Haupt mit frischer Zuversicht unter der barmherzigen Liebe und Teilnahme ihrer Mitmenschen.

Nachdem Fräulein Reuter und die jungen Mädchen noch die Hühnerfamilie bewundert hatten, verabschiedeten sie sich, begleitet von den heißesten Segenswünschen der Mutter und der Tochter.

Eine Weile legten alle drei ihren Weg schweigend zurück, dann schob Suse ihren Arm schmeichelnd in den Fräulein Reuters und sagte warm: »Wie schön war es, liebe Tante!«

Sie nickte. »Ja meine Suse, wohlzuthun und mitzuteilen sind des Lebens reinste Freuden.«

»Es ist wahr,« sagte Else sinnend, »ich glaube nicht, daß ich mich je glücklicher gefühlt habe; mir ist, als habe ich ein großes, herrliches Geschenk erhalten.«

Fräulein Reuter reichte ihr mit liebevollem Blick die Hand. »Es heißt auch nicht umsonst in der heiligen Schrift: Wohlthun trägt Zinsen. Es ist sicher nicht allein irdisches Hab und Gut damit gemeint, obgleich es ja an einer andern Stelle heißt, daß Gott dem hundertfältig wiedergiebt, der dem Armen leiht, sondern es sind wohl hauptsächlich die Schätze des Geistes darunter zu verstehen: die stille Zufriedenheit, die heitere Ruhe, die wir nach einer guten Handlung empfinden – mit einem Wort, die Gemeinschaft mit unsrem Gott, wenn das Wohlthun in seinem Namen geschieht.«

Else ergriff plötzlich die Hand der alten Dame und drückte sie an ihre Lippen. »O, Fräulein Reuter,« rief sie bewegt, »ich habe bis jetzt gar nicht gewußt, wie oberflächlich und selbstsüchtig ich bin, könnte ich doch bei Ihnen bleiben, unter Ihrer Leitung würde ich gewiß besser.«

Fräulein Reuter legte den Arm liebevoll um das junge Mädchen. »Ich hätte auch nichts dagegen, mein Herzenskind, was würde aber wohl die Mama dazu sagen?«

»Ja, Else, es wäre reizend, wenn du hier bliebest,« rief Suse lebhaft.

Else streckte ihr die Hand hin. »Ich bin gar nicht nett gegen dich gewesen, du gute Suse, du hast eigentlich wenig Ursache, es zu wünschen.«

»Laß gut sein,« wehrte diese lachend ab, und drückte die dargebotene Hand kräftig; »ich habe gewußt, daß du ein prächtiges Mädchen wärest, wenn du nur erst die große Vornehmheit ablegen wolltest.«

Else lächelte, sie nahm heute Suses Offenheit durchaus nicht übel, und im besten Einvernehmen gingen sie über die Wiesen dem Walde zu. Nun tauchte auch Gerds schlanke Gestalt auf, der sie zu dem Lagerplatze führte, wo Eva eine schnell improvisierte kleine Tafel gedeckt hatte.

»Ihr seid aber lange geblieben,« rief Wally ihnen entgegen, »wie war es denn?«

»Ganz wundervoll,« rief Suse, und auf Fräulein Reuters Aufforderung lieferte sie einen lebhaften Bericht.

Unter heiterem Plaudern ward nun ein kleiner Imbiß eingenommen, dann begab man sich auf den Rückweg und langte ziemlich früh in Wildemann an.

Eva schlug vor, sofort an das Aussuchen der alten Kleider zu gehen, und die arme Familie mit dem noch Brauchbaren zu beschenken oder davon Kinderzeug zu fertigen, und Wäsche herbeizuschaffen. Suse bat die Brüder, ihr längeres Fortbleiben zu Hause zu entschuldigen, Else benachrichtigte ihre Mama, und bald versammelten sich alle in Wallys hübschem Zimmer. Die jungen Mädchen trugen nun ihre Kleider und ihre Wäsche zur Auswahl herbei und gaben sich dieser Beschäftigung mit großem Eifer hin. Zu Wallys Kummer konnte von ihrer Garderobe jedoch nichts gebraucht werden, da alles für die armen Kinder zu fein war. Es fand sich einiges unter Evas und Marias älteren Sachen, das diese mit gutem Gewissen fortgeben konnten.

»Wißt ihr was?« rief Wally, »ich werde Mama bitten, mir abgetragenes Zeug von meinem Bruder zu schicken, damit können wir Friedel beglücken. Nun, ich möchte aber wissen, was du denkst, Suse, du siehst aus, als wolltest du sagen: Ist wieder nichts, Wally.«

»Wenn der kleine Graf in Sammet und Seide geht, kannst du recht haben,« entgegnete diese lachend.

»O, er hat auch einfache Anzüge, jedenfalls schreibe ich an Mama, sie wird schon Rat schaffen, denn ich will doch nicht mit leeren Händen dabei sitzen.«

»Du und Else, ihr näht mit, das ist auch etwas wert,« tröstete Suse.

»Ich habe gar nicht gewußt, daß du noch einen Bruder hast,« sagte Else erstaunt.

»Habe ich dir noch gar nicht von dem süßen Jungen erzählt? Nun sieh welch abscheuliche Schwester ich bin, und ich habe ihn doch so unmenschlich lieb, meinen kleinen Walther. Aber sagt, Kinder, müssen wir diese langweiligen Hemden selbst nähen?« fügte sie kleinlaut hinzu.

»Natürlich,« entschied Eva, »denke doch nur an unsre Kassen, Wally; für das Geld, das die Hemden zu nähen kosten, können wir schon etwas andres anschaffen. Ich schlage euch vor, wir setzen ein oder zwei Nachmittage in der Woche fest, an denen wir für unsre Schützlinge arbeiten.«

Suse und Maria erklärten sich damit einverstanden, Wally sah seufzend auf ihre feinen Finger, sagte dann aber mutig: »Sie werden freilich arg zerstochen werden, aber das hilft nichts, wer kein Opfer bringen kann, ist nicht wert, unsrem Bunde anzugehören. Ich sage euch aber gleich, daß ich in meinem Leben nur sehr wenig genäht habe.«

»Ich auch,« bekannte Else zögernd.

»Nun, so lernt ihr es auf diese Weise, es sollen vergnügte Nähstunden werden,« sagte Suse, »wir wollen nun aber Tante Helene unsre Schätze zeigen und hören, was sie dazu sagt.«

Fräulein Reuter prüfte Kleider und Wäsche und gab ihre Erlaubnis, daß »sothane Sachen auf dem Altar der Nächstenliebe geopfert würden,« wie Wally sich ausdrückte. Es ward gleich festgesetzt, daß die jungen Mädchen nachmittags von zwei bis vier Uhr Mittwochs und Sonnabends unter Fräulein Reuters Anleitung arbeiten sollten.

Die weiche Regung, die sich Elses nach dem Besuch in der kleinen Kate am Bach bemächtigt hätte, war bald wieder geschwunden. Sie fand es sehr hübsch, etwas für ihre Schützlinge zu thun und kam sich ungeheuer wichtig vor, daß indirekt durch sie so viel für die Familie gethan ward, aber daß man von ihr selbst Opfer forderte, fand sie gar nicht hübsch und nach den ersten Nähstunden waren ihr Eifer und ihre Begeisterung völlig verflogen. Welche reizenden Streifereien hätten sie sonst an diesen schulfreien Nachmittagen unternehmen können, statt dessen mußte man wie festgenagelt sitzen, zwei lange Stunden hindurch und nähen – nähen – nähen. Es war entsetzlich! Sie begriff nicht, wie die Freundinnen so heiter bei dieser langweiligen Arbeit sein konnten, sie verlor stets ihre gute Laune, wenn es in die Nähstunde ging. Sie konnte auch mit ihrem Hemdchen gar nicht weiter kommen, wie fingen die andern es nur an, daß es so viel schneller ging? Suse hatte schon eins für das kleine Lenchen fertig, Evas und Marias näherten sich ihrer Vollendung, und selbst die bewegliche Wally bemühte sich, mit den fleißigen Freundinnen Schritt zu halten. Sie mußte freilich manchen Saum wieder auftrennen, weil er der Tante nicht gut genug war, blieb aber stets heiter dabei und lachte über ihr Mißgeschick. Sie nannte sich und Else die Nachzügler, das gefiel dieser jedoch auch nicht, und sie wurde mit jeder Nähstunde verdrießlicher.

Die jungen Mädchen merkten es wohl, und Wally raunte den Gefährtinnen zu, das Prinzeßchen halte es gewiß unter seiner Würde, für Arme Hemden zu nähen, doch auf Fräulein Reuters Wunsch unterließen sie es, Else zu necken.

Eines Mittwochs saßen sie wieder alle in dem Schulzimmer versammelt, Hände und Zungen gleich eifrig beschäftigt. Da die jungen Mädchen ihrer augenblicklich nicht bedurften, hatte Fräulein Reuter sich entfernt, um einen wichtigen Brief zu schreiben.

»Sonnabend in acht Tagen ist keine Schul- und keine Nähstunde,« sagte Wally mit zufriedenem Seufzer.

»Kleiner Faulpelz,« neckte Eva sie, Else aber rief:

»Ein Glück, da kann man sich doch einmal ausruhen.«

»Armes Prinzeßchen, die abscheuliche Nähstunde greift dich auch sichtlich an,« rief Wally mit schelmischem Blick, »ich freue mich aber auch auf Sonnabend, erstens auf alle Geburtstagsüberraschungen für unser geliebtes Tantchen, zweitens auf eine süße Schüssel zu Tisch und drittens abends auf den Besuch von allen lieben Freunden, das soll ein vergnüglicher Tag werden.«

Nachdem sich die Mädchen die Freuden dieses Tags recht lebhaft ausgemalt hatten, sagte Eva: »Ich schlage euch vor, Kinder, daß wir Freitag eine Stunde nähen, wir bringen sonst die nächste Woche zu wenig fertig. Was starrst du mich so an, Wally?«

»Ich bewundere dich nur, du bist einfach erhaben in deiner Opferfreudigkeit.«

»Ich erkläre diesen Vorschlag für grenzenlosen Unsinn,« sagte Else ärgerlich; »wenn übermorgen Weihnachten wäre, wollte ich gar nichts darüber sagen, daß wir uns so kasteiten, aber in so vielen Wochen, wie wir noch bis Weihnachten haben, können wir mehr fertig schaffen, als die sämtlichen Kinder vertragen können.«

»Besonders wenn wir auf dich rechnen, Prinzeßchen,« rief Eva mit gutmütigem Spott, während die übrigen Mädchen lachten.

Else sprang mit hochroten Wangen auf. »Willst du mir vorwerfen, daß ich nicht fleißig genug bin?«

»Nein, durchaus nicht, rege dich nicht auf. Es ist ja überhaupt eine freiwillige Nähstunde, von der ich sprach; willst du nicht kommen, so bleibst du fort, ihr andern wollt, nicht wahr?«

»Die andern werden wohl wie gewöhnlich so dumm sein, sich dir unterzuordnen,« rief Else höhnend; »wenn du aber glaubst, kluge Minerva, daß ich mich deinem Scepter beuge, so irrst du, ich will mich nicht von dir beherrschen lassen.«

Die jungen Mädchen sahen sie in sprachlosem Schreck an. Eva war blaß geworden, aus ihren Augen leuchtete die innere Erregung, die sie gewaltsam bezwang. »Zeihst du mich der Herrsucht?« fragte sie ruhig.

»Ja,« rief Else, durch Evas scheinbare Ruhe erst recht aufgebracht, »du bist furchtbar herrschsüchtig und von dir eingenommen, weil du weiter bist als wir; die andern erkennen dein Uebergewicht ja auch willig an; ich thue es aber nicht, ich füge mich dir nicht!«

»Das verlange ich auch durchaus nicht von dir, du kannst es ganz halten, wie du Lust hast, und damit ist diese Angelegenheit wohl abgemacht,« sagte Eva kalt.

»Aber Kinder, ich glaube gar, ihr erzürnt euch ernstlich,« rief Wally; »tragt beide das Symbol der christlichen Nächstenliebe um den Hals und kriegt euch beinahe bei den Haaren. So etwas darf in unsrem Bunde nicht geschehen. Jetzt werde ich, Wally, Komtesse Thalenhorst, die Rolle der Thetis übernehmen und somit gebiete ich euch: reicht euch die Hände und vertragt euch. Du Prinzeßchen, kannst trotzdem die Nähstunde schwänzen, so oft du willst, denn dieselbe ist ein freiwilliges – eine freiwillige – Institut kann ich doch nicht sagen – so helft mir doch, ihr seht ja, daß ich mich festgefahren habe.«

Eva zuckte ärgerlich die Achseln, Maria sah ängstlich von der Schwester auf Else, nur Suse half freundlich ein: »Zusammenkunft.«

»Richtig,« fuhr Wally fort. »Was nun unsre Unterwerfung anbetrifft, auf die du so freundlich anspielst, Prinzeßchen, so teile ich dir im Vertrauen mit, daß sie nicht aus Dummheit geschieht, sondern in weiser Erkenntnis, daß unsre Minerva – eigentlich müßte sie Juno heißen, sie ist aber schon unter dem ersteren Namen hier erschienen – stets das Rechte will und auch meistens trifft. Ich beantrage hiermit, daß die Herrscher- sowie die Präsidentenwürde unsres Bundes in den bewährten Händen unsrer Minerva bleibe.«

»Brav gesprochen, Wally,« rief Suse lebhaft, »du bildest dich noch zu einer tüchtigen Rednerin aus.«

Marie küßte das Komteßchen, und Eva folgte ihrem Beispiel. Sie hatte ihre Empfindlichkeit überwunden und sagte mit der ihr eigenen Offenheit: »Kinder, es ist gewiß gar nicht gut, mir das Herrscheramt weiter zu übertragen, ich habe vielleicht Anlage, mich zur Despotin auszubilden, und das ist durchaus nicht meine Absicht; jedenfalls werde ich mich in Zukunft sehr in acht nehmen. Und nun komm, Else, wir wollen uns wieder vertragen.«

Sie hielt ihr die Hand hin, doch Else schien es nicht zu sehen, so eifrig stichelte sie an ihrem Hemdchen herum, als wolle sie das Versäumte der letzten Stunde nachholen.

»Sei doch gut Else,« bat Maria.

»Meinetwegen,« rief sie verdrossen, »aber gleich kann es mir nicht sein, wenn ihr alle gegen mich seid.«

»Na, höre,« rief Wally lachend, »uns ist es auch nicht gleichgültig, daß du uns so liebenswürdige Komplimente sagst.«

»Laßt doch das Streiten,« sagte Suse, »ich höre Tante kommen, was muß sie von uns denken?«

Fräulein Reuter trat ins Zimmer, wunderte sich zwar über die gänzliche Stille, die sie empfing, setzte sich jedoch ahnungslos auf ihren Platz. »Nun, Kinder, seid ihr fleißig gewesen, oder habt ihr Allotria getrieben?« fragte sie freundlich.

»Ja, Tantchen, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen,« rief Wally, Else aber stand schnell auf und fragte: »Erlauben Sie, Fräulein Reuter, daß ich nach Hause gehe? Ich habe heftige Kopfschmerzen.«

Die alte Dame sah prüfend von Else auf die übrigen Mädchen und gab die erbetene Erlaubnis.

Nachdem Else gegangen war, herrschte eine schwüle Pause, die Wally plötzlich mit den Worten unterbrach: »Liebes, bestes Tantchen, du merkst es ja doch, es hat einen furchtbaren Kampf gegeben.«

Fräulein Reuter nickte. »Ich weiß, Kind; ihr habt Else doch nicht gekränkt?«

»Sie hat Eva beleidigt, Tante, und da –«

»Liebe Tante,« fiel Eva ein, »beantworte mir aufrichtig eine Frage: Bin ich herrschsüchtig?«

Fräulein Reuter sah ihre Nichte liebevoll an. »Du hast sicher Anlage dazu, mein liebes Kind, doch zu meiner Freude entwindet dir Wallys Lebhaftigkeit oftmals das Scepter.«

»O Eva, da bin ich ja dein guter Genius, wie himmlisch!« rief Wally. Eva erwiderte innig die Umarmung der Freundin und sah erwartungsvoll zu der Tante hinüber.

Diese lächelte. »Ich kann das ruhig sagen, da meine Wally keinen schlechten Gebrauch von ihrer Macht machen wird, für dich aber, meine liebe Eva, wäre es eine gute Schule, wenn du mit Else ganz zusammen sein müßtest. Sie hat etwas sehr Selbständiges in ihrem Charakter, du ebenfalls, und es könnte euch beiden nicht schaden, wenn ihr euch in der Ueberwindung und der Fügsamkeit übtet.«

Eva runzelte leicht die Stirn. »Ich will nichts Schlechtes von Else sagen, Tante, sie ist nicht hier und kann sich nicht verteidigen; glaubst du aber nicht, daß ihre Selbständigkeit oft auf Eigensinn beruht?«

»Du magst nicht ganz unrecht haben, vergiß aber nicht, daß sie nicht so sorgfältig erzogen ist wie du; sie hat gute Anlagen und Eigenschaften, sind diese erst ins rechte Geleise geführt, kann sie ein sehr liebenswertes Mädchen werden. Verstehe mich recht Eva, ich will nicht ihren kindischen Eigensinn verteidigen, sondern dich nur aufmerksam darauf machen, daß wir in Geduld die Fehler andrer tragen sollen und uns oft bereitwillig unterordnen müssen, wenn es uns auch schwer fällt. Ich habe dich oft spöttisch lächeln sehen über Elses Art und wohl verstanden, wie überlegen du dich über ihre Fehler gefühlt hast; ob das recht ist, wirst du selbst wissen, oder ob sich das mit der christlichen Nächstenliebe verträgt, der ihr euch geweiht habt?«

Evas blondes Haupt war tief gesenkt, jetzt beugte sie sich nieder und küßte die Hand der geliebten Tante. »Ich danke dir, Tante Helene, ich will auf mich achten, und – wäre es nicht besser, ihr wähltet Else zur Präsidentin?«

Stürmisch riefen die Freundinnen: »Nein, nein, wir wollen keine andre wie dich.«

Eva sah die Tante fragend an, diese aber schüttelte lächelnd den Kopf: »Ich glaube, es wäre noch verfrüht, Else diesen Ehrenposten zu übertragen, sie muß sich auch noch sehr in der christlichen Demut üben, und ich hoffe, daß meine Eva es ihr erleichtern wird, so viel sie kann.« Sie streckte dem jungen Mädchen die Hand hin, Eva aber umschlang sie innig.

Die jungen Mädchen waren sämtlich bewegt, und Wally sagte mit tiefem Seufzer: »Engelstante, wenn du uns einst aus deinem Hause entläßt, hast du uns auch sämtlich zu Engeln ausgebildet. Ich kann nicht anders,« fügte sie hinzu, einige Thränen trocknend, »ich bin immer gleich so gerührt bei einem so gefühlvollen Aktus: da kommen mir die Thränen in die Augen, ich weiß nicht wie.«

»Du bist ein arger Wildfang, Wally,« entgegnete Fräulein Reuter lächelnd und drohte mit dem Finger. »In Zukunft werde ich dich wohl bei solchen Gelegenheiten hinausschicken müssen.«

»O einziges Tantchen, es ist ein Glück, daß ich weiß, du scherzest nur, ich wäre sonst trostlos.«

»Nun legt eure Arbeit beiseite, Kinder, und laßt euch euer Vesperbrot schmecken, ihr habt euch sämtlich glühende Bäckchen gearbeitet.«

»Es hat aber auch ausgegeben,« rief Suse und hielt ihre Arbeit triumphierend in die Höhe.

»Bei mir gar nicht,« sagte Maria niedergeschlagen, »ich kann nie recht arbeiten, wenn ich aufgeregt bin.«

»Thut nichts, Baby, lege nur zusammen für heute, das nächstemal bereite ich dir keine Aufregung wieder,« versprach Eva, und die Mädchen verließen Arm in Arm das Schulzimmer.

Else war sehr aufgeregt nach Hause gekommen, antwortete auf die besorgten Fragen der Mutter jedoch nur, daß sie sich etwas mit den jungen Mädchen gezankt habe, und lief in ihr eigenes kleines Zimmer. Hier brach sie in zornige Thränen aus – diese Eva – sie hatte aber von vornherein gewußt, daß sie sich mit ihr nicht vertragen würde. Am empfindlichsten war es ihr, daß Wally so ganz offen Evas Partei nahm, und sie hatte doch fest geglaubt, eine besondere Freundin des Komteßchens zu sein. Am Ende hatte sie diese durch ihre häßlichen Worte beleidigt? Aber daran war auch nur wieder Eva schuld, die sie herausgefordert hatte. Lächerlich, wie sich alle stets ihren Vorschriften fügten; von der sanften, nachgiebigen Maria begriff sie es noch, daß aber Wally und Suse es thaten, war ihr unerklärlich; wirklich, die einfache Suse war ihr doch noch lieber, als die anmaßende Eva. Es that ihr bitter leid, daß sie die Mama gebeten hatte, sie hier zu lassen; was für Reibereien mußte das tägliche Zusammenleben mit Eva bringen. Wie dumm, daß die Mama sich nun fest entschlossen und bereits an den Onkel geschrieben hatte, sie, Else, wäre sonst je eher, desto lieber nach Berlin zurückgekehrt.

Das thörichte Mädchen verlebte einen höchst ungemütlichen Abend und scheute sich am nächsten Morgen zur Stunde zu gehen. Die jungen Mädchen kamen ihr jedoch sämtlich freundlich entgegen, Eva bot ihr sogar die Hand und sagte: »Laß uns nicht mehr an den häßlichen Nachmittag von gestern denken, Else, wir wollen uns lieber gegenseitig helfen, unsre Fehler abzulegen, als uns deshalb erzürnen.«

Das war nun auch nicht nach Elses Geschmack, denn sie hielt Evas Worte nur für einen neuen Beweis ihrer Anmaßung, und so entgegnete sie kühl: »Ich bin dir sehr verbunden für das Interesse, das du an meinen Fehlern nimmst, aber das Recht, mich auf dieselben aufmerksam zu machen, gestehe ich allein meiner Mutter und Fräulein Reuter zu.«

Eva sah sie verwundert an, dann zuckte sie die Achseln und wandte ihr den Rücken.

Else war entrüstet über Evas Art und kaum imstande, sich so viel zu beherrschen, daß sie in den Unterrichtsstunden vernünftige Antworten gab, während sich Eva, zu ihrem Aerger, wie gewöhnlich durch ihre scharfen, klaren Antworten hervorthat.

In der Frühstückspause pflegten die jungen Mädchen in den Garten zu gehen; Else zog es heute vor, im Zimmer zu bleiben, doch Fräulein Reuter sagte in ihrer freundlich entschiedenen Weise, die durchaus keinen Widerspruch zuließ: »Geh hinaus, Else, die frische Luft ist euch stets zuträglich; im Zimmer könnt ihr im Winter noch genug sein.«

Zögernd ging sie; Maria kam ihr schon entgegen, schob freundlich plaudernd ihren Arm in den der Freundin und zog sie mit sich fort nach der Linde, unter deren Schatten die andern drei saßen.

»Wißt ihr was, Kinder, ich habe eine Idee,« sagte Eva, »will euch aber durchaus nicht beeinflussen, sie zur Ausführung zu bringen, wenn ihr keine Lust habt.«

»Sprich, Präsidentin.«

»Wie wäre es, wenn wir uns zu Tantes Geburtstag ein kleines Lustspiel einübten?«

»Herrlich!«

»Ausgezeichnet.«

»Du übertriffst dich selbst, Präsidentin.«

Diese Ausrufe bewiesen Eva zur Genüge, daß sie das Rechte getroffen hatte. Sie nickte befriedigt. »Ich war eurer Zustimmung sicher, denn Theaterspielen mag jeder vernünftige Mensch gern.«

»Dann gehöre ich zu den unvernünftigen!« rief Suse lachend; »ich denke mir nichts furchtbarer, als sich in das Wesen eines andern Menschen hineinzudenken und ihn wiederzugeben. Ich will euch wohl einen schönen Geburtstagskuchen backen, aber mit solchen Allotrias bleibt mir vom Halse, ich würde euch das Ganze verderben.«

»Ich glaube es selbst, Suschen,« meinte Wally, »es müßte dir denn die Rolle einer gütigen Hausfee zuerteilt werden.«

»Ich – eine Fee –!« rief Suse in aufrichtigem Schreck, »Kinder, ich würde euch gründlich blamieren. Wendet euch aber an meinen Bruder Gerd, der ist merkwürdig bewandert in solchen Dingen und hat eine ganze Menge so kleiner Theaterstücke, denn in den Familien, wo er in Bonn verkehrt, werden häufig Lustspiele aufgeführt.«

Die Mädchen waren höchst erfreut und baten Suse, Gerd auf die Ehre ihres Besuches vorzubereiten.

Sie konnten kaum den Schluß der Nachmittagsstunden erwarten und wanderten sämtlich mit Suse nach der Pfarre, auch Else, die für ihr Leben gern Theater spielte, jedoch nicht das große Interesse zeigen wollte, das sie empfand, da der Vorschlag natürlich wieder von Eva ausgehen mußte.

Gerd war Feuer und Flamme für die Sache und hatte verschiedene Stücke herausgesucht, deren Inhalt er den jungen Mädchen kurz mitteilte.

Nach vielem Hin- und Herreden wurde ein sehr hübsches Lustspiel gewählt, zu dessen Besetzung gerade ein Herr und vier Damen nötig waren, denn daß Gerd mitspielen mußte, war selbstverständlich. Nun schritt man zur Verteilung der Rollen.

»Da mögen die Damen selbst entscheiden!« bemerkte Gerd.

»Ach, bitte, gebt mir die kleinste Rolle!« bat Maria, »ich glaube, ich ängstige mich zu Tode, wenn ich auftreten soll.«

»Ich gar nicht,« erklärte Wally, »für mich ist es ein himmlisches Vergnügen.«

»Ich finde, die Hauptrolle kommt Else zu!« entschied Eva, »sie ist an dem Tage unser Gast, und wir gehören ins Haus.«

Das war doch einmal vernünftig von Eva, und Else war so gnädig, die ihr überwiesene Rolle anzunehmen.

Nun kam eine fröhliche Zeit für die Jugend, fast täglich wurden Proben abgehalten, bei denen es stets viel Gelächter gab.

Endlich brach der ersehnte Geburtstag an, und als am Abend zum allgemeinen Vergnügen das kleine Lustspiel aufgeführt wurde, merkte man nicht mehr, daß Zwietracht und Uneinigkeit in dem kleinen Mädchenkreise geherrscht hatte. Ohne Mißklang verlief der Abend, und noch lange nachher plauderten die Freundinnen von ihrem ersten Debüt als Schauspielerinnen und meinten – Maria ausgenommen – nicht ohne Begabung zu sein. Wally erklärte sogar, daß es ihr gar nichts ausmachen würde, plötzlich arm zu werden, denn einem so hochbegabten Wesen ständen alle Wege offen; sie würde sich durchaus nicht fürchten, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen.


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