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Der Sommer war vergangen mit all seiner Pracht, und der Herbst frühzeitig mit rauhen Winden und Regen eingekehrt. Die Geheimrätin hatte mit Dore Wildemann verlassen nach einem thränenreichen Abschiede von ihrem Töchterchen, jedoch mit der festen Ueberzeugung, daß Elses Erziehung in den besten Händen ruhe, denn sie hatte wohl einsehen gelernt, daß sie zu schwach und nachgiebig sei, einen Charakter wie Else zu leiten.
Nun waren vier Wochen seit ihrer Abreise verflossen und das junge Mädchen hatte sich vollständig in Fräulein Reuters behaglicher, fest geregelter Häuslichkeit eingelebt. Mit ihren Genossinnen stand sie sich zwar ganz gut, doch konnte sie nicht behaupten, daß ihr Verhältnis zu Wally ein innigeres geworden sei; das Komteßchen schien sich zu ihrem stillen Verdruß am meisten zu Eva hingezogen zu fühlen. Mit dieser hatte sie noch häufig kleine Reibereien, doch meistens ging es ziemlich friedlich in dem Mädchenkreise her, da Eva Wort hielt und sehr auf sich achtete, um ihre Präsidentenrolle nicht zu mißbrauchen.
Else hatte gehofft, Fräulein Reuter würde sie Wallys hübsches, geräumiges Zimmer teilen lassen, wie auch die Schwestern eins teilten; zu ihrem Leidwesen jedoch wies Fräulein Reuter ihr ein Zimmer an, das nicht einmal an jenes von Wally stieß. Sie war sehr verstimmt darüber, ließ es sich aber wohlweislich nicht merken, da sie genau wußte, daß Fräulein Reuter sich nicht durch ihre schlechte Laune beeinflussen ließ, wie ihre Mama es oft gethan.
Sie hatte auch gar keine Zeit, über kleine Unannehmlichkeiten nachzudenken, denn der Tag nahm ihre ganzen Kräfte in Anspruch, und abends war sie so müde, daß sie sofort einschlief, wenn sie sich hinlegte. Sie strengte sich aufs äußerste an, um Eva zu überflügeln und ihr ihren Platz streitig zu machen; über die andern Mädchen zu kommen, schien ihr nichts Besonderes, und diese hätten ihr auch wohl willig ihre Plätze überlassen, wenn Fräulein Reuter ihre Zöglinge nicht aus Prinzip nach dem Alter gesetzt hätte. Da war es freilich ein ewiger heimlicher Aerger für Else, daß sie die jüngste war, also den letzten Platz inne hatte. Sie versuchte dennoch, Eva den Rang abzulaufen, fühlte jedoch mit bitterem Neid, daß diese ihr trotz ihrer Begabung und ihres angestrengten Fleißes überlegen war und fast täglich Lob von der Tante und von Pastor Winter erntete, während hingegen von ihrer Anstrengung niemand so recht Notiz nahm; man schien sie als etwas Selbstverständliches zu betrachten.
Während ihrer Mußestunden, besonders des Abends, arbeiteten die Mädchen für ihre Armen, und selbst Else gewann diese Abende allmählich lieb, wo sie alle traulich um den großen Tisch versammelt saßen und ihre Aufmerksamkeit zwischen ihrer Arbeit und einem guten Buche teilten, aus dem Fräulein Reuter ihnen vorlas. Sie hatten schon eine ganze kleine Aussteuer für die Schreiberschen Sprößlinge fertig und arbeiteten nun auf Fräulein Reuters Wunsch auch für einige Stadtarme, die mit einer Bescherung überrascht werden sollten. Mit Freude und Stolz wurde jedes vollendete Stück in den großen Auszug gelegt, den Fräulein Reuter dafür angewiesen hatte, und selbst Else bemühte sich, nicht allein aus Ehrgeiz, ihn füllen zu helfen. Es war ihnen unerwartet so viele Hilfe gekommen, in zu verarbeitendem Material, daß die jungen Mädchen zuerst ganz sprachlos vor ihrem Reichtume standen, dann aber mit frischem, fröhlichem Mut an die Arbeit gingen.
Gräfin Thalenhorst hatte nicht allein abgetragene Anzüge ihres kleinen Sohnes geschickt, sondern auch ein Stück Leinen zu Wäsche und gedrucktes Zeug zu Kleidern und Schürzen. Die Geheimrätin hatte einen großen Stoß zurückgelegter Kleider und Wäsche von sich und Else gesendet, und auch die Doktorin Reuter aus Hamburg steuerte nach besten Kräften in ähnlicher Weise bei. Die Mädchen jubelten, wenn ein neues Paket anlangte, und erklärten, daß sie ein ganzes Jahr Vorrat zur Arbeit hätten. Zum Anfertigen der Kleider ließ Fräulein Reuter eine Schneiderin ins Haus kommen, so blieb den jungen Mädchen nur die Wäsche und einige Schürzen zu nähen – eine Heidenarbeit, wie sie meinten, obgleich sie mit fröhlichem Herzen gethan wurde. Sie begriffen jedoch nicht, wie die vielbeschäftigte Suse es fertig brachte, von Zeit zu Zeit ein Paar selbst gestrickter Kinderstrümpfchen in den Auszug zu schieben.
Der Schreiberschen Familie in Grünberg ging es insofern besser, als Trine das Waschen nicht allein gründlich bei Dore erlernt, sondern auch mehrere feste Kunden außer unsern Freunden erhalten hatte. Die größte Not war somit aus dem Häuschen gebannt, und die Bewohner desselben sahen dem Winter mit weniger Sorgen entgegen, als in den letzten Jahren. Ueber Christophs Ergehen lauteten die Berichte so günstig, wie bei dem arg vernachlässigten Fußübel kaum zu erwarten stand. Die Wunde heilte zur Befriedigung der Aerzte, doch konnten sie dem Kranken nicht verhehlen, daß das Bein voraussichtlich lebenslänglich steif bleiben würde.
Das war nun ein großes Kreuz für die Familie, denn was sollte Christoph beginnen? Fuhrmann konnte er nicht wieder werden, und unsre Freunde rieten viel hin und her, ob sie ihm nicht ebenso wie der Trine zu einem Verdienst verhelfen könnten, fanden jedoch nichts und trösteten sich mit dem Ausspruch der frommen Großmutter: »Der liebe Gott wird schon wissen, wozu er dem Christoph ein lahmes Bein gegeben hat, er wird auch schon Mittel und Wege finden, ihm Verdienst zu geben,« und Trine fügte hinzu, daß sie den Toffel auch noch mit ernähren könnt', denn wo so viele äßen, würd' auch noch einer mehr satt.
Ueber Trine, die früher so viel klagte und oft fast verzagte, war eine große Freudigkeit gekommen. Es war natürlich, daß bei dem Geiste, der jetzt in der kleinen Kate herrschte, die Kinder fröhlicher gediehen als bisher, und wenn Friedel und Christel die saubere Wäsche bei Fräulein Reuter ablieferten, so leuchtete der ganze Frohsinn ihrer Jahre aus den sonst so trüben Augen.
Unsre jungen Freundinnen waren glücklich, daß es ihren Schützlingen so viel besser ging, und oftmals richteten sie ihre Schritte nach der kleinen Kate, wo sie stets mit Jubel empfangen und mit dem Besten bewirtet wurden, was Küche und Keller bot; selbst Else hatte ihren Abscheu gegen das Brot armer Leute überwunden und ließ es sich nach der Wanderung trefflich schmecken.
Gerd war zum Bedauern der jungen Mädchen, die sich gerne mit dem lustigen Studenten neckten, längst abgereist; um aber seinen jungen Freundinnen zu beweisen, welch treuer Ritter des silbernen Kreuzbundes er sei, sandte er ihnen mit einem launigen Begleitschreiben fünfzehn Mark, die er bei einem lustigen Kommers von seinen Korpsbrüdern zusammengetrommelt hatte, indem er ihnen eine bewegliche Rede über das menschliche Elend im allgemeinen und über dasjenige ihrer Schützlinge im besondern hielt und sie schließlich aufforderte, jeder ein Glas Bier weniger zu trinken und das Scherflein auf den Altar der Nächstenliebe niederzulegen. Es habe sich zwar nach seinen Worten ein arger Tumult erhoben, keiner habe seinem Vorschlage beigestimmt, im Gegenteil, die ärgsten Schreier hätten sogar behauptet, dies noch nie dagewesene Ansinnen müsse erst recht »begossen« werden, es seien ihm jedoch von allen Seiten Gaben zugeflossen, und er wäre stolz, solche immense Summe für die Weihnachtsüberraschungen ihrer Schützlinge zu senden. Zum Schlusse lege er sich mit den sämtlichen Korpsbrüdern den jungen Damen zu Füßen und versichere sie ihrer tiefsten Hochachtung und Verehrung.
Die jungen Mädchen jubelten, als sie diesen Brief gelesen hatten, und erklärten einstimmig Gerd für einfach »entzückend«. Suse strahlte vor Vergnügen; sie liebte den schönen, gewandten, klugen Gerd mit dem ganzen Enthusiasmus einer jüngeren Schwester und fand es nur natürlich, daß er der Held des Tages war.
»Was fangen wir nun mit dem schrecklich vielen Gelde an?« fragte Marie, die noch nie so viel mit einemmal besessen hatte, »ich glaube, wir können eine ungeheure Menge Sachen dafür kaufen.«
Nun berieten die jungen Mädchen mit großem Eifer, und die unglaublichsten Dinge kamen zum Vorschein. Wally wollte das ganze Kapital in Weihnachtsstollen, Lebkuchen und andern Süßigkeiten anlegen, Suse hielt ein halbes Schwein für geeigneter, Else wollte Christel einen anständigen Wintermantel dafür kaufen, und so ging es fort, bis Fräulein Reuter lächelnd sagte: »Vorläufig ist es wohl am besten, ihr vertraut mir das Geld zur Aufbewahrung an, und was meint ihr, wenn wir dem Christoph einen neuen Friesrock dafür machen ließen?«
Mit diesem Vorschlag waren Mantel, Schwein und Kuchen über den Haufen geworfen, die jungen Mädchen jubelten und erdrückten die alte Dame fast mit ihren Liebkosungen, ja Wally erklärte, daß ihre geliebte Tante Helene die größte Zierde ihres Geschlechtes sei, unter den Jünglingen Deutschlands sei es aber unbestritten der einzige reizende Gerd. »Was meint ihr, Kinder,« fügte sie hinzu, »wir müssen ihm doch einen Danksagungsbrief schreiben, und zwar en compagnie, o, das gibt einen wundervollen Spaß!«
Die übrigen stimmten ihr eifrig bei, und lachenden Mundes entwarfen die jungen Mädchen ein Lust und Freude atmendes Schriftstück.
Fräulein Reuter ließ die fröhliche Jugend eine Weile gewähren, dann sagte sie, nach ihrer Meinung sei es vollkommen genügend, wenn Suse dem Bruder in aller Namen ihren freudigen Dank ausrichte.
Das war nun freilich nicht nach dem Sinne der Backfischchen, sie sahen sämtlich betreten aus, und Wally fragte die alte Dame schmollend: wann sie ihnen denn eigentlich den intimeren Verkehr mit jungen Männern gestatte? und die lächelnde Antwort, sie wollten über diesen Fall in drei bis vier Jahren näher miteinander sprechen, stellte das Komteßchen erst recht nicht zufrieden.
Da warf Suse ganz trocken dazwischen: »Tante Helene hat sicher recht, Studenten sind ein übermütiges Volk, und wenn Gerd unsern Brief andern zeigen sollte, machen sie sich gar noch über uns lustig.«
Nun ergoß sich aber eine solche Flut über Suses unwürdiges Haupt, die den ritterlichen Bruder in solch schnöden Verdacht brachte, daß sie hätte zerknirscht sein müssen; sie entgegnete aber vollkommen ruhig: »Es ist gar nicht zu wissen, ob sich nicht seine Korpsbrüder unsres Briefes bemächtigen, wenn sie erst Wind davon haben; junge Männer bleiben eben junge Männer.«
Das war nun eine unumstößliche Thatsache, die allen so einleuchtete, daß selbst Wally nichts weiter zu erwidern wußte, als: »Ja, bis sie alt sind, dann sind es eben alte Männer,« eine Bemerkung, die ein fröhliches Gelächter hervorrief, und damit war die allgemeine gute Laune wieder hergestellt. –
Der erste Schnee war über Nacht gefallen; wie majestätisch nahmen sich die dunkeln Tannen auf den Bergen aus, leicht mit Schnee bedeckt, der im Sonnenschein flimmerte und blitzte, daß man geblendet die Augen schließen mußte. Eva erklärte, es sei ein Unrecht gegen sich selbst, wenn man bei so herrlichem Winterwetter zu Hause sitze, statt sich der frischen Luft und der herrlichen Natur zu erfreuen, und da es Sonntag war, bat sie die Tante um Erlaubnis, Suse abholen und mit ihr einen kleinen Spaziergang machen zu dürfen.
Fröhlich machten sich die jungen Mädchen auf den Weg nach dem Pfarrhause und trafen Suse daselbst im Hausflur.
»Was fehlt dir, Suse, du hast ja geweint?« rief Eva, als sie die Freundin erblickte.
Suse schüttelte den Kopf und winkte den Freundinnen, mit ihr die Treppe hinauf, in ihr eigenes kleines Reich zu kommen. Hier sank sie in einen Stuhl und brach in Thränen aus; erschrocken und ratlos umdrängten sie die Mädchen, es war ihnen so ungewohnt, ihre starke, mutige Suse, die stets für alles Rat und Hilfe wußte, so fassungslos zu sehen, und sie trösteten ängstlich an ihr herum.
Endlich ermannte sich Suse und sagte entschuldigend: »Es ist recht albern und dumm von mir, mich so gehen zu lassen und euch zu erschrecken. Aber nun nehmt eure Mäntel ab und macht es euch bequem, dann will ich euch meinen Kummer erzählen. Ihr wißt, er betrifft Alfred. Der arme Junge! Wir waren alle so glücklich mit ihm über seine Aussichten für die Zukunft und glaubten auch, seine Gesundheit sei kräftiger geworden, und nun ist er wieder ganz so elend, wie er sonst im Winter zu sein pflegte. Ihr könnt euch vorstellen, wie tief uns dies alle bekümmert, besonders seinetwegen, da er ganz in seiner Idee aufging. Vater wollte überhaupt nicht, daß er jetzt schon mit dem Orgelspiel anfing, Alfred behauptete aber, sich nie frischer gefühlt zu haben, und da er so selten eine Bitte hat, fiel es Vater schwer, sie ihm abzuschlagen. Wir hatten vorhin eine so schwere Stunde,« fuhr das junge Mädchen nach einer kleinen Pause fort, »Vater sprach mit Alfred und bat ihn, vorläufig seinen Lieblingsplan, Ostern nach Berlin zu gehen, aufzugeben, sowie überhaupt jetzt das Orgelspiel zu lassen und sich so viel wie möglich zu schonen und zu kräftigen.«
»Wie nahm er es auf?« fragte Maria leise.
»Ach, seine engelhafte Geduld und Ergebung ist fast noch schwerer zu tragen, als wenn er gegen das Schicksal tobte, ich wenigstens kann nur weinen, wenn ich ihn ansehe, und Mutter auch.«
»Er müßte heilig gesprochen werden,« stieß Wally unter Schluchzen hervor.
»Darf ich zu ihm, liebste Suse?« bat Maria.
»Ach, wenn du das wolltest, deine Nähe und deine sanfte Art und Weise haben ihm noch immer gut gethan.«
»Wir wollten dich eigentlich zum Spaziergang abholen, Suse,« sagte Eva, »ich glaube aber, wir bleiben hier und suchen deine Mama aufzuheitern.«
»Natürlich,« rief Wally und trocknete hastig ihre Thränen, »wir haben uns der christlichen Nächstenliebe geweiht, also müssen wir Thränen zu trocknen suchen, wo wir nur können.« Ein Lächeln verklärte schon wieder das verweinte Gesichtchen, Wally flog aus dem Stübchen, die Treppe hinab ins Wohnzimmer, der erschrockenen Pastorin direkt um den Hals.
»Liebe, süße Mama,« flüsterte sie, abermals in Thränen ausbrechend, als sie in das tief bekümmerte Antlitz derselben blickte, »grämen Sie sich nicht so sehr, Alfred ist zwar ein Heiliger, aber ich habe doch gelesen – ganz gewiß, ich weiß nur nicht mehr wo, – daß Heilige kugelrund werden können, das sind doch gewiß gute Aussichten für Alfred.«
Die Pastorin lächelte trotz ihres Kummers und strich liebevoll über die dunkeln, wirren Löckchen der Kleinen. »Du bist ein gutes Kind, Wally, aber ich glaube trotz deines kugelrunden Heiligen nicht, daß unser Alfred jemals recht kräftig wird. Ach, Kind, es wird ja nichts an seiner Pflege gespart, er bekommt das Beste, was nur für Geld und gute Worte aufzutreiben ist, aber hilft es? Da sieh die andern Kinder an, sie sind alle frisch und gesund, und der arme Junge ist nicht allein blind, sondern hat noch den jammervoll schwachen Körper; es ist ein Kreuz, das uns der liebe Gott auferlegt hat, Kind.«
»Ich glaube es,« versicherte Wally eifrig, »ich weiß überhaupt nicht, wie ein Mensch im stande ist, solch Kreuz zu tragen, ich könnt' es nicht, das weiß ich wohl.«
»Still, Wally, sprich leiser, Alfred liegt im Nebenzimmer, und es würde ihn betrüben, uns so sprechen zu hören. Sieh, Kind, der liebe Gott verlangt ja Ergebung von uns, und ich habe mich nun schon achtzehn lange Jahre darum bemüht, aber so weit wie Alfred und sein Vater bringe ich es nie; aber das macht wohl, weil eine Mutter das Elend ihres Kindes doppelt fühlt.«
Wally rannen die Thränen über das Gesicht und sie konnte nichts thun, als die arme Mutter küssen und streicheln.
Nun traten auch die andern Mädchen ins Zimmer und umarmten die Pastorin, diese drückte besonders Maria zärtlich ans Herz. »Willst du zu ihm gehen, Liebling? Thue das, es wird ihn erheitern.«
Das junge Mädchen ging geräuschlos ins Nebenzimmer, wo der Jüngling auf einem Sofa ruhte. Er hielt die Hände gefaltet und das edle Antlitz machte in seiner marmornen Blässe, mit den geschlossenen Augen, einen ergreifenden Eindruck, daß sie bebend still stand. Er hatte aber dennoch ihre leichte Bewegung gehört und öffnete die lichtlosen Augen.
»Wer ist da?« fragte er leise, »sind Sie es Maria?«
»Ja, Alfred.« Sie trat etwas näher und ergriff seine Hand. »Wie leid thut es mir, daß es Ihnen nicht gut geht,« sagte sie, und aus ihrer weichen Stimme klang das ganze tiefe Mitgefühl des jungen Herzens.
Er umschloß ihre Hand mit der seinen. »Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich? Ja? Wie schön! Es thut mir allein schon gut, Sie zu hören. Setzen Sie sich zu mir, Maria. Wissen Sie es schon?«
»Ja, lieber Alfred; aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, Sie können ja schnell kräftig werden und dann Ihren Lieblingswunsch immer noch ausführen.«
Er lächelte schwach. »Auf meine Kräftigung warten wir nun schon viele Jahre, allein immer vergeblich; es ist wohl Gottes Wille, daß ich der hilflose, nutzlose Krüppel bleibe.«
»Sprechen Sie nicht so, Alfred, kein Mensch ist nutzlos.«
»Und wozu bin ich wohl nütze, meine kleine Freundin?«
»O, Alfred, Sie sind uns allen eine lebendige Predigt der Ergebenheit und Geduld; in Ihrer Gegenwart fühlt man sich unwillkürlich besser und gehoben.«
»Und Sie sind mein Friedensengel, teure Maria, unter Ihren Worten belebt sich nicht allein meine Hoffnung aufs neue, sondern in meiner Seele wird es licht und stille, denn es sah eben gar nicht gottergeben in mir aus.«
»Wir haben alle schwache Augenblicke, wer aber so in der Gemeinschaft mit seinem Gott lebt, wie Sie, Alfred, bei dem müssen solche Schatten schnell schwinden.«
Ein Schimmer von Verklärung lag auf Marias holden Zügen und teilte sich unbewußt denen ihres Gefährten mit. Er drückte stumm ihre Hand und sagte nach einer Weile: »Erzählen Sie mir von sich, liebe Freundin, Sie sind ja wohl sehr fleißig dabei, unsern Schützlingen Weihnachtsüberraschungen zu bereiten?«
Maria erzählte dem Blinden von den Schätzen, die der große Auszug daheim barg, und bald plauderten die beiden jungen Menschen in heiterer Ruhe mit einander, und als Marias leises Lachen ein paarmal an das Ohr der im Wohnzimmer Weilenden gedrungen war, traten alle herein, den Blinden zu begrüßen, und nun ward die Unterhaltung eine allgemeine. Alfred hörte mit zufriedenem Lächeln zu; er hatte es gern, wenn sich die jungen Mädchen um ihn scharten und es recht lustig in dem munteren Kreise herging, und Wally verstand schon dafür zu sorgen, daß die allgemeine Stimmung eine belebte blieb.
So traf sie der Pastor, als er mit einem offenen Briefe in der Hand ins Zimmer trat. Sein ernstes Antlitz erhellte sich, als sein Blick die rosigen, frischen Mädchengesichter streifte.
Suse sprang auf und trat zu ihm. »Du hast doch keine schlechten Nachrichten, Vater?« fragte sie ängstlich.
»Nicht was uns persönlich betrifft, meine gute Susanne, aber es ist wohl nicht der rechte Augenblick, euch von menschlichem Elend zu erzählen.«
»Doch, Vater, teile uns deinen Kummer mit,« bat Suse.
»Ja, Herr Pastor, lassen Sie uns teil an demselben nehmen,« fügte Eva hinzu, und Wally rief: »Wozu wären wir Mitglieder des silbernen Kreuzbundes, wenn wir nicht vom menschlichen Elend hören wollten? Das ist ja unser ganz spezielles Feld. Paß auf,« flüsterte sie Else zu, »ich werde wieder weinen müssen; ich kann dir sagen, Prinzeßchen, das ist auch ein Elend, wenn man ein zu gefühlvolles Herz hat – lieber Himmel – und dazu ist heute Sonntag.« Sie zog das Taschentuch mit tiefem Seufzer hervor, um es im richtigen Moment in Bereitschaft zu haben, und sah, auf alles vorbereitet, mit möglichst ernstem Ausdruck in den dunklen Schelmenaugen zu Pastor Winter hinüber.
Dieser setzte sich zu seiner Gattin und sagte: »Sieh, Regine, dies ist Leid, von dem ich euch erzählen will; gegen die armen Menschen, die es betrifft, sind wir geradezu glücklich. Ich erhielt soeben einen Brief von meinem lieben Amtsbruder aus K., der mir mit sehr beweglichen Worten das Elend schildert, das in seiner Gemeinde und in seinen Filialdörfern herrscht. Seht, Kinder, in jener Gegend sind keine Bergwerke mehr, durch die sich der größte Teil der Bevölkerung des Harzes das Leben fristet, wie hier, sondern die meisten Bewohner der kleinen Dörfer sind Weber, und welch ein mühseliges, trauriges Brot das ist, habt ihr wohl schon alle gehört. Nun schreibt mir mein Amtsbruder, daß es jetzt beim Herannahen des Winters trauriger denn je bei ihm aussähe, da viele Weber durch die Uebermacht der Maschinenwebereien fast brotlos geworden wären. Hört nur, was er schreibt.« Der Pastor las nun einen Teil des Briefes vor, aus dem das ganze tiefe Herzeleid eines treuen Seelsorgers für seine notleidende Gemeinde sprach. Er berichtete unter andrem auch von einem armen Weber, der neun schulpflichtige Kinder zu ernähren hatte und bei angestrengter, vierzehn- bis sechzehnstündiger Arbeit täglich, die Woche nur fünf bis sechs Mark verdiente; nun aber sei ihm seine letzte Zuflucht, sein verschuldetes Häuschen, von den Gläubigern verkauft worden.
»Das ist abscheulich!« rief Wally glühend.
»Mein gutes Kind, das ist der Welt Lauf,« entgegnete Pastor Winter, »kann einer seine Schulden nicht bezahlen, so wird ihm das genommen, was er hat, um seine Gläubiger zu befriedigen.«
Er stand auf und ging nachdenklich durch das Zimmer. »In unsrem Distrikte herrscht ja, Gott sei Dank, kein so großes Elend, wenn wir auch wohl viele Arme haben; immerhin ist aber unsre Bevölkerung nicht wohlhabend genug, daß ich für eine andre Gegend eine Sammlung veranstalten könnte.«
»Ich schreibe an Papa, er kauft dem armen Manne gleich sein Häuschen zurück.«
»Nein, liebe Wally, das hieße die Güte deines Vaters mißbrauchen; ich denke, er hat bereits genug für euren Bund gethan; ich wünsche dringend, daß du ihn damit nicht behelligst.«
Wally machte ein betrübtes Gesicht und sah die Freundinnen fragend an, die jedoch auch keinen Rat wußten, denn jeder Heller in ihren Kassen war für Weihnachten bestimmt, und auf außergewöhnlichen Zuschuß durfte keine hoffen.
Auf Alfreds geistvollem Antlitz hatten Röte und Blässe schnell mit einander gewechselt, jetzt richtete er sich auf und sagte: »Ich habe eine Idee, die ich gerne längst ausgeführt hätte, weiß aber nicht, ob du sie gut heißest, lieber Vater.«
»Sprich mein Sohn, du weißt, daß ich dir so leicht keine Bitte abschlage.«
»Ich habe schon viel darüber nachgedacht, wie ich als Mitglied unsres Vereins etwas für die Armen thun kann, denn immer mag ich auch nicht Drohne zwischen all den emsigen Bienen sein, und da bin ich auf einen Gedanken gekommen, der euch vielleicht zuerst ungeheuerlich erscheint, doch bei ruhigem Ueberlegen ganz gut ausführbar ist.«
»Da bin ich doch gespannt,« bemerkte der Pastor lächelnd, »die lange Vorrede läßt allerdings auf etwas Besondres schließen. Sprich, mein lieber Junge.«
»Vater, ich möchte gerne ein Konzert geben,« gestand Alfred, und eine heiße Röte bedeckte sein sonst so bleiches Antlitz.
»Ah, das habe ich wirklich nicht erwartet,« entgegnete der Pastor, während sich die jungen Mädchen in stummer Verwunderung ansahen.
»Aber, Kind, wie willst du das anfangen?« rief die Pastorin erschrocken, »du wirst dich nur aufregen und anstrengen und wochenlang dafür büßen müssen.«
»Wenn nur einer armen Familie dadurch geholfen wird, so kommt das bißchen schlechte Befinden eines Einzelnen nicht in Betracht, teure Mutter; darf ich dir meinen fertigen Plan mitteilen, Vater? Doch wer kommt da?«
»Es sind nur die Kinder,« entgegnete Pastor Winter und legte den Arm um seinen jüngsten Sohn, der sich zutraulich an ihn schmiegte. Das kleine Gretchen war sofort auf Evas Schoß geklettert, Martha – die schüchterne – flüchtete zu der Mutter und Edmund trat hinter Wallys Stuhl.
Nachdem wieder Stille eingetreten war, begann Alfred: »Es kann natürlich kein künstlerisches Konzert werden, aber wenn die Zuhörer den Zweck bedenken, so werden sie Nachsicht mit unsren Leistungen haben.«
»Mit unsren?« fragte Eva, während eine helle Röte über Marias Antlitz flog.
Der Blinde lächelte. »Ich rechne auf die Mitwirkung meiner sämtlichen lieben Bundesgenossen.«
Diese Erklärung führte nun einen solchen Aufruhr herbei, daß der Pastor heiter lachte, seine Frau aber warf ihm seufzend einen Blick zu, der deutlich sagte: »Da hast du es, du mußt es ihm abschlagen.«
»Die Idee scheint mir in der That etwas ungeheuerlich, wie du in deiner Vorrede ganz richtig bemerktest, mein Junge; willst du dich nicht näher erklären?«
»Gern, Vater! Maria« – er griff nach ihrer Hand, die sie ihm ängstlich reichte, – »nicht wahr, Sie lassen mich nicht im Stich?«
»Ach, lieber Alfred, ich will ja gerne etwas für Sie thun, aber ich ängstige mich zu Tode, wenn ich vor so vielen Menschen spielen soll.«
»Nicht doch, liebe Freundin, das dürfen Sie nicht; wir spielen unsre alten Stücke, die uns geläufig sind, da schwindet die Angst von selbst. Denken Sie nur immer beim Spiel an die frierenden, hungernden Weber, dann vergessen Sie die Zuhörer. Nicht wahr, Sie wollen?«
»An meinem Willen soll Ihr schöner Plan gewiß nicht scheitern.«
»So ist es recht, mein gutes Kind,« sagte Pastor Winter und legte seine Hand wie segnend auf den blonden Scheitel Marias. »Nicht aus Menschenfurcht und Scheu sollen wir eine gute Absicht unausgeführt lassen; je größer das Opfer, desto mehr Wert hat es. Nun aber weiter, Alfred!«
»Du, Fred, ich kann gut Flöte blasen,« warf Edmund dazwischen.
»Ei, sieh, der kleine Virtuose möchte sich auch schon hören lassen,« neckte ihn sein Vater.
Der Knabe erglühte. »Nein, Vater, gewiß nicht, aber es muß schrecklich sein, zu hungern und zu frieren, ich möchte auch gern etwas thun.«
»Gut, mein Sohn, morgen sollst du Alfred und mir eine Probe deiner Kunstfertigkeit ablegen, dann wollen wir die Entscheidung treffen.«
Die Pastorin seufzte tief und faltete die Hände. »Du kannst doch nicht im Ernste glauben, daß die Leute dafür Geld ausgeben sollen?«
»Laß gut sein, Mutter,« tröstete er sie, gutmütig lächelnd, »wenn es in den Proben nicht klappt, so lassen wir das Ganze.«
»Du guter Vater, du giebst also deine Einwilligung?« rief Alfred erfreut.
»Wenn du mir versprichst, nichts Neues einzuüben, dich nicht unnötig aufzuregen, ja – vorausgesetzt natürlich, daß du noch mehr Hilfstruppen ins Treffen zu führen hast.«
»Dank, tausend Dank, du guter Vater. Und nun, liebe Eva, nicht wahr, Sie singen uns ein paar Ihrer hübschen Lieder?«
»Doch nicht im Konzert?« rief diese erschrocken.
»Ja, versteht sich. Sie haben eine sehr hübsche Stimme; meinst du nicht auch, Vater, daß sie für einen kleinen Saal ausreichend ist?«
»Ich sollte es denken, soviel ich davon verstehe. Ich weiß zwar, liebe Eva, daß deine Tante dich bei deiner großen Jugend nicht gerne singen läßt, aber zu diesem Zwecke wird sie ausnahmsweise erlauben, daß du dich solcherweise hören läßt. Was haben wir noch weiter?«
»Ihr solltet vierhändig spielen, Else und Eva; eure Ouvertüre zu Tantes Geburtstag habt ihr ja wunderhübsch gespielt,« sagte Maria.
»Natürlich,« stimmte ihr Alfred bei, »da haben wir schon wieder eine Nummer, vielleicht ist Else so freundlich und spielt auch allein ein Stück?«
Nachdem diese sich eine Weile hatte bitten lassen, versprach sie, sich ein Musikstück einzuüben.
»Von mir will niemand etwas,« flüsterte Wally der Pastorin schelmisch zu, »sie wissen alle, daß ich nichts kann.«
»Oho, so leichten Kaufs kommst du nicht davon, Wildfang«, rief Eva lachend, »wenn du nur willst, kannst du deine beiden ungarischen Tänze ganz gut lernen.«
»Ach, ja, Wally, thue es!« bat Maria.
»Natürlich thut sie es, Kinder,« sagte der Pastor gut gelaunt, »ihr Name ist uns auf unsrem Programm ganz unentbehrlich.«
»Wieso?« fragte Wally verwundert.
»Nun, manche werden allein schon kommen, wenn sie hören, daß eine Komteß Thalenhorst mitwirkt.«
»Und diese arge Enttäuschung, wenn sie das Komteß Liliputchen sehen, wie Gerd mich zu nennen beliebt. Und wenn sie es gar erst hören! Thut aber nichts, daß sie kommen, ist die Hauptsache. Wißt ihr, wozu ich mich anbieten wollte?«
»Nun – nun?«
»Zur Kassiererin.«
»O Wally, kannst du das fertig bringen?« rief Maria erschrocken.
»Weshalb nicht?« entgegnete die kecke Kleine. »Ihr sollt sehen, das schafft Geld. Wir setzen für jedes Billet fünfzig Pfennig, es steht aber jedem frei, mehr zu geben; außerdem sind die Eintrittskarten nur an der Kasse zu haben, und an dieser präsidiere ich, Wally, Komteß Thalenhorst.«
Sie machte Pastor Winter einen zierlichen Knix und fragte schelmisch: »Wie gefällt Euer Hochehrwürden mein Vorschlag?«
»Vortrefflich, gnädige Komteß,« entgegnete dieser, auf den Scherz eingehend.
»Aber, Gerhard, du sprichst doch nicht im Ernst?« rief die Pastorin erschrocken. »Es ist doch nicht schicklich für ein junges Mädchen, an der Kasse zu sitzen.«
»Für gewöhnlich bin ich ganz deiner Ansicht, liebe Regine, doch in besonderen Fällen, wie ja auch dies Konzert einer ist, hat wohl schon manche vornehme Dame Kassiererin gespielt, weshalb nun nicht auch unsre Wally, besonders wenn sie sich dazu anbietet?«
»Wie glücklich bin ich,« sagte Alfred, und eine reine Freude durchleuchtete sein Antlitz, »es arrangiert sich alles viel leichter und besser, als ich zu hoffen wagte; wie danke ich dir, Vater, daß du so reges Interesse für die Sache hast!«
»Nur ich kann wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten gar nichts thun,« bemerkte Suse, halb lachend, halb bekümmert, »Mutter, weißt du nichts?«
»Da ist schwer zu raten, Suschen, da du weder spielst noch singst, ja, gäbe es zu braten und zu backen, dann wärst du in deinem Element, so kann ich dir aber nicht helfen.«
»Wo findet das Konzert statt, Vater?«
»Ich weiß nicht, Kind, doch wohl im Kurhause, wie, Alfred?«
»Ja, Vater, ich denke, Herr Berger giebt uns seinen Saal umsonst; er ist ein guter Mann und wird wohl für die Sache zu gewinnen sein.«
»Dann habe ich eine Idee,« rief Suse aufspringend, »ich werde zur Verherrlichung des Tages Berliner Pfannkuchen backen.«
»Ach ja, das thu, Suse, die schmecken gut,« rief Gretchen begehrlich, während die übrigen sie verwundert ansahen.
Nur ihr Vater verstand sie und sagte: »Ich glaube nicht, Kind, daß Bergers sich die Bewirtung des auswärtigen Publikums nehmen lassen werden, und es ist auch eigentlich nicht von ihnen zu verlangen.«
»Ihnen bleibt ja noch die Einnahme vom Getränk und Butterbrot, Vater; wenn du es erlaubst, werde ich Frau Berger für meinen Plan zu gewinnen suchen.«
»Du einzige Suse,« rief Wally, die Freundin stürmisch umarmend, »du übertriffst mich doch noch; willst du dein Fabrikat auch selbst ausbieten?«
»Ja, Suse, wie denkst du dir das eigentlich?« rief jetzt Eva, und Else fügte mit leisem Schauder hinzu: »Ich brächte so etwas für die Welt nicht fertig.«
»Ich denke, wir veranstalten eine größere Pause, und da bieten unsre Kleinen sie dem Publikum an,« erklärte Suse.
»Ich will es wohl thun,« rief Rudi, ein sehr unternehmungslustiger kleiner Junge, »du sollst sehen, Suse, ich werde eine Menge los, back nur recht viele.«
»Ich werde auch viele verkaufen,« versicherte Gretchen eifrig, »ist das Konzert nicht schon morgen?«
»Nun, Martha, und du?« fragte Suse die Schwester, während Eva der kleinen Grete erklärte, daß sie ihre Ungeduld noch etwas zügeln müsse.
Martha drängte sich ängstlich an die Mutter und große Thränen traten in ihre blauen Augen, als sie hilfesuchend zu dieser aufsah. »Ich brauche doch nicht, Mutter?« flüsterte sie.
»Aber, Martha, du wirst dich doch nicht allein ausschließen, wenn alle deine Geschwister bereit sind, etwas für die Armen zu thun?« ermunterte die Mutter die schüchterne Kleine.
»Komm einmal her zu mir, Martha!« rief der Vater.
Sie gehorchte zögernd und stand mit tief gesenktem Köpfchen vor ihm.
Er ergriff ihre beiden Hände und sah sie lächelnd an. »Weshalb willst du keine Pfannkuchen verkaufen, kleine Tochter?« fragte er gütig.
»Es ist so schrecklich, Vater,« flüsterte sie, »es sind ja lauter fremde Menschen.«
»Sie ist so furchtbar blöde, Vater,« glaubte hier Rudi zur näheren Erläuterung einwerfen zu müssen.
»Ich weiß, mein Sohn, das ist eine mir leider sehr bekannte Thatsache. Sage mir aber, Martha, thut es dir gar nicht leid, daß die armen Kindern hungern und frieren müssen?«
»Ach ja, lieber Vater, ich will ja auch gern drei Tage für sie hungern, aber Pfannkuchen für sie verkaufen kann ich wirklich nicht. Muß ich es, Vater?«
»Nein, Kind, zwingen wird dich zu dem Liebeswerk niemand, denn ein Opfer, das mit Seufzen, Thränen und widerwilligem Herzen gebracht wird, hat weder vor Gott noch vor Menschen Wert.«
»Vater – du bist mir doch nicht böse?«
»Nein, Kind, aber es betrübt mich, daß du dich noch immer nicht bemühst, deine grenzenlose Schüchternheit zu überwinden; sie wird dir noch viele Qual bereiten, wenn du sie nicht beizeiten bekämpfst, und du bist mit deinen zehn Jahren alt genug, mich zu verstehen, oder begreifst du nicht, was ich meine?«
»Doch Vater,« entgegnete das kleine Mädchen leise.
»Nun, dann denke ernstlich über meine Worte nach, mein Kind.« Er küßte ihr gütig die Stirn und erhob sich.
»Herr Pastor, erlauben Sie, daß wir ein Programm aufsetzen?« bat Eva, »dann weiß doch jede, was sie zu üben hat.«
»Wäre es nicht besser, ihr legtet die ganze Angelegenheit erst deiner Tante vor und bätet um ihren Rat?«
»Ja, Sie haben recht,« gab Eva errötend zu, »wir wissen ja noch gar nicht, ob Tante uns das öffentliche Auftreten überhaupt erlaubt.«
»Wir gehen sogleich und fragen sie,« entschied Wally aufspringend, »dann weiß man doch, woran man ist.«
Die jungen Mädchen kleideten sich sofort an und trennten sich nach herzlichem Abschiede von ihren Freunden.
Der Pastor ging in sein Zimmer, die Pastorin an ihren Nähtisch zurück, und Suse winkte den Kindern, ihr zu folgen. Edmund holte seine Flöte und stürmte damit in Suses Zimmer, um sie von seiner Kunstfertigkeit zu überzeugen und um mit ihr zu beraten, welches Stück er morgen dem Vater und Alfred vorblasen solle.
Suse versicherte ihm zwar, sie verstände nicht das Geringste von Musik, war jedoch gutmütig genug, seiner Bitte zu willfahren, und hörte geduldig zu, wie der Junge alle Stücke, die er konnte und nicht konnte, zum besten gab, obgleich ihr gerade die Flöte ein höchst unsympathisches Instrument war.
Endlich waren sich die Geschwister in der Wahl des Stückes einig und vergnügt zog der Junge ab; am nächsten Morgen nach abgelegter Prüfung jedoch stürmte er hochrot zu Suse und rief zornig: »So, das hab' ich davon, Vater hat mich ausgelacht mit deinem schönen Lied, er sagt, es sei vor sechzig Jahren einmal schön gewesen.«
Suse lachte herzlich. »Ja, siehst du, mein Junge, weshalb fragst du mich um Rat? Was weiß ich, ob ein Lied unmodern wird oder nicht? Ich weiß nur, daß Mutter immer gesagt hat, es sei ein altes schönes Lied: Guter Mond, du gehst so stille durch die Abendwolken hin.«
»Und ich bin so damit reingefallen!« grollte Edmund.
»Laß gut sein, Brüderchen, du sollst auch den schönsten von meinen Berliner Pfannkuchen haben,« tröstete Suse den Bruder, und besänftigt ging er.
Als Suse mittags aus der Schule kam, brachte sie zu aller Freude die Erlaubnis Fräulein Reuters zur Beteiligung am Konzert für ihre Zöglinge. Zu aller Freude ist übrigens nicht ganz richtig ausgedrückt, denn zwei Glieder der Pastorenfamilie waren durchaus nicht erfreut: das waren die Pastorin selbst und die kleine Martha.
Die erstere fürchtete sehr, daß Alfred die Aufregung schaden könne, und sie machte ihrem Gatten sogar sanfte Vorwürfe, daß er so schnell und bereitwillig auf die Idee des Sohnes eingegangen sei.
»Meine liebe Regine,« entgegnete er, »glaube mir, ich habe dazu meine guten Gründe. Wir haben von Alfred das so schwere Opfer verlangt, seine Studien bis auf unbestimmte Zeit hinaus aufzuschieben – wer weiß, ob er seinen Lieblingsplan überhaupt je wird ausführen können. Er hat sich tapfer gehalten, der arme Junge; nicht mit Seufzen und verstocktem Herzen hat er das Opfer gebracht, sondern aus gläubigem, vertrauensvollem, wie ich es auch nicht anders von ihm erwartet habe. Nun glaubte ich aber, ihm eine kleine Entschädigung schuldig zu sein, und weil ich wirklich denke, daß er sich nicht aufregt, gab ich ihm meine Erlaubnis. Glaube mir, das Gefühl, einmal für seine leidenden Mitmenschen wirken zu können, erfrischt ihm Geist und Körper und kann ihm nur gut thun. Bemerkst du denn nicht, daß er heute viel besser und munterer aussieht, als die letzten Tage und daß auch seine Stimmung viel heiterer ist?«
»Das wohl, aber sollte es nicht Aufregung sein?«
»Nein, dafür halte ich es nicht, es ist vielmehr der Ausdruck innerer Zufriedenheit, die ihn lebhafter nach außen werden läßt. Laß ihn nur gewähren, Mutter, du sollst sehen, das Heraustreten aus sich thut ihm gut, und das Konzert ist schließlich nicht allein für die armen Weber von Nutzen, sondern auch für unsern Jungen.«
»Du magst recht haben, Gerhard,« entgegnete die Pastorin seufzend, »du kannst es mir aber auch nicht verdenken, daß mein Mutterherz um ihn bangt und sorgt.«
»Das wehre ich dir auch nicht, liebe Regine.«
Und Martha? Die Kleine ging den ganzen Tag so trübselig einher, daß es jedem auffallen mußte, dennoch erkundigte sich niemand nach ihrem Kummer, und ohne getröstet zu sein, ging sie zu Bett.
Vor dem Schlafengehen hatte die Pastorin die Gewohnheit, noch einmal zu allen Kindern zu gehen, und hatte eins davon am Tage eine Dummheit begangen, war dies der geeignete Augenblick, es zu beichten und die Verzeihung der Mutter zu empfangen.
Die Kleinen schliefen gewöhnlich schon bei diesem Rundgange, heute wunderte sich die Pastorin indessen nicht, daß sie Martha nicht allein noch wach, sondern in heißen Thränen fand.
Sie setzte sich auf den Bettrand zu ihrem Töchterchen und fragte liebevoll: »Nun, sage mir, was fehlt dir, Martha?«
»Ach, Mutter,« brachte die Kleine unter Schluchzen hervor, »glaubst du, daß ich nicht in den Himmel komme, wenn ich keine Pfannkuchen verkaufe?«
»Nein, Kind, der liebe Gott wird dich nicht gleich so schwer strafen, aber, nicht wahr, du fühlst, daß du unrecht thust, wenn du dich weigerst?«
»Ja, Mutter.«
»So bitte Gott um Kraft, daß er dir hilft, deine Schüchternheit zu überwinden, mein liebes Kind; welche Freude würdest du uns bereiten, Marthchen, wenn wir nur deinen guten Willen sähen.«
»Mutter, glaubst du, daß der liebe Gott zufrieden ist, wenn ich sechs verkaufe?« fragte die Kleine zaghaft.
»Gewiß, mein Kind, und wenn es drei sind, so sieht Gott das Opfer deines Herzens gnädig an.«
»Ich will sechs verkaufen!« sagte das Kind nach einem stillen Kampfe mit tiefem Atemzuge.
Die Pastorin küßte den kleinen zuckenden Mund zärtlich: »So ist es recht, meine Martha, und du sollst sehen, wie glücklich du sein wirst, wenn du auch etwas für die Armen gethan hast.«
Martha lächelte unter Thränen und legte sich beruhigt zum Schlummer nieder.
Der Pastor lächelte, als seine Frau ihm das Vorgefallene erzählte, und sagte: »Armes, kleines Herz, für sie wird der Konzerttag ebenso aufregend sein, wie für unsre jungen Künstlerinnen; ich werde sie aber im Auge behalten und ihr helfen, so viel ich irgend kann.«
»Gerhard, du bist im stande, die Pfannkuchen für sie zu verkaufen!« rief die Pastorin entsetzt.
Er lachte belustigt. »Sei ruhig, Mutter, ich werde meine Würde zu wahren wissen.«