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Vierzehntes Kapitel.

Am Montage begann es zu schneien, zur unaussprechlichen Freude der jungen Mädchen.

»Nun giebt es eine herrliche Schlittenbahn,« rief eine der andren zu, und voller Spannung wurde der Himmel betrachtet. Er behielt jedoch seine eintönige düstere Färbung, und es schneite auch am Dienstag unaufhörlich. In der folgenden Nacht fror es scharf, und als am andern Morgen die Sonne schien, war das herrlichste Wetter für eine Schlittenfahrt.

Die nächsten Tage verliefen den jungen Mädchen unter fortwährender Spannung. Das günstige Wetter hielt jedoch an, und am Sonnabend morgen traf die sehnsüchtig erwartete Karte von Herrn Ehrhard ein, mit der Nachricht, daß er mittags um ein Uhr in Wildemann einträfe und bäte, sich um zwei Uhr zur Abfahrt bereit zu halten. Lauter Jubel erfolgte, und noch nie waren die Unterrichtsstunden den jungen Mädchen so langsam hingeschlichen.

Endlich schlug es zwölf Uhr, und alle stürmten in ihre Zimmer, um die Bündel zu schnüren, wie Wally sagte.

Else stand an ihrem Fenster und blickte in den Sonnenschein. Sollte sie mitfahren oder nicht? Vor vierzehn Tagen war sie fest entschlossen gewesen, zu Hause zu bleiben, jetzt dachte sie aber anders über diesen Fall. Sie würde Fräulein Reuter durch ihre Weigerung erzürnen und betrüben, und das brachte sie nicht recht über das Herz, und dann – ja, sie mußte es sich eingestehen, daß sie unendlich neugierig war, Elisabeths Heimat kennen zu lernen, und eine Schlittenfahrt bei so köstlichem Wetter war doch auch kein zu verachtendes Vergnügen. Wenn Elisabeth ihr nur ein einziges Wort gegönnt hätte, eigentlich war es aber doch unmöglich, daß sie mit ihr fuhr, so wie das Verhältnis zwischen ihnen lag.

Schon wollte der alte Trotz in Else aufsteigen, da trat Elisabeth, die sie unruhig beobachtet hatte, zu ihr. »Willst du nicht einpacken, Else?« fragte sie leise.

Diese wandte sich um; Elisabeth sah sehr verlegen und rot aus, man sah, welche Ueberwindung es ihr kostete, das erste Wort an die Gefährtin zu richten. »Ich dachte darüber nach, ob es dir angenehm sein würde, wenn ich mitkäme,« entgegnete sie.

»O, dein Mitkommen wird mich mehr freuen, als das der übrigen,« war die schnelle Antwort.

Nun, das war einmal vernünftig von Müllerliesel, und Else war so gnädig, schnell ihre Sachen zusammen zu packen.

Eine Stunde später standen die Mädchen in ihren Sonntagskleidern bereit, mit freudestrahlenden Gesichtern, jede eine kleine Tasche in der Hand. Muntere Scherzreden und Neckereien flogen hin und her, und Fräulein Reuter blickte lächelnd auf die fröhliche Jugend.

Punkt zwei Uhr erklang ein heiteres Schellengeläute, alle stürmten an die Fenster, und ein großer Schlitten, mit zwei schönen Füchsen bespannt, hielt vor der Thür. Herrn Ehrhards rotes, gutmütiges Gesicht leuchtete vor Freude, als er die jungen Mädchen erblickte, und er schwenkte seinen Hut zum fröhlichen Gruße.

Elisabeth war die erste, die an den Schlitten eilte, den Vater zu bewillkommnen; nun folgte auch Fräulein Reuter mit den übrigen Mädchen, und nachdem alle einen heiteren Gruß mit Herrn Ehrhard gewechselt hatten, war Pohl seiner Herrschaft behilflich, den Schlitten zu besteigen.

»Ich möchte hurra rufen, so vergnügt bin ich,« versicherte Wally, und wer in ihr freudedurchleuchtetes Gesichtchen sah, mußte ihr glauben.

Es war aber auch ein schönes Vergnügen, über die glitzernde Schneefläche dahinzufliegen. Die Fahrstraße führte durch das Thal der Innerste, anfangs den Fluß zur Rechten, dann ihn dreimal überschreitend, zwischen steil aufsteigenden, meist mit Nadelholz bewaldeten Bergen. Die Innerste rauschte und schäumte nun freilich nicht in ihrem Bette, denn sie lag gebannt in strenger Winterhaft, und nur hin und wieder, wo sie besonders geschützt war, regte es sich leise unter der Eisdecke.

Die hohen Tannen und Fichten neigten sich unter der Last des Schnees, lautlos sank wohl, wie ein schimmernder Stern, hier und da ein Teilchen der Schneemasse von den Zweigen hinab ins Thal. Wohl ist der Harz schön im Sommer, doch majestätischer erscheint er uns fast noch im Winter, wo die mächtigen Felsen ernster und finsterer blicken, und die immergrünen Baumriesen ihr weißes Gewand tragen, als hätten sie sich zu einem Feste geschmückt.

Fräulein Reuter machte ihre Zöglinge mehrfach auf die sie umgebenden Naturschönheiten aufmerksam, und mit Entzücken schauten diese um sich. Selbst Elisabeth zeigte sich lebhafter als sonst, was freilich niemand auffiel, ging es doch in ihre Heimat.

Kurz vor Lautenthal verließ Herr Ehrhard die Fahrstraße und lenkte in einen Waldweg ein, der, allmählich aufsteigend, über die Berge führte. Nun ging es eine halbe Stunde wieder bergan, dann glitt der Schlitten in raschem Fluge in ein liebliches Thal hinunter, das von Bergen eingeschlossen war.

»Hier ist unsre Heimat,« rief der Müller und wendete sein gutes Antlitz seinen Gästen zu. »Eine kleine Viertelstunde noch und wir sind da.«

Neugierig sahen sich die Mädchen um. Wie schön war es hier. Rechts stieg ein hoher, steiler Berg auf, bis zum Gipfel mit schönen Fichten bedeckt, zur Seite kam rauschend und schäumend ein breiter Wildbach heruntergestürzt, dessen klares Wasser mit so viel Schnelligkeit dahinfloß, daß er noch nicht gefroren war.

»Das ist mein wertvollster Geselle,« sagte Herr Ehrhard lächelnd, »er treibt meine Mühle Tag und Nacht, und nur wenn er dem Frost nicht widerstehen kann, setze ich meine Maschinen, die durch Dampf getrieben werden, in Bewegung.«

»Wohin fließt dieser Bach, Herr Ehrhard?« fragte die wißbegierige Eva.

»In die Innerste, Fräulein. Er ist ein gar wilder Bursche, der uns im Frühling und Herbst oft unbequem wird.«

Eine aus Stein gebaute Brücke führte über den Bach, und ein freudiges »Ah« der Ueberraschung entfuhr allen. Wie ein Idyll lag die Mühle vor ihnen und ihr fröhliches Klipp-Klapp klang wie ein heiterer Willkommensgruß an ihr Ohr.

Ein hübsches Haus im Schweizerstile erhob sich vor ihren Augen, seitwärts dehnte sich die eigentliche Mühle mit ihrem Betriebe aus, im Hintergrunde schlossen sich die Wirtschaftsräume an. Vor dem Hause, jenseits des Baches, dehnte sich ein großer Garten aus.

Die Mädchen sahen sich verwundert an, so hübsch und großartig hatte sich keins von ihnen Liesels Heim gedacht. Der Schlitten hielt, ein herbeigeeilter Knecht nahm die Zügel in Empfang, und Herr Ehrhard stieg ab. Mit ausgestreckter Hand kam er zu Fräulein Reuter.

»Willkommen in Wallnitz, meine Damen, es gereicht mir zur besonderen Ehre und Freude, Sie in meinem Hause begrüßen zu dürfen.«

Fräulein Reuter entgegnete einige verbindliche Worte, und alle verließen den Schlitten. Zwei Mädchen nahmen das Gepäck in Empfang, und Herr Ehrhard reichte der alten Dame den Arm, sie ins Haus zu führen; neugierig folgten die jungen Mädchen; keine bemerkte, wie blaß Elisabeth aussah, wie ängstlich ihre dunklen Augen blickten. Durch eine Veranda, mit geschnitzten Säulen verziert, die gleichsam hohe Fenster bildeten, traten sie in ein großes, geräumiges Zimmer. Eine schlanke, hohe Frauengestalt trat ihnen entgegen. Konnte das Liesels Mutter sein? Wie vornehm sie aussah! Voller Staunen sahen die Mädchen sich an und verstanden kaum, was die tiefe, klangvolle Altstimme sprach, als sie Fräulein Reuter und ihre jungen Zöglinge willkommen hieß.

Mit gemessener Freundlichkeit begrüßte sie die Mädchen, und Elses Verbeugung fiel unwillkürlich tiefer aus, als sie in die klugen Augen blickte.

Nachdem sie alle begrüßt hatte, schloß sie die Stieftochter in die Arme und küßte deren Stirn, dann hielt sie sie von sich ab und sah ihr prüfend ins Gesicht. Liesel hielt die Augen tief gesenkt, eine glühende Röte bedeckte ihre Wangen, sie fühlte die Blicke sämtlicher Freundinnen auf sich ruhen. »Du hast dich zu deinem Vorteil verändert, das freut mich,« sprach die tiefe Stimme, dann wandte sich Frau Ehrhard und forderte ihre Gäste auf, ihr zu folgen.

»Die Damen legen gewiß am liebsten in den eigenen Zimmern ab,« sagte sie und ein liebenswürdiges Lächeln verschönte das ernste, etwas strenge Antlitz ungemein. »Nachher bitte ich Sie, zum Kaffee in das Wohnzimmer zu kommen, Elisabeth wird Sie führen.«

Ja, wo war Elisabeth geblieben? Als sie auf den Flur traten, erklang eine feine Kinderstimme: »Lisi, Lisi!« Den Ruf hören und den Flur entlang huschen, statt den übrigen zu folgen, war für Elisabeth das Werk eines Augenblickes.

»Sie müssen Elisabeth verzeihen,« sagte Frau Ehrhard zu Fräulein Reuter, »sie begrüßt wohl schnell ihre kleinen Brüder, sie hängen beide mit großer Liebe an ihr, namentlich der kleine Kranke.«

»Sie haben einen Kranken im Hause?« fragte Fräulein Reuter erschrocken, »davon wußten wir nichts und kommen Ihnen natürlich ungelegen.«

»Hat Elisabeth Ihnen nichts von dem kranken Kinde erzählt?«

»Nein,« entgegnete Fräulein Reuter betreten, und es that ihr um Mutter und Tochter leid, daß sie die Wahrheit sagen mußte, »Liesel gehört zu den verschwiegenen Naturen, die nichts ausplaudern,« setzte sie scherzend hinzu.

»Unser Sohn hat als kleines Kind einen bösen Fall gethan und leidet seitdem am Rücken, er wird niemals gehen können.« Die tiefe Stimme klang hart und kalt, und eine Falte erschien zwischen den Augen.

Fräulein Reuter sprach einige teilnehmende Worte, Wally aber stieß Eva an und flüsterte ihr zu: »Wie wunderlich Liesel doch ist, aber paß auf, das hängt mit ihrem Geheimnis zusammen.«

Frau Ehrhard hatte ihre Gäste inzwischen die Treppe hinauf und über einen breiten Korridor geführt. Mit einladender Handbewegung öffnete sie eine Thür und alle traten in ein reizendes Giebelstübchen, an das sich ein zweites schloß. Von jedem führte eine Glasthür auf einen Balkon, der den ganzen Giebel umfaßte.

»Ich bitte Sie, liebes Fräulein, es sich hier bequem zu machen,« sagte die Wirtin, »es sollte mich aufrichtig freuen, wenn Sie sich bei uns heimisch fühlten.«

»Das Gegenteil wäre bei so vieler Liebenswürdigkeit unmöglich, meint ihr nicht auch, Kinder?«

»Ja, freilich, Tantchen, es ist das reine Märchen, und Liesel ist die verwunschene Prinzessin,« rief Wally, bereute aber ihre Worte, als sie die Wolke auf Frau Ehrhards Stirn sah.

Diese führte nun ihre jungen Gäste über den Flur hinüber, wo sich an der gegenüberliegenden Seite der zweite Giebel befand, ganz so gebaut wie der andre. »Hier richten sich wohl vier von Ihnen ein,« sagte sie freundlich, »für die besondere Freundin meiner Tochter, mit der sie auch in Wildemann ein Zimmer teilt, habe ich ein Bett in Elisabeths Zimmer stellen lassen, weil ich beiden einen Gefallen zu thun glaubte.«

Else wurde feuerrot und stammelte einige Worte des Dankes. So hatte Elisabeth nie über ihr feindseliges Benehmen den Eltern gegenüber geklagt, das war wirklich hübsch von ihr, und Else fühlte sich tief beschämt. Liesel war inzwischen erschienen und sah sehr heiß und erregt aus.

»Führe deine Freundin in euer Zimmer,« gebot ihre Mutter, nickte den jungen Mädchen freundlich zu und ging.

Alle sahen sich einen Augenblick stumm an, dann lachte Wally hell auf, sprang zu Else und umarmte sie lebhaft. »Sei nicht böse, Prinzeßchen,« schmeichelte sie, »aber dein Gesicht war zu köstlich, ich muß lachen.«

»O Wally, wie kannst du nur,« sagte Maria, »unsre Else ist so lieb gewesen in letzter Zeit, daß sie etwas andres verdient, als ausgelacht zu werden.«

»Bist du böse, Prinzeßchen?«

Else lächelte und strich über die krausen Löckchen der Kleinen: »Nein, Wally, ich habe dich zu lieb, und dann habe ich mir auch ernstlich vorgenommen, nicht empfindlich zu sein.«

»Brav, Prinzeßchen,« rief Eva, und Wally setzte hinzu: »Habe ich es euch nicht gesagt, Kinder, daß das Prinzeßchen das liebenswürdigste Geschöpf durch den intimen Verkehr mit uns würde?«

»Wollt ihr nicht endlich eure Taschen auspacken und euch fertig machen? Frau Ehrhard wartet sonst mit dem Kaffee auf uns,« mahnte Suse.

»Ja, Suse, du hast recht,« rief Maria.

Elisabeth, die bis dahin still am Fenster gestanden, trat jetzt hinzu und sagte stockend: »Vielleicht willst du lieber in diesem Zimmer bleiben, Else, sage es nur, ich bitte dann Maria, mein Zimmer mit mir zu teilen.«

Verwundert horchten die Mädchen auf und sahen erwartungsvoll auf Else; doch diese, bezwungen von Elisabeths Großmut, streckte ihr mit anmutiger Bewegung die Hand hin und sagte: »Im Gegenteil, Lisa, ich freue mich, dein Zimmer mit dir teilen zu dürfen; es ist so hübsch von dir, daß du deiner Mama nichts Schlechtes von mir gesagt hast.«

Da fühlte sie sich plötzlich umschlungen, und Eva sah ihr leuchtenden Auges ins Gesicht: »Wir haben uns nie sehr geliebt, Else, aber um diese Worte muß ich dich lieben, Prinzeßchen«. Sie küßte die froh erstaunte Else, die ihre Zärtlichkeit herzlich erwiderte.

Maria drückte Elisabeth warm die Hand. »Jetzt erst wirst du dich glücklich bei uns fühlen, Lisa,« sagte sie erfreut.

Diese seufzte tief. »Ihr seid alle so gut, so edel, aber glücklich kann ich nicht sein,« entgegnete sie, und Thränen stürzten über ihr Gesicht.

»Ums Himmels willen, Lisel, was fehlt dir?«

»Ach, mein Bruder, mein armer kleiner Bruder.«

»Das ist also dein Leid? O Lisi, weshalb hast du dich nicht ausgesprochen, wir hätten dich doch trösten können.«

»Habt ihr wohl berühmte Aerzte zu Rate gezogen?«

»Ich werde an Onkel schreiben,« rief Else eifrig, »vielleicht kann der deinem Bruder auch helfen.«

»Kinder, da geht Tante Helene schon hinunter, beeilt euch!« rief Suse.

Elisabeth trocknete hastig die Thränen und faßte Elses Hand: »Komm,« sagte sie, »in fünf Minuten bin ich wieder hier, euch zu holen.« Sie zog Else mit sich und führte sie in ein hübsches Zimmer, das die Aussicht seitwärts auf den Weg bot, den sie gekommen waren; eine helle, geräumige Kammer mit zwei Betten stieß an dasselbe.

»O Liesel, wie hübsch du es hast,« rief Else überrascht aus, »es ist überhaupt wunderhübsch bei euch.«

Ein freundliches Lächeln flog über das blasse Gesicht. »Ja, unsre Heimat ist schön und wir könnten sehr glücklich sein, wenn Erni nur gesund wäre.«

Else verstand sich schlecht auf das Trösten, sie wußte nichts zu sagen als: »Er ist ja noch klein, vielleicht kann er doch noch besser werden.«

Liesel seufzte, und beide Mädchen beeilten sich, fertig zu werden.

Nach fünf Minuten eilten alle in das Wohnzimmer, ein ungemein behaglicher Raum, wo das Ehrhardsche Ehepaar schon mit Fräulein Reuter am Kaffeetische saß.

»Ihr laßt lange auf euch warten,« rief letztere den jungen Mädchen entgegen.

»Entschuldigen Sie, Frau Ehrhard, wir haben uns verplaudert,« bat Eva.

»Du übernimmst wohl die Kaffeeschenke, Elisabeth,« sagte Frau Mathilde, und Liesel, die nun an solche Dienste gewöhnt war, waltete geräuschlos ihres Amtes, zur Freude ihres Vaters, der fast kein Auge von ihr wandte.

Während seine Frau sich mit Fräulein Reuter unterhielt, neckte er sich mit den jungen Mädchen, die schon sämtlich gut Freund mit ihm waren. »Wenn es den jungen Damen angenehm ist, wird es mir ein Vergnügen sein, Sie nach dem Kaffee in meine Mühle zu führen,« sagte er freundlich.

»Dann müssen wir wohl bald gehen, nicht wahr, Papa?« fragte Elisabeth, »bei Tageslicht ist doch alles hübscher, als bei Lampenbeleuchtung.«

»Wir beeilen uns nach Kräften,« versicherte Wally und griff mit schelmischer Miene nach einem Stück Kuchen. »Ich muß sehr um Entschuldigung bitten, Frau Ehrhard, ich bin aber unerlaubt hungrig, und Ihr Kuchen schmeckt wirklich ausgezeichnet.«

»Das ist mir eine rechte Freude, Komtesse,« war die freundliche Antwort.

»Ich möchte mich wohl der Mühlenbesichtigung anschließen, Herr Ehrhard,« sagte Fräulein Reuter, und nach dessen Versicherung, daß es ihm eine Ehre sein würde, brachen alle auf und gingen in das dreistöckige Gebäude, aus dem ihnen das fröhliche »Klipp-Klapp« entgegenschallte.

»Gehen wir zuerst in das höchste Stockwerk, damit Sie alles gründlich kennen lernen; aber ein bißchen Mehlstaub müssen Sie nicht scheuen, meine Damen.«

Leichte, bequeme Treppen führten von einem weiten Raume in den andern, überall herrschte reges Leben, und weiß bestäubte Gesellen mit frohen Gesichtern traten ihnen entgegen. Mit höchstem Staunen sahen die Mädchen sich um, so großartig hatten sie sich einen Mühlenbetrieb nicht gedacht.

Im oberen Stockwerk angelangt, zeigte ihnen der Müller, wie das Korn, hier Roggen und dort Weizen in die Behälter gethan und von den mächtigen Maschinen zerstampft wurde. Voller Interesse sahen die Mädchen zu. Ei, wie die ungeheuren Walzen, die aus hellem, klaren Glas bestanden, die Körner faßten und zermalmten, daß auch kein einziges Körnlein entschlüpfte. Das noch sehr grobe Mehl lief durch große Trichter in das zweite Stockwerk, wo es zum zweiten- und drittenmal gemahlen und von der zurückgebliebenen Kleie gesondert wurde.

»Weshalb stehen diese Maschinen still?« fragte Eva, als sie über den weiten Raum schritten.

»Das sind die Dampfmaschinen, kleines Fräulein,« erklärte der Müller, »sehen Sie, jetzt treibt der Wildbach die andern Maschinen, friert er aber, so setzen die Dampfmaschinen ein; diese sind nicht ganz billig zu unterhalten, die Wasserkraft aber kostet kein Geld. Was meinen Sie nun aber, meine jungen Damen, möchten Sie nicht mittels des Aufzuges in den zweiten Stock hinunterfahren?«

»Ach ja, bitte, Herr Ehrhard, behandeln Sie uns als Säcke,« bat Wally lebhaft, und auch die übrigen stimmten ihr bei, nur Fräulein Reuter schüttelte den Kopf, und erst als Herr Ehrhard ihr versicherte, daß durchaus keine Gefahr damit verbunden sei, gab sie ihre Einwilligung zu dieser Beförderung.

Gespannt scharten sich die jungen Mädchen um den Müller, der in die Tiefe hinabrief: »Heda, Wolker, die Damen wünschen hinunterzufahren.«

»Jawohl, Herr,« klang es zurück. Die Mehlsäcke wurden rasch abgeladen und der Fahrstuhl, der an allen Seiten offen war, schwebte in die Höhe. Ein Müllerknecht säuberte ihn vom Mehl und der Müller betrat ihn. »Wer will die erste sein?« rief er.

»Ich – ach bitte!« rief Wally und sprang behend hinauf.

Herr Ehrhard legte leicht den Arm um sie. »Geben Sie mir die Hand, Komteßchen, und nun vorwärts!« Langsam schwebten beide hinab, während die andern zusahen. Wallys helles Jauchzen klang nach einer Weile hinauf. »Glücklich angekommen, Tantchen, es war herrlich.«

Nun erschien der Müller wieder, brachte einen um den andern seiner Gäste hinab und zeigte ihnen nun auch in dem mittleren Raume alles, was für sie von Interesse sein konnte. Inzwischen war das Tageslicht gesunken, große Lampen, die an den Balken hingen, wurden angezündet und verbreiteten genügende Helle über den weiten Raum.

»Wie viele Arbeiter beschäftigen Sie in der Mühle, Herr Ehrhard?« fragte Fräulein Reuter.

»Zwanzig, mein verehrtes Fräulein; vierzehn kommen aus dem nahe gelegenen Dorfe Wallnitz, sechsen gebe ich Kost und Logis.«

Die jungen Mädchen betrachteten den ihnen so einfach erschienenen Müller jetzt mit ganz andern Augen, als am ersten Tage ihrer Bekanntschaft; mit welcher Ruhe und Umsicht erteilte er seine Befehle, und mit welcher Ehrerbietung betrachteten ihn seine Untergebenen, wahrlich, er war ein König in seinem kleinen, selbstgeschaffenen Reiche.

Sie fuhren nun in das letzte Stockwerk, wo die Säcke mit dem fertigen Mehl sortiert und abgewogen wurden.

»In diesem Raume liegen auch die Stuben für meine Leute und hier mein Kontor.« Er öffnete eine Thür, und alle betraten einen hohen, luftigen Raum; man sah auf den ersten Blick, daß es das Arbeitszimmer eines Herrn war.

Alle dankten dem freundlichen Manne und sprachen ihm ihre Freude über das Gesehene aus. Herr Ehrhard geleitete die Gesellschaft in das Wohnhaus und kehrte dann in die Mühle zurück.

»Lisi, dürfen wir nicht deinen kleinen kranken Bruder sehen, oder ist es schon zu spät?« fragte Maria.

»O nein, er geht erst gegen sieben Uhr zu Bett, kommt nur mit,« entgegnete Elisabeth und führte die Freundinnen in das Kinderzimmer, aus dem ihnen fröhliches Lachen entgegenscholl. Ein junges Mädchen, das nähend am Tische saß, erhob sich und knixte verlegen, Karlchen sprang jubelnd auf, und von dem Ruhebett streckten sich den Eintretenden zwei Aermchen entgegen.

»Lisi, kommst du endlich? Und all die vielen Mädchen, o!« Seine klugen grauen Augen schweiften mit glänzendem Blick über die sich Herandrängenden, und er griff jauchzend nach Wallys Lockenkopf, der sich zu ihm neigte. »Du hast ebensolche Zottelhaare, wie unsre Finette, nicht Karl?«

»Das darfst du nicht sagen, Erni,« mahnte Elisabeth, die an seinem Lager niedergekniet war und ihn umschlungen hielt.

Der Kleine streichelte mit seinen mageren Händen ihr Gesicht und sprach lebhaft weiter: »Ich mag euch gern leiden, ihr seid alle gut gegen meine Lisi, nicht? Ich hab' meine Lisi so lieb.« Das Mädchen drückte ihr Gesicht in das weiche blonde Haar des Kindes, und ihr heftiges Atmen bewies ihre Erregung. Die jungen Mädchen streichelten den Kleinen und sprachen mit ihm und allmählich beruhigte sich Elisabeth etwas und nahm an der Unterhaltung teil.

Der Kleine war trotz seines elenden Zustandes lebhafter als sein älterer Bruder, der sich an Marias Seite gedrängt hatte und sie aufmerksam betrachtete. Das Ergebnis dieser Betrachtung war die plötzliche Bemerkung: »Dich mag ich am liebsten leiden, du bist am hübschesten.«

Ein fröhliches Lachen folgte der Erklärung und Eva rief: »Es ist arg, daß unser Baby den ersten Verehrer von uns findet.«

»Woran leidet der Kleine eigentlich, Lisa?« fragte Suse, »wodurch ist er in diesen Zustand gekommen?«

Elisabeth starrte die Fragerin schreckensbleich an, fing heftig an zu zittern und eilte plötzlich, ihrer selbst nicht mehr mächtig, aus dem Zimmer.

Betroffen sahen sich die Freundinnen an, und das Kindermädchen sagte verlegen: »Unser Fräulein kann nicht davon sprechen, es soll ja schrecklich gewesen sein.«

»Was denn, ach, erzählen Sie doch,« drängte Wally.

»Das Kindermädchen war fortgegangen, und da ist das Kind aus dem Wagen gefallen und hat wie tot dagelegen, und nachher war das Kreuz krank und es konnte nicht laufen lernen. Unser Fräulein kann dieses Unglück nimmer vergessen und quält sich viel darum.«

Die Mädchen liebkosten mitleidig den Kleinen, wünschten ihm und Karlchen gute Nacht und gingen, sich nach Elisabeth umzusehen.

Diese kam ihnen schon entgegen. »Verzeiht,« sagte sie, doch Suse umarmte sie und bat: »Sei doch nicht böse, Lisi, daß ich so dumm fragte, ich hätte es mir denken können, daß du nicht darüber sprechen magst. – Was fangen wir aber jetzt an?«

»Irgend ein hübsches Spiel,« schlug Else vor.

»Mama hat zu dem Zweck den Saal heizen lassen, damit wir ordentlich Raum haben sollten,« entgegnete Elisabeth, führte die Freundinnen nach der andern Seite des Flurs und öffnete die Thür. Heller Lichterglanz leuchtete ihnen entgegen, jubelnd ergriff Wally Evas Arm und wirbelte mit ihr über den glatten Fußboden: »Es ist reizend bei dir, Liesel,« rief sie dann, »ich habe nie gedacht, daß es in einer Mühle so schön sein könnte.«

Unter fröhlichem Spiel verging die Zeit und alle waren erstaunt, als zum Abendbrot gerufen wurde.

»Wir können durch Papas Zimmer gehen,« sagte Liesel und führte ihre Freundinnen durch dasselbe.

»O Liesel, ist das deine Mama?« fragte Wally leise und deutete auf eine große kolorierte Photographie, die über dem Schreibtisch des Hausherrn hing. Elisabeth nickte, und stumm schauten alle Mädchen auf das Bild. Ja, es war Liesel und doch auch wieder nicht. Es waren zwar die dunklen Augen, das nußbraune Haar, das ovale, etwas bleiche Gesicht, aber könnte Elisabeth jemals diesen lieblichen, kindlich frohen Ausdruck haben? Stumm drückten sie Liesels Hand und gingen in das Eßzimmer, das an die Veranda stieß, und das mit seiner langen, hübsch gedeckten Tafel, dem brennenden Armleuchter und den vielen Hirschgeweihen einen gar stattlichen Eindruck machte. Das vortrefflich zubereitete Abendessen mundete allen vorzüglich und die Stimmung war heiter und belebt.

»Für gewöhnlich essen wir im Souterrain, in dem auch die Wirtschaftsräume liegen,« erklärte Frau Ehrhard auf eine Frage Fräulein Reuters, »wir ziehen auch unsre sieben Leute, die alle einen besseren Posten bekleiden, zu den Mahlzeiten heran; meinem Manne ist es lieber und mir macht es weniger Umstände.«

»Ja, sehen Sie Fräulein,« mischte sich hier der Müller ins Gespräch, »bei mir ist das Verhältnis zwischen Herrn und Knecht noch wie es vor alten Zeiten war, und ich stehe mich gut dabei. Meine Leute wissen, daß ich nichts weiter sein will, als ein einfacher Müller, und sie haben Liebe und Vertrauen zu mir, eben weil ich sie als meinesgleichen behandle. In meinem Hause habe ich auch den alten Brauch der Abend- und Morgenandacht aufrecht erhalten und lasse auch mein Gesinde daran teilnehmen, denn ohne Gebet ist kein Segen.«

»Sie haben recht,« entgegnete Fräulein Reuter, »es wäre gewiß besser und trüge zur sittlichen Hebung unsres Volkes bei, wenn diese alte schöne Sitte aufrecht erhalten würde.«

»Sie sprechen mir aus der Seele, verehrtes Fräulein,« rief der Müller eifrig, »das ist der schlimmste Schaden, an dem unser Volk krankt, daß es das Gebet abgeschafft hat, und die Zeiten werden nicht eher wieder besser, als bis die Gottesfurcht wieder tiefere Wurzeln gefaßt hat.«

»Wenn ich recht verstanden habe, Herr Ehrhard, haben Sie die Mühle von Ihrem verstorbenen Vater übernommen?« fragte Fräulein Reuter, als man vom Tisch aufgestanden war und wieder im traulichen Wohnzimmer saß.

»Freilich, Fräulein, aber denken Sie nur nicht: da hat sich der Alte ja gleich recht weich gebettet – das war durchaus nicht der Fall. Nachdem ich meinen fünf Geschwistern ihr Erbteil ausgezahlt hatte, fehlte mir das nötige Betriebskapital, und ich mußte mit Schulden beginnen. Das waren schwere Jahre, und meine Lisi und ich mußten tüchtig arbeiten. Wir thaten es aber gern und waren glücklich und zufrieden wie die Kinder, und ich hätte mit keinem Könige getauscht, wenn ich Frau und Kinder sah. Gott segnete unsern Fleiß denn auch sichtlich; nie vergesse ich den Tag, als unser neuer Mühlenbau gerichtet wurde, wie froh und dankbar waren wir! Zwei Jahre später bauten wir uns unser hübsches Wohnhaus, denn das alte war gar baufällig geworden und dann – ja dann legte sich meine Lisi hin und starb.«

Die jungen Mädchen sahen ihn voller Teilnahme und Frau Mathilde voll scheuer Neugierde an, sie strickte aber eifrig weiter, als ginge sie die ganze Unterhaltung nichts an.

Herr Ehrhard wurde etwas verlegen in der nun entstehenden Pause und sah sichtlich erleichtert auf, als Fräulein Reuter freundlich sagte: »Nun hat das Glück zum zweitenmal Einzug bei Ihnen gehalten, Gott schütze es Ihnen.«

Er nickte eifrig und streckte seiner Frau die Hand hin. »Dafür danken wir Gott auch täglich, nicht wahr, Mutter?«

Sie sah ihn freundlich an. »Ja, Hans, wenn wir auch viel Leid haben, so bleibt uns doch immer noch genug zu danken.«

»Das mein' ich auch, zum Glücklichsein fehlt uns nichts, denn das wahre Glück muß jeder in der eigenen Brust tragen, nicht wahr, meine Kleine?« Er legte den Arm um Liesel und zog sie zu sich heran. »Sag' mal, Kind, wodurch siehst du so anders aus?« fragte er, sie prüfend ansehend.

»Ich habe sie frisiert, Herr Ehrhard,« sagte Wally lachend.

»Sieh, sieh, das laß ich mir gefallen, so feine, geschickte Fingerchen werden schon etwas Hübsches zu stande bringen.«

Die Unterhaltung wurde nun allgemeiner, auch Frau Ehrhard wurde mitteilsamer und erzählte aus ihrer Jugend. Sie war als einziges Kind ihrer Eltern recht einsam in einer Landpfarre aufgewachsen, hatte beide Eltern früh verloren und war als Erzieherin in die Welt gegangen.

»Es ist ja ein schöner Beruf, wenn man noch eine Heimat hat, in der man sich von Zeit zu Zeit ausruhen und erfrischen kann,« sagte sie, »wenn man aber keinen Menschen in der weiten Welt sein eigen nennt, so ist es schwer, von einem Hause zum andern zu wandern, und ich war Gott von Herzen dankbar, als mir die schöne Aufgabe zu teil ward, hier die leer gewordene Stelle einer Hausfrau und Mutter auszufüllen.«

Fräulein Reuter drückte ihr warm die Hand, und der Müller sagte befriedigt: »Das war Gottes Werk, er hat uns zusammengeführt, und ich bin ihm mein Lebtag dankbar dafür.«

Die jungen Mädchen sahen mit mehr Teilnahme und Interesse auf die ernste Frau als bisher; wenn sie nur etwas heiterer gewesen wäre, eine gewisse Scheu blieb ihnen doch.

Der Abend verlief allen in angenehmer Weise. Mit dem Schlag neun traten sämtliche Arbeiter, Knechte und Mägde ins Zimmer. Der Hausherr erhob sich, nahm die große Bibel und las ein Kapitel aus derselben vor, dann sprach er ein kurzes Gebet, in dem er Gott für den Segen des Tages dankte und um seinen Schutz für die Nacht bat. Mit einem freundlichen »Gute Nacht« ging das Gesinde, und auch Fräulein Reuter forderte ihre Zöglinge auf, sich zur Ruhe zu begeben. Die jungen Mädchen gehorchten, und obgleich sie sich vornahmen, noch lange miteinander zu plaudern, so lagen sie doch alle schon in festem Schlafe, als die Uhr zehn schlug.

Am nächsten Morgen besichtigte die junge Reisegesellschaft zuerst das ganze Haus, dann ließ Herr Ehrhard anspannen und fuhr mit seiner Frau und seinen Gästen nach Lautenthal zur Kirche. Es war eine köstliche Schlittenfahrt durch den frischen, sonnenhellen Morgen, und die jungen Mädchen meinten, schöner könne es hier im Sommer nicht sein.

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»Davon sollen Sie sich selbst überzeugen,« sagte der Müller lächelnd, »ich hoffe, sie alle sind nicht zum letztenmal hier.« Nach der Kirche machte er mit der Jugend einen Gang durch das saubere, hübsche Städtchen, dann kehrten alle nach der Mühle zurück, zum fröhlichen Mittagsmahle.

»Was fangen wir jetzt an?« fragte Herr Ehrhard nach demselben, »was sagen meine jungen Freundinnen zu einem Spaziergange?«

Die Mädchen waren mit Freuden bereit, nur Suse erklärte, zu Hause bleiben zu wollen, um die Kochrezepte abzuschreiben, die Frau Ehrhard ihr geliehen. Sie wurde zwar weidlich ausgelacht, ließ sich aber nicht irre machen, und erst als die Hausfrau ihr freundlich erlaubte, die Rezepte mitzunehmen und sie daheim in aller Muße abzuschreiben, willigte sie ein und begleitete die Freundinnen.

Während die jungen Mädchen ins Freie eilten, zog sich Fräulein Reuter mit der Hausfrau zu einem gemütlichen Plauderstündchen in deren Zimmer zurück. Die Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um Elisabeth, und Frau Ehrhard sprach die Hoffnung aus, daß der Einfluß der heiteren jungen Mädchen günstig auf Elisabeths ernsten und verschlossenen Charakter wirken möge.

Zur Kaffeestunde erschien Herr Ehrhard mit seinen Schützlingen wieder, und diese konnten nicht genug von der hübschen Umgebung von Wallnitz erzählen.

Nachdem der heiße Trunk eingenommen war, trieb Fräulein Reuter zum Aufbruch, und obgleich Herr Ehrhard eine mondhelle Nacht in Aussicht stellte, ließ sie nicht Ruhe, und er beorderte das Anspannen.

Alle saßen schon im Schlitten, nur Elisabeth fehlte noch.

»Wo bleibt das Mädel nur?« fragte ihr Vater.

»Sie wird noch bei Ernst sein,« entgegnete Frau Mathilde, »lauf ins Haus, Karlchen, und hole sie.«

Da kam Liesel aber schon, küßte hastig den Bruder und trat mit niedergeschlagenen Augen und blassem Gesicht vor die Mutter: »Adieu, Mama,« flüsterte sie.

Frau Ehrhard schloß sie in ihre Arme: »Adieu, mein liebes Kind, Gott schütze dich,« sagte sie liebreich und wollte sie küssen, doch Elisabeth entwand sich ihr und eilte zum Schlitten.

Mit einem leisen Seufzer blickte Frau Ehrhard ihr nach, doch schon zogen die mutigen Pferde an, und fort flog der Schlitten unter dem lustigen Tücherschwenken der Insassen. Von der Brücke aus wurde der letzte Gruß getauscht, dann war die gastliche Mühle den Blicken unsrer Freunde entschwunden.

»Wie schade, daß diese beiden schönen Tage vorüber sind,« rief Wally, »es ist hübsch bei Ihnen, Herr Ehrhard.«

Die übrigen Mädchen stimmten ihr eifrig bei, und der Müller nickte ihnen höchst befriedigt zu: »Es freut mich lebhaft, meine jungen Freundinnen, daß es Ihnen bei mir gefallen hat, hoffentlich beweisen Sie das durch eine baldige Wiederholung Ihres Besuches.«

»Das würde doch wohl zu viel für Ihre liebe Frau, Herr Ehrhard,« entgegnete Fräulein Reuter. Das wollte dieser indessen nicht gelten lassen, sondern er versicherte, seine Frau sähe ebenso gerne Gäste, noch dazu so junge, fröhliche, in der Mühle wie er.

Sie hatten die Fahrstraße noch nicht erreicht, als der Himmel sich plötzlich verfinsterte und sich ein scharfer Wind erhob. Die jungen Mädchen mußten sich in Tücher hüllen, die sie bei sich hatten, und Herr Ehrhard trieb die Pferde zu schnellerem Laufe an. Die Sonne hatte sich längst verkrochen, und bald begann es erst wenig, dann immer heftiger zu schneien.

Fräulein Reuter erschrak, sie kannte die Gefahren, welche im Gebirge bei solchem Wetter mit einer Fahrt verbunden sind, gar wohl; zwar suchte Herr Ehrhard sie zu beruhigen, doch auch sein Gesicht ward ernst und besorgt sah er in die wild vom Sturme gepeitschten Flocken, die in immer dichteren Massen vom Himmel herunterfielen.

Das Lachen und Schwatzen der jungen Mädchen verstummte allmählich, sie waren auf des Müllers Geheiß von ihren Sitzen heruntergeglitten und saßen dicht aneinander geschmiegt, da sie so mehr Schutz vor dem Unwetter fanden.

Fräulein Reuter zog Wally und Maria dicht zu sich heran und war in banger Sorge um die ihr Anvertrauten. Wally hatte anfangs noch heitere Scherzworte aus ihrer Umhüllung hervor gerufen, nun ward sie indessen stiller und drängte sich enger an die alte Dame, die immer wieder fragte: »Wally, friert dich?« und immer wieder versicherte das Komteßchen, sie sei so warm wie ein frisch gebackener Kuchen.

Das Tageslicht schwand erschreckend schnell. Langsam nur glitt der Schlitten vorwärts. Der Sturm trieb den Schnee in so dichten Massen den Pferden entgegen, daß sie nur mit Mühe vorwärts kommen konnten. Von Zeit zu Zeit wandte sich Herr Ehrhard, seinen Gästen durch freundlichen Zuruf Mut einzusprechen, der Sturm nahm jedoch immer mehr an Gewalt zu und übertönte fast seine Worte. Ein dumpf krachendes Geräusch hatte die Reisenden schon verschiedene Male erschreckt. Jetzt erklang es in ihrer unmittelbaren Nähe, und in dem Scheiden des grauen Dämmerlichtes sahen sie eine Fichte über den Weg hin und her schwanken. Es war ein großer schlanker Baum, der vereinzelt am Fuße des Berges stand und der dem Sturme völlig preisgegeben war. Er peitschte ihn unbarmherzig auf und nieder, und jetzt stürzte er mit einem lauten Krach quer über den Weg. Die Pferde bäumten sich hoch auf vor Schreck, und nur mit Aufbietung aller seiner Kräfte gelang es dem Müller, sie zum Stehen zu bringen.

»Ich muß absteigen, Liesel, traust du dich, die Zügel zu nehmen, Kind?«

»Ja Papa, du weißt, ich verstehe zu fahren.« Sie nahm die Zügel, während der Vater abstieg und zu den zitternden Pferden trat. Er streichelte sie und redete ihnen freundlich zu, dann begann er, das Hindernis aus dem Weg zu räumen.

»Verhaltet euch ganz ruhig, Kinder,« mahnte Fräulein Reuter, »ein unvorsichtiger Laut kann die erschrockenen Tiere jetzt wild machen.«

Unter Herzklopfen sahen alle Herrn Ehrhard zu; wenn er nur erst wieder auf dem Schlitten säße!

»Kannst du die Pferde halten, Lisi?« fragte Maria zitternd.

»Ja, Mieze, sei ruhig, ich halte sie sicher,« erwiderte Elisabeth vollkommen gefaßt.

»Es ist gerade wie damals auf unsrem Wege nach den Steinbrüchen,« flüsterte Else, »wenn noch mehr Tannen herniederstürzen, dann – »sie hielt schaudernd inne und ängstlich schmiegten sich die Mädchen aneinander.

Nun war der Baum beseitigt und die Fahrstraße frei. Dunkelrot von der Anstrengung stieg der Müller wieder auf und langsam ging es weiter.

»Wir sind doch noch auf dem rechten Wege, Herr Ehrhard?« fragte Fräulein Reuter zaghaft.

»Seien Sie ohne Sorgen, es führt nur der Fahrweg nach Grund ab, und an dem sind wir bereits vorüber. Es geht nur so langsam mit dem Weiterkommen, sonst müßten wir längst in Wildemann sein, lange kann's nun aber nicht mehr währen.«

Die Fahrt ward immer unheimlicher, denn die Nacht sank immer mehr herab. Mühsam schleppten sich die Pferde durch den sich immer höher türmenden Schnee. Das größte Hindernis waren die Schanzen, die der Sturm zusammentrieb.

Endlich erklang das ersehnte Wort: »Licht« – und »Gott sei Dank, wir sind dicht vor Wildemann.«

Fräulein Reuter atmete erleichtert auf, die jungen Mädchen jubelten und steckten die Köpfe aus ihrer Umhüllung hervor, krochen aber eilig wieder unter, als ihnen der Wind den eisigen Schnee ins Gesicht trieb. Nach kurzer Zeit hatten sie die ersten Häuser erreicht, die außerhalb des Städtchens lagen, und nun grüßten die heimatlichen Lichter sie mit ihrem freundlichen Schein.

Da trat eine hohe Gestalt dem Schlitten hastig entgegen: »Herr Ehrhard, Sie? Gott sei gelobt, wir sind in banger Sorge um Sie alle gewesen.«

»Vater,« jubelte Suse, »Vater!«

Der Schlitten hielt, nach kurzer Begrüßung hob Pastor Winter seine Tochter aus den Decken, versprach zu Fräulein Reuter zu kommen, sobald er Susanne zu Hause abgeliefert habe, und führte diese durch Nebenstraßen zu der ängstlich harrenden Mutter.

Als der Schlitten vor Fräulein Reuters Hause hielt, war Herrn Ehrhards Kutscher, der wieder mit dem Zuge vorausgefahren war, schon zur Stelle und lenkte, nachdem alle abgestiegen waren, zum Gasthause, damit die ermüdeten Tiere sich ausruhen konnten.

Wie wohlthuend empfing die gemütliche Wärme unsre Reisenden; nun schnell aus den nassen Hüllen, der Theetisch winkte gar einladend und der Kessel summte ein behagliches Lied. Bald saßen alle um den Tisch und wärmten sich an dem heißen Getränk. Pastor Winter erschien ebenfalls und ließ sich alle Einzelheiten der Fahrt und des Aufenthaltes in der Mühle erzählen. Die jungen Mädchen hatten die Aufregung und die Unbill der Witterung schnell verwunden, aber Fräulein Reuter lehnte blaß und erschöpft im Sofa, und die beiden Herren erhoben sich früh, zu gehen. Elisabeth beschwor den Vater, bei diesem Wetter nicht heimzukehren, sie würde sich halb tot ängstigen.

»Kleines Närrchen,« entgegnete er lachend, »die Pferde müssen sich erst einige Stunden ausruhen und dann wird es wohl klarer werden und aufhören zu schneien.«

»Beruhige dich, Elisabeth,« setzte Pastor Winter hinzu, »ich bitte deinen Vater, heute abend mein Gast zu sein, und ich lasse ihn nicht eher fahren, als bis durchaus keine Gefahr mehr vorhanden ist.«

Unter den herzlichsten Dankesbezeugungen verabschiedeten sich nun alle von dem wackeren Müller, der nur den einen Wunsch hegte, daß Fräulein Reuter und seinen jungen Freundinnen die Fahrt gut bekommen möge.

Es wurde früher zur Ruhe gegangen als sonst, und nur Elisabeth wachte spät und lauschte in den Sturm hinaus. Ob es wohl noch schneite? Geräuschlos schlüpfte sie aus dem Bette und lugte hinter dem Vorhang hervor. Nein, es hatte aufgehört, und vereinzelt erschienen sogar einige Sterne am Himmel. »Gott sei Dank,« flüsterte sie und kehrte in ihr Lager zurück, und bald lag auch sie im tiefen Schlaf.

In den nächsten Tagen zeigte es sich, daß die Schlittenfahrt doch nicht ganz ohne Folgen gewesen war. Fräulein Reuter war stark erkältet, Wally hustete und Maria mußte sogar einige Tage das Bett hüten, weil sich leichtes Fieber eingestellt hatte.

Herr Ehrhard erschien Mittwoch einige Stunden, um sich nach dem allgemeinen Befinden zu erkundigen, und war bestürzt, als er von Marias Erkrankung hörte. Fräulein Reuter beruhigte ihn indessen mit der Versicherung, daß es durchaus nicht ängstlich sei und ihre Nichte in den nächsten Tagen voraussichtlich das Bett wieder verlassen würde.


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