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Zwanzigstes Kapitel

Man merkte an dem Gang des Doktors keine Unsicherheit mehr und in seinem Gesichte keine erhöhte Farbe. Er hatte einen sicheren Schritt, als er das Zimmer betrat und trug seinen Kopf mit vollem Selbstbewußtsein aufrecht, da er Mountjoy entdeckte; aber er schien doch sehr zurückhaltend zu sein. War der Mann schon wieder nüchtern?

Seine Frau näherte sich ihm mit verbindlichem Lächeln, die Erscheinung ihres Herrn und Gebieters mit gut gespielter Ueberraschung begrüßend.

»Das ist ja ein ganz unerwartetes Vergnügen,« sagte sie, »Du läßt uns selten Deine angenehme Gesellschaft schon so früh am Abend zu teil werden, mein Lieber. Gibt es denn jetzt so wenig Kranke, die Deiner Hilfe bedürftig sind?«

»Du irrst Dich, Arabella; ich bin hier, um eine mir sehr peinliche Pflicht zu erfüllen.«

Die Sprache des Doktors und sein Benehmen ließen ihn Iris in einem ganz neuen Lichte erscheinen. So hatte sie ihn noch niemals gesehen. Welche Wirkung hatte er auf Mrs. Vimpany ausgeübt? Diese unübertreffliche und hilfsbereite Freundin von Reisenden, die sich in einer unangenehmen Lage befinden, schlug die Augen nieder und verharrte in bescheidenem Schweigen. Mr. Vimpany schritt jetzt zur Ausführung seiner Pflicht. Seine peinliche Verantwortlichkeit ließ ihn zuerst an seine Eigenschaft als Arzt denken.

»Wenn es ein Gift gibt, welches die Quellen unseres Lebens verdirbt,« bemerkte er, »so ist es der Alkohol. Wenn es einen Fehler gibt, welcher die Menschen erniedrigt, so ist es die Trunkenheit. Mr. Mountjoy, haben Sie bemerkt, daß ich Sie ansehe?«

»Es war nicht gut möglich, dies nicht zu bemerken,« antwortete Hugh. »Darf ich fragen, was das zu bedeuten hat?«

Es war nicht leicht, ernst zu bleiben bei des Doktors Worten über die Unmäßigkeit, nach dem, was bei dem Essen an diesem Tage vorgefallen war. Hugh lächelte, die moralische Würde des Doktors lehnte sich dagegen auf.

»Das ist wirklich schamlos!« sagte er; »das wenigste, was Sie thun können, ist, die Sache ernst zu nehmen.«

»Welche Sache ist es denn,« fragte Mountjoy, »die ich ernst nehmen soll?«

»Sagt Ihnen das nicht Ihr Gewissen?« fragte Mr. Vimpany; »hat dieser heimliche Mahner in Ihnen geschlafen? Nachdem Sie mir ein schlechtes Essen vorgesetzt haben, fordern Sie auch noch eine Erklärung? Ha, ha, Sie sollen sie haben!«

Nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, ließ er ihnen die That folgen. Er schritt gravitätisch an die Thür, öffnete sie und machte gegen Mountjoy eine kaum mißzuverstehende Bewegung. Iris sah dieses unverschämte Benehmen. Ihr Gesicht wurde rot von Zorn, und ihre Augen funkelten.

»Haben Sie gesehen, was er soeben gethan hat?« sagte sie zu Mrs. Vimpany.

Die Frau des Doktors antwortete sanft: »Ich verstehe es nicht.«

Nach einem Blick auf ihren Gatten nahm sie Iris bei der Hand und sagte: »Wollen wir uns nicht lieber auf mein Zimmer begeben?«

Iris zog ihre Hand zurück und entgegnete:

»Nur wenn es Mr. Mountjoy wünscht.«

»Durchaus nicht,« erklärte Hugh, »bitte, bleiben Sie hier! Ihre Gegenwart wird mir helfen, meine Ruhe und Fassung zu bewahren.«

Dann trat er auf Mr. Vimpany zu und fragte ihn: »Haben Sie irgend einen besondern Grund, die Thüre zu öffnen?«

Der Doktor war ein Schurke, aber, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, er war kein Feigling.

»Ja,« sagte er, »ich habe einen Grund.«

»Und welchen, wenn ich bitten darf?«

»Christliche Nachsicht,« antwortete Mr. Vimpany.

»Nachsicht gegen mich?« fuhr Mountjoy fort.

Den Doktor verließ seine würdige Haltung plötzlich.

»Aha, Verehrtester,« rief er, »endlich sind Sie so weit! Es ist doch gut, wenn man sich gegenseitig versteht! Bei meiner Seele, ich kann meine Bekanntschaft mit einem Menschen nicht fortsetzen, der – o sehen Sie mich nicht so groß an, als ob Sie mich nicht verständen! Die Umstände zeugen gegen Sie, mein verehrter Herr; Sie haben mich gröblich beleidigt!«

»Wodurch denn?« fragte Hugh.

»Unter dem Vorwande, mir ein Essen zu geben,« schrie Mr. Vimpany, »das schlechteste Essen, zu dem ich mich je in meinem Leben niedergesetzt, haben Sie versucht – –«

Seine Frau bedeutete ihm, zu schweigen. Er aber schrie nur um so wütender.

»Dann laß ihn nicht mehr mich so ansehen, als ob er glaube, ich sei betrunken gewesen! Dort steht der Mann, Miß, welcher versucht hat, mich betrunken zu machen!« fuhr er fort, indem er sich nun direkt an Iris wandte. »Dank meiner gewohnten Nüchternheit hat er sich in seiner eigenen Falle gefangen. Er ist betrunken gewesen. Ja, ja, Freund Mountjoy! Haben Sie nun endlich die richtige Erklärung? Dort ist die Thür, Herr!«

Mrs. Vimpany fühlte, daß diese Beleidigung für Iris unerträglich war. Wenn nicht etwas gethan würde, um sie wieder zu versöhnen, so war Miß Henley fähig – ihr Gesicht sprach in diesem Augenblick dafür – gleichzeitig mit Mr. Mountjoy das Haus zu verlassen. Mrs. Vimpany ergriff empört den Arm ihres Gatten.

»Du roher Mensch, Du hast alles verdorben!« sagte sie zu ihm; »sogleich bittest Du Mr. Mountjoy um Entschuldigung! – Du willst nicht?«

»Nein, ich will nicht.«

Erfahrung hatte seine Frau gelehrt, wie er ihrem Willen gefügig zu machen sei.

»Hast Du meine Diamantnadel vergessen?« flüsterte sie ihm zu.

Er blickte sie unangenehm überrascht an. Vielleicht glaubte er, sie hätte die Nadel verloren.

»Wo ist sie?« fragte er erregt.

»Ich habe sie nach London geschickt, um sie taxiren und verkaufen zu lassen. Sofort bittest Du Mr. Mountjoy um Entschuldigung, oder ich lege das Geld auf die Bank, und Du bekommst nicht einen Pfennig davon!«

Inzwischen hatte Iris Mr. Vimpanys Befürchtungen wahr gemacht. Ihre Entrüstung ließ sie jetzt an nichts anderes denken als an die Hugh zugefügte Beleidigung. Sie war zu aufgebracht, um ein Wort hervorzubringen. Mountjoy dagegen verhielt sich bewunderungswürdig ruhig, und seine einzige Sorge war nur, sie zu beschwichtigen.

»Haben Sie keine Angst,« sagte er, »es ist für mich ganz unmöglich, mich mit Mr. Vimpany zu streiten: ich bin nur hier geblieben, um zu erfahren, was Sie zu thun beabsichtigen. Sie haben an Mrs. Vimpany zu denken.«

»Ich habe an niemand anders zu denken als an Sie,« entgegnete Iris; »um meinetwillen sollen Sie keine Minute länger in diesem Hause verweilen, nach der Beleidigung, die Ihnen hier zugefügt worden ist. – O Hugh, ich fühle sie doppelt – lassen Sie uns sofort zusammen nach London zurückkehren. Ich habe nur noch Rhoda mitzuteilen, daß wir abreisen, und meine Vorbereitungen dazu zu treffen. Holen Sie mich ab, ich werde zur rechten Zeit für den nächsten Zug fertig sein.«

Mrs. Vimpany näherte sich Mountjoy, ihren Gatten an der Hand führend.

»Ich bedaure, Sie beleidigt zu haben,« sagte der Doktor, »und bitte Sie deshalb um Verzeihung! Es war nur ein Scherz. Bitte, nicht böse sein!«

Sein kriechendes Wesen war noch unerträglicher als seine Unverschämtheit. Nachdem Mountjoy erklärt hatte, daß es keines Wortes weiter bedürfe, verbeugte er sich vor Mrs. Vimpany und verließ das Zimmer. Sie erwiderte die Verbeugung mechanisch und stillschweigend. Mr. Vimpany folgte Hugh in Gedanken an die Diamantnadel und war sehr beflissen, die Hausthüre zu öffnen als ein weiteres Zeichen seiner Unterwerfung, welches seine Frau zufriedenstellen sollte.

Selbst eine kluge Frau macht zuweilen Fehler, besonders dann, wenn sie sich zufällig in Aufregung befindet. Mrs. Vimpany sah sich in einer peinlichen Lage, die sie ihrer eigenen Unklugheit zu verdanken hatte.

Sie hatte sich dreier schweren Fehler schuldig gemacht. Erstens hatte sie als sicher vorausgesetzt, daß sein eigenes Heilmittel ihren Gatten vollständig wieder nüchtern machen würde; zweitens hatte sie ihn mit der Aufgabe betraut, für sie an jemand Rache zu nehmen, der durch seine Unmäßigkeit hinter ihre Geheimnisse gekommen war, und drittens endlich hatte sie zu voreilig angenommen, daß der Doktor bei der Ausführung ihrer Instruktionen, wie er Mountjoy beleidigen sollte, sich in den Grenzen halten würde, die sie ihm vorgeschrieben hatte.

Als eine Folge dieser drei unklugen Handlungen sah sie sich einem Unglück ausgesetzt, welches sie sehr fürchtete – nämlich dem Verluste der Stellung, die sie in der Achtung von Miß Henley einnahm. In der widersprechenden Unklarheit ihrer Gefühle, wie sie sich so oft bei Frauen zeigt, war diese gefährliche und ränkevolle Person nach und nach, wie sie es selbst beschrieb, durch den Reiz der Einfachheit und Jungfräulichkeit in Iris gefangen genommen worden. Sie redete jetzt zögernd, fast furchtsam das junge Mädchen an, welches sie seit der Zeit, wo sie zum erstenmal mit ihr zusammengetroffen war, auf so außerordentlich geschickte Weise betrogen hatte.

»Muß ich ganz und gar auf alles Verzicht leisten, Miß Henley, was für mich von so ungeheuer großem Werte ist?« fragte sie.

»Ich verstehe Sie nicht, Mrs. Vimpany.«

»Ich will versuchen, mich Ihnen verständlicher zu machen. Beabsichtigen Sie wirklich, mich heute abend noch zu verlassen?«

»Ja.«

»Darf ich Ihnen gestehen, daß ich unglücklich bin, dieses hören zu müssen? Ihre Abreise wird mich der glücklichen Stunden berauben, welche ich noch in Ihrer Gesellschaft genießen wollte.«

»Das Benehmen Ihres Gatten läßt mir keine Wahl,« antwortete Iris.

»Bitte, beschämen Sie mich nicht damit, daß Sie von meinem Gatten sprechen! Ich möchte nur wissen, ob es einen größeren Beweis meiner Ergebenheit für Sie gibt, als wenn ich noch einmal zu fragen wage. Muß ich auch auf das Glück Verzicht leisten, Ihre Freundin zu sein?«

»Ich hoffe, daß ich einer solchen Ungerechtigkeit, wie das wäre, nicht fähig bin,« erklärte Iris. »Es würde allerdings hart sein, wenn man die Schande von Mr. Vimpanys schimpflichem Betragen Sie fühlen lassen wollte. Ich werde es nicht vergessen, daß Sie ihn dazu gebracht haben, sich zu entschuldigen. Viele Frauen, welche das Unglück haben, mit einem solchen Mann, wie der Ihrige ist, verheiratet zu sein, mögen Furcht vor ihren Männern haben. Nein, nein, Sie sind freundlich gegen mich gewesen – ich werde das nicht vergessen!«

Die Dankbarkeit Mrs. Vimpanys war eine zu aufrichtige, als daß sie sie mit der ihr gewöhnlichen Redegewandtheit in diesem Augenblick hätte ausdrücken können. Sie sagte nur, was die einfachste Frau in diesem Falle hätte sagen können:

»Ich danke Ihnen!«

In dem Stillschweigen, welches diesen Worten folgte, ließ sich die rasche und laute Bewegung von Wagenrädern von der Straße herauf vernehmen. Vor der Hausthür des Doktors hörte das Gerassel auf.


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