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Das Haus Nummer fünf lag ungefähr in der Mitte einer kleinen Straße der Vorstadt, welche den Namen Redburn Road führte. Als der Wagen anfuhr, blickte Mr. Vimpany gerade gähnend aus einem der Parterrefenster. Iris winkte ihn heran.
»Ist Ihnen etwas zugestoßen?« fragte er, an die Thür des Wagens herantretend. Sie zog sich vom Fenster zurück und ließ ihn so schweigend sehen, was geschehen war. Der Doktor bewahrte bei dem gräßlichen Anblick seine volle Haltung und ließ den bewußtlosen Mann in das nächste Zimmer im Erdgeschoß tragen. Bleich und zitternd berichtete Iris, wie sie Lord Harry gefunden, und fragte den Doktor, ob irgend eine Hoffnung vorhanden sei, daß derselbe gerettet werden könnte.
»Das will ich Ihnen sofort sagen,« antwortete Mr. Vimpany. Er entfernte den Verband und untersuchte die Wunde. »Eine gehörige Menge Blut hat er verloren,« sagte er, »aber ich werd' es versuchen, ihn durchzubringen. Während ich mich jedoch mit unserem gemeinsamen Freunde beschäftige, bitte ich Sie, Miß Henley, hinauf in das Empfangszimmer zu gehen!« Darauf öffnete er einen schönen Kasten aus Mahagoniholz. »Das sind die Werkzeuge meines Berufes,« fuhr er fort, »ich werde jetzt die Kehle Seiner Lordschaft wieder zunähen.«
Iris schauderte, als sie diese Worte vernahm, und verließ eiligst das Zimmer. Fanny folgte ihrer Herrin die Treppe hinauf. Als sie oben angekommen waren, sagte Fanny: »In der Tasche des Herrn wurde noch ein zweiter Brief gefunden. Entschuldigen Sie, Miß, wenn ich Sie daran erinnere, daß Sie ihn noch nicht gelesen haben!«
»Verzeihe mir zum letztenmal, Geliebte! Mein Brief soll Dir sagen, daß ich Dich niemals wieder in dieser Welt belästigen werde – ob in der andern Welt, wer weiß das? Ich brachte einiges Geld zurück von den Goldfeldern. Es war nicht genug, um ein Vermögen genannt zu werden, wenigstens nicht ein solches Vermögen, das Deinen Vater bestimmen konnte, seine Einwilligung zu Deiner Heirat mit mir zu geben. Nun, hier in England bot sich eine günstige Gelegenheit, dasselbe mehr als zu verzehnfachen – nämlich auf dem Rennplatze, und laß mich hinzufügen, nach im geheimen eingezogenen Erkundigungen über die Rennpferde, auf deren Sieg ich gewiß rechnen konnte. Ich will mich hier nicht damit aufhalten, zu untersuchen, welches grausame Mißgeschick mich ins Unglück stürzte. Mein Geld ist dahin und mit ihm meine letzte Hoffnung auf ein glückliches und sorgenloses Leben an Deiner Seite, meine Iris. Ich sterbe mit dem Hinschwinden dieser Hoffnung. Ein gewisses Gefühl hält mich ab, in dem grausigen Gewühl des großen, übervölkerten Londons Hand an mich zu legen. Ich ziehe es vor, mich aus diesem elenden Leben hinwegzustehlen mitten in der freien Natur, deren Grün mich an mein geliebtes altes Irland erinnern soll. Wenn Du zuweilen später an mich denken wirst, so sage Dir, der Arme hat mich geliebt – vielleicht wird mir dann die Erde leichter sein wegen dieser lieben Worte, und die Blumen werden vielleicht auf meinem Grabe schöner blühen, wenn Du mir überhaupt die Gunst erweisen willst, einige darauf zu pflanzen.«
Hier endete der Brief.
Iris verlor all ihre Fassung, als sie die melancholischen Abschiedsworte gelesen. Wenn er diesen verzweifelten Selbstmordversuch überlebte, zu welchem Ende sollte das führen? Schweigend schob das junge Mädchen, das ihn liebte, den Brief vorn in ihr Kleid. Fanny hatte sie aufmerksam beobachtet. Nach einer Weile machte sie den Vorschlag, hinunter gehen und wieder einmal fragen zu wollen, wie es um den verwundeten Lord stünde. Iris kannte jedoch den Doktor zu genau, um ihr Mädchen diesen nutzlosen Gang machen zu lassen.
»Manche Männer würden in der liebenswürdigsten Weise bemüht sein, mich in meinem Kummer und meiner Sorge zu beruhigen und zu trösten,« sagte sie. »Der Mann da unten gehört aber nicht zu ihnen. Ich muß warten, bis er selbst kommt oder mich holen läßt. Ich möchte jetzt vielmehr, solange wir allein sind, über etwas anderes mit Ihnen sprechen, Fanny. Sie stehen erst sehr kurze Zeit in meinen Diensten. Ist es daher zu früh, wenn ich Sie jetzt schon frage, ob Sie irgend welches Interesse für mich fühlen?«
»Wenn ich Ihnen etwas zu Gefallen thun oder Ihnen irgendwie helfen kann, Miß, so bitte ich Sie, mir nur zu sagen, wie.«
Sie sprach diese Antwort in ihrer gewöhnlichen ruhigen und höflichen Art und Weise; ihre bleichen Wangen zeigten keinen Farbenwechsel, und ihre blaßblauen Augen ruhten unverwandt auf Miß Henleys Gesicht.
Iris fuhr fort:
»Wenn ich Sie nun bitte, das, was sich an diesem schrecklichen Tage ereignet hat, geheim zu halten vor jedermann, darf ich, obgleich Sie mich erst so wenig kennen gelernt haben, Ihnen trauen, wie ich Rhoda Bennet getraut habe?«
»Ich verspreche es. Miß!«
Das Mädchen schien der Meinung zu sein, mit diesen wenigen Worten genug gesagt zu haben.
Iris blieb keine Wahl, als eine neue Bitte an sie zu stellen.
»Wie Sie auch immer die Neugierde plagen mag, wollen Sie sich damit zufrieden geben, daß Sie mir einen Gefallen erweisen, ohne eine nähere Erklärung zu fordern?«
»Es ist meine Pflicht, die Geheimnisse meiner Herrin zu achten; ich werde diese Pflicht erfüllen.«
Keine Gefühlsäußerung, kein Zeichen von Teilnahme konnte Iris an Fanny bemerken; eine einfache Erklärung ihrer treuen Ergebenheit und Pflichterfüllung war alles, was das bleiche Mädchen zu sagen für nötig hielt. Hatte sich ihr Herz verhärtet durch das Unglück, welches ihr Leben verdüstert hatte? Oder war sie nur ein lebendiges Beispiel der ihrem Volke angeborenen Zurückhaltung, welche vor jeder freien Gefühlsäußerung zurückschreckt und gewissermaßen lebt und stirbt in einer selbstgewählten Gefangenschaft und Einsamkeit?
Nachdem ungefähr eine halbe Stunde vergangen war, erschien Mr. Vimpany. Er blieb an der Thür stehen, zog seine Uhr aus der Tasche, sah nach der Zeit und stellte dann eine Berechnung an, die für seine Tüchtigkeit als Arzt zeugen sollte.
»Wenn Sie die Zeit in Rechnung ziehen, welche ich brauchte, um Mylord wieder zum Bewußtsein zu bringen, als er in Ohnmacht gefallen war, und um ihn mit einem Tropfen Branntwein zu stärken und um mir dann meine Hände zu waschen – sehen Sie, wie rein sie sind! – dann habe ich nicht mehr als zwanzig Minuten gebraucht, um seinen Hals wieder in Ordnung zu bringen. Keine schlechte Leistung für einen Wundarzt, Miß Henley.«
»Ist sein Leben jetzt gerettet, Mr. Vimpany?«
»Er hat es seinem Glück zu danken – ja!«
»Seinem Glück?«
»Sicherlich! In erster Linie verdankt er sein Leben Ihnen, dadurch, daß Sie ihn aufgefunden haben und zwar noch zur rechten Zeit; wenn Sie nur ein wenig später gekommen wären, so würde es mit Lord Harry vorbei gewesen sein. Der zweite Glücksumstand war, daß Sie den Arzt zu Hause trafen, gerade, da er am nötigsten gebraucht wurde, und der dritte Glücksumstand endlich: unser Freund wußte nicht, wie man sich mit einem Messer die Kehle ordentlich abschneidet. Sie brauchen mich nicht so finster anzusehen, Miß Henley, ich scherze nicht! Für einen Selbstmörder, mit einem Rasirmesser in der Hand, ist meistenteils etwas sehr günstig – er hat keine Ahnung von der Anatomie, und das ist auch bei Lord Harry der Fall gewesen. Er hat sich nur die äußeren fleischigen Teile an seinem Halse durchschnitten, bis an die größeren und wichtigeren Blutgefässe ist er nicht gekommen. Nehmen Sie mein Wort, er wird sich jetzt schon ziemlich wohl fühlen und schuldet dafür Ihnen, mir und seiner Unwissenheit Dank. Nun, was sagen Sie zu meiner Geschicklichkeit? Ja, heute bin ich noch im vollständigen Besitz meiner Arbeits- und Geisteskraft; heute habe ich noch keinen französischen Rotwein von Mr. Mountjoy getrunken. Verstehen Sie, was das sagen will, Miß Henley?«
Als er sich in der Erinnerung an seine eigene Betrunkenheit vor Lachen fast ausschütten wollte, bemerkte er Fanny Mere.
»Oho, da ist ja auch eine andere Person, welche mich wahrscheinlich auch nötig hat! Sie sind ja so weiß wie Leinwand, Miß! Wenn Sie vielleicht in Ohnmacht fallen wollen, dann thun Sie mir nur den einzigen Gefallen und warten Sie, bis ich die Cognacflasche geholt habe. O, die Farbe ist von Natur so bei Ihnen, nicht wahr? Ich sehe es jetzt; eine dicke Haut und langsamer Blutumlauf. Eine Freundin von Ihnen, Miß Henley?«
Fanny antwortete ruhig für sich selbst:
»Ich bin Miß Henleys Kammermädchen, Sir.«
»Was ist denn aus der andern geworden?« fragte Mr. Vimpany. »Weilt sie noch immer in dem Pächterhause zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit? Wenn es meine Zeit erlaubt hätte, würde ich sie wieder wie damals in meine Behandlung genommen haben, die kleine Rhoda Bennet. Es gibt keinen Arzt in England, Miß, der mehr von den Nervenkrankheiten der Frauen weiß als ich, und was ist mein Lohn? Ist mein Wartezimmer mit reichen Leuten gefüllt, die kommen, um mich um Rat zu fragen? Wohne ich in einem eleganten Viertel von London? Hat man mich etwa zum Baronet gemacht? Zum Donnerwetter – ich bitte um Entschuldigung, Miß Henley – aber es ist für einen Mann von meinen Fähigkeiten kränkend, daß er sich so vollständig vernachlässigt sieht. Während der letzten drei Tage hat nicht ein Mensch meine Schwelle überschritten. Kann ich Ihnen noch mit sonst etwas dienen, Miß?«
Er führte Iris geheimnisvoll in eine Ecke des Zimmers. »Vielleicht in Betreff unseres Freundes da unten?« fragte er.
»Wann dürfen wir hoffen, ihn wieder ganz hergestellt zu sehen, Mr. Vimpany?«
»Etwa in drei Wochen, spätestens in einem Monate. Leider habe ich niemand im Hause außer einer dummen Dienstmagd. Wir müssen jedoch eine erfahrene Pflegerin haben. Ich kann eine durchaus zuverlässige Person vom Hospitale bekommen, aber da ist eine kleine Schwierigkeit. Ich bin, wie Sie wissen, ein Mann, der frei von der Leber weg redet; wenn ich arm bin, so geb' ich es auch zu, daß ich arm bin; unser Lord braucht aber gute und kräftige Nahrung, und auch die Pflegerin will gutes Essen haben. Würden Sie sich nun, Miß, dazu verstehen, mir ein kleines Darlehen zu geben, damit ich vorderhand alle Kosten der Verpflegung bestreiten könnte?«
Iris händigte dem Doktor eine Geldbörse ein, welche Mr. Vimpany sehr mager vorkam.
»Haben Sie vorläufig weiter nichts nötig?« fragte sie und ging nach der Thüre.
»Nein, ich danke, ich bin Ihnen sehr verbunden!«
Als sie sich dem im Erdgeschoß gelegenen Zimmer näherten, blieb Iris stehen. Ihre Augen ruhten fragend auf dem Doktor. Selbst für diesen gefühllosen Menschen war der sprechende Blick ihrer Augen verständlich genug. Fanny bemerkte es und wendete plötzlich ihren Kopf nach der Seite. Ueber das weiße Gesicht des Mädchens huschte finster ein Ausdruck von unaussprechlicher Verachtung. Die Schwäche ihrer Herrin hatte sich verraten – Schwäche für einen der Verräter an dem weiblichen Geschlechte, Schwäche für einen Mann!
Inzwischen war Mr. Vimpany, da er nun das Geld in der Tasche hatte, die Bereitwilligkeit selbst, jedem Wunsche der wegen ihres stets gefüllten Geldbeutels beneideten jungen Dame zu entsprechen.
»Wollen Sie Lord Harry sehen, bevor Sie weggehen?« fragte er und freute sich im stillen auf das, was es da zu beobachten geben würde. »Aber eines leg' ich Ihnen ans Herz: Sie dürfen ihn nicht stören, nicht sprechen und nicht weinen. Sind Sie bereit? So, jetzt treten Sie ein!«
Da lag er auf einem elenden, kleinen Sofa in einem erbärmlichen, engen Zimmer. Seine Augen waren geschlossen. Eine Hand hing hilflos zum Boden herunter. Ueber sein geisterbleiches Antlitz breitete sich eine Ruhe, welche erschreckende Aehnlichkeit mit der Ruhe des Todes hatte. – Da lag er, das unbesonnene Opfer seiner Liebe für das Mädchen, das wieder und immer wieder verzweiflungsvoll Verzicht auf ihn geleistet und das ihn jetzt zum drittenmale gerettet hatte. O, wie ihr verräterisches Herz für ihn sprach!
»Kannst du ihn, nachdem dieses geschehen ist, von dir zurückstoßen, du, die du ihn liebst?«
Plötzlich fühlte sie sich gewaltsam in den Hausgang zurückgezogen. Die Thür wurde geschlossen. Der Doktor flüsterte ihr zu:
»Halten Sie sich aufrecht, Miß! Ich habe mehr Fassung von Ihnen erwartet. Kommen Sie, kommen Sie! Nur keine Ohnmacht, wenn ich bitten darf, Sie werden ihn morgen schon ganz anders finden. Besuchen Sie uns nur, dann können Sie selbst urteilen.«
Nach dem, was Iris erduldet hatte, verlangte sie heftig nach einer innigen, aufrichtigen Teilnahme.
»Ist es nicht bejammernswürdig?« sagte sie zu ihrem Kammermädchen, als sie das Haus verlassen hatten.
»Ich weiß es nicht,« entgegnete Fanny.
»Sie wissen es nicht? Gott im Himmel, sind Sie denn von Stein? Haben Sie denn nicht so etwas wie ein Herz in sich?«
»Nicht für die Männer,« antwortete Fanny. »Ich spare mir mein Mitleid für die Frauen auf.«
Iris wußte, welch bittere Erinnerungen sie dieses Geständnis machen ließen. Wie vermißte sie in diesem Augenblicke Rhoda Bennet!