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Der Abend war herangekommen, und die Kerzen wurden eben in dem Zimmer angezündet, das Mountjoy im Hotel bewohnte.
Seine Angst um Iris hatte sich verdoppelt und verdreifacht, seitdem er die Entdeckung gemacht, daß ihr Vater das Haus des Doktors gerade in dem Augenblick aufgesucht, in welchem gar kein Zweifel möglich war, daß sie sich in Lord Harrys Gesellschaft befand. Das häßliche Gefühl der Eifersucht war jetzt ganz durch die edleren Regungen in Hugh unterdrückt, welche ihn mit Besorgnis und Mitleid erfüllten, wenn er an Iris dachte, wie sie zwischen zwei feindlichen Männern stand, die so geartet waren wie der herzlose Mr. Henley und der leichtsinnige Lord Harry. Er war den ganzen Vormittag in seinem Hotel geblieben, in der Hoffnung, sie würde ihm einen Brief durch einen Boten zusenden; es war aber kein Brief gekommen.
Während er immer noch auf Nachrichten von ihr wartete, welche ihm möglicherweise noch die Abendpost bringen konnte, klopfte der Kellner an seine Thür.
»Ein Brief?« fragte Mountjoy.
»Nein, Sir,« antwortete der Kellner, »eine Dame.«
Bevor sie ihren Schleier zurückschlagen konnte, hatte Hugh Iris erkannt. Ihre Miene war niedergeschlagen, ihr Gesicht verstört, ihre Hand lag kalt und unempfindlich in der seinigen, als er auf sie zugetreten war, sie zu begrüßen. Er rückte einen Stuhl für sie an den Kamin. Sie dankte ihm, lehnte es aber ab, sich zu setzen.
»Ich habe versucht, an Sie zu schreiben, aber ich war nicht im stande dazu.« Sie sagte dies in einem herben Ton und mit düsterer Miene. »Mein Freund,« fuhr sie fort, »Ihr Mitleid ist alles, was ich für mich hoffen kann; ich bin nicht länger der Teilnahme wert, die Sie einst für mich gehegt haben.«
Hugh sah ein, daß es nutzlos sein würde, ihr zu widersprechen; er fragte nur, ob er das Unglück gehabt habe, sie zu beleidigen.
»Nein,« sagte sie, »Sie haben mich nicht beleidigt.«
»Was soll dann um Gottes willen diese Veränderung in Ihrem Wesen bedeuten?«
»Sie bedeutet,« sagte sie kalt, »daß ich die Achtung vor mir selbst verloren habe. Sie bedeutet, daß mein Vater sich von mir losgesagt hat und daß Sie gut thun werden, seinem Beispiel zu folgen. Habe ich Sie nicht glauben machen wollen, daß ich niemals die Frau Lord Harrys werden könne? – Nun, ich habe Sie betrogen – ich stehe im Begriff, ihn zu heiraten.«
»Ich kann es nicht glauben, Iris, ich will es nicht glauben!«
Sie händigte ihm den Brief ein, in welchem der irische Lord ihr seine Selbstmordabsicht mitgeteilt hatte. Hugh sah voller Verachtung drein.
»Dem edlen Lord scheint der Mut dazu gefehlt zu haben?« sagte er dann höhnisch.
»Er würde durch seine eigene Hand gestorben sein, Mr. Mountjoy –«
»O Iris – diese Anrede?«
»Wenn Sie es wollen, so will ich Hugh sagen, aber die Tage unserer Freundschaft sind nichtsdestoweniger vorüber. Ich fand Lord Harry, aus einer tödlichen Wunde am Halse blutend. Es war an einem einsamen Ort in der Nähe von Hampstead Heath. Ich war die einzige Person, die vorüber ging. So hatte es das Schicksal also zum drittenmale gewollt, daß ich ihn rettete. Wie kann ich das vergessen? Meine Gedanken werden immer dabei verweilen. Ich werde versuchen, Glück zu finden – o, nur das Glück, das für mich genug ist, indem ich meinem armen Irländer sein elendes Dasein versüße und ihn so wieder dem Leben zuführe, das ich ihm erhalten habe. Das ist mein Grund, wenn ich einen Grund habe. Tag für Tag habe ich in der letzten Zeit ihn gepflegt, Tag für Tag habe ich ihn Dinge zu mir sagen hören – doch was hat es für einen Nutzen, sie zu wiederholen. Nach Jahren des Widerstandes habe ich den jetzt aufgegeben. Meine ganze Klugheit bestand darin, daß ich einen Streit zwischen meinem Vater und Harry verhindert habe. Ich bitte um Entschuldigung, ich hätte sagen sollen Lord Harry. Als mein Vater in das Haus Mr. Vimpanys kam, bestand ich darauf, mit ihm allein zu sprechen. Ich sagte ihm, was ich jetzt zu Ihnen gesagt habe. Er antwortete nur: ›Ueberlege es Dir noch einmal, ehe Du eine Wahl zwischen jenem Mann und mir triffst. Wenn Du Dich dafür entscheidest, ihn zu heiraten, so wirst Du leben und sterben, ohne auch nur einen Pfennig zum Unterhalt von mir zu bekommen.‹ Er legte seine Uhr auf den Tisch zwischen uns und gab mir fünf Minuten Bedenkzeit. Es waren lange fünf Minuten, aber sie gingen schließlich doch vorüber. Er fragte mich darauf, was er thun solle, ob er sein Testament so lassen solle, wie es sei, oder ob er zu einem Rechtsanwalt gehen und ein neues machen müsse. Ich antwortete ihm: ›Sie können thun, was Ihnen beliebt, Sir.‹ Nein, es war keine übereilte Antwort; Sie können diese Entschuldigung nicht für mich anführen, ich wußte genau, was ich sagte, und ich sah die Zukunft, die ich mir dadurch schuf, ebenso deutlich, wie Sie sie sehen.«
Hugh konnte jetzt nicht länger zu diesen unbesonnenen, verzweifelten Worten schweigen.
»Nein,« rief er, »Sie sehen Ihre Zukunft nicht so, wie ich sie sehe. Wollen Sie hören, was ich Ihnen zu sagen habe, bevor es zu spät ist?«
»Es ist schon zu spät, aber ich will Ihre Worte anhören, wenn Sie es wünschen.«
»Und während Sie mich anhören,« fügte Mountjoy hinzu, »werden Sie mich beschuldigen, daß ich durch ein selbstsüchtiges Gefühl beeinflußt sei. Ich habe Sie innig geliebt; ja, ich liebe Sie vielleicht im stillen noch, obgleich ich weiß: auch wenn Sie frei geblieben wären, würde für mich keine Hoffnung sein. Glauben Sie, daß ich die Wahrheit spreche?«
»Sie sagen immer die Wahrheit.«
»Ich spreche wenigstens in Ihrem Interesse. Sie denken, Sie sähen Ihr zukünftiges Leben deutlich vor sich; ich sage Ihnen aber, Sie sind blind für Ihr zukünftiges Leben. Sie reden, als ob Sie sich widerstandslos darein ergeben hätten, alles über sich ergehen zu lassen. Wollen Sie denn wirklich all Ihr Gefühl für Recht und Unrecht verlieren? Sind Sie entschlossen, das Leben einer Geächteten zu führen und, härter noch als das, sich über alle Schmach desselben hinwegzusetzen?«
»Fahren Sie fort, Hugh.«
»Wollen Sie mir nicht antworten?«
»Ich will Sie nicht unterbrechen.«
»Sie rauben mir nicht den Mut, liebe Iris, ich halte immer noch eigensinnig an der Hoffnung fest, Sie Ihrem besonneneren und wahreren Selbst wiederzugeben. Ich will Lord Harry alle Gerechtigkeit angedeihen lassen, die er verdient. Ich glaube, ja, ich bin vollkommen überzeugt, daß das elende Leben, das er bis jetzt geführt hat, nicht ganz und gar in ihm die Vorzüge zerstörte, welche einen Ehrenmann auszeichnen. Aber er hat einen schrecklichen Fehler. In seiner Natur liegt die verhängnisvolle Nachgiebigkeit gegen schlechte Gesellschaft. Wenn man seinen Charakter von dieser Seite beurteilt, dann ist er ein gefährlicher Mensch und kann vielleicht, verzeihen Sie mir, ein schlechter Gatte werden. Es ist eine undankbare Aufgabe für mich, Sie zu warnen. Eine Frau – und eine liebende Frau mehr noch als eine andere – fühlt nicht den verschlechternden Einfluß ihres Gatten, der ihrer nicht würdig ist. Unvermerkt überträgt er auf sie seine eigene Denkungsart; sie sucht für ihn Entschuldigungen, die er nicht verdient. Ihr Gefühl für Recht und Unrecht verwirrt sich, und bevor sie es selbst noch gewahr wird, ist sie auf seinen Standpunkt herabgesunken. Zürnen Sie mir?«
»Wie kann ich Ihnen zürnen? Vielleicht haben Sie recht.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Ja.«
»Dann, um Gottes willen, überlegen Sie sich doch noch einmal Ihren Entschluß. Lassen Sie mich zu Ihrem Vater gehen.«
»Reiner Zeitverlust,« antwortete Iris. »Nichts, was Sie sagen könnten, würde auch nur die geringste Wirkung auf ihn ausüben.«
»Jedenfalls will ich aber doch den Versuch machen,« beharrte Mountjoy auf seinem Vorschlag.
Hatte er sie wirklich überzeugt? Sie lächelte – wie bitter dieses Lächeln war, bemerkte Hugh nicht.
»Soll ich Ihnen erzählen, was mir begegnet ist, als ich heute nach Hause kam? – Ich fand mein Kammermädchen in der Vorhalle auf mich warten mit allen mir gehörigen Sachen, die zu meiner Abreise gepackt dastanden. Das Mädchen erklärte, sie gehorche gezwungen dem ausdrücklichen Befehl meines Vaters. Ich wußte, was das zu bedeuten hatte; ich sollte das Haus verlassen und mir einen andern Platz suchen, wo ich wohnen könnte.«
»Aber doch nicht allein, Iris?«
»Nein, mit meinem Kammermädchen; sie ist ein eigentümliches Wesen; wenn sie Teilnahme fühlt, so spricht sie es doch niemals aus. ›Ich bin Ihre dankbare Dienerin, Miß,‹ sagte sie; ›wohin Sie gehen, dahin gehe auch ich.‹ Das war alles, was sie sprach. Ich war darüber nicht enttäuscht, denn ich bin das schon von Fanny Mere gewöhnt. Mein Los ist jetzt ein einsames, nicht wahr? – Ich habe Bekannte unter den wenigen Damen, welche zuweilen meines Vaters Haus besuchten, aber keine Freundin. Die Familie meiner Mutter hat sich von ihr losgesagt, wie mir erzählt wurde, als sie einen Kaufmann von zweifelhaftem Ruf heiratete. Ich weiß nicht einmal, wo meine Verwandten leben. Ist nun Lord Harry nicht gut genug für mich, so wie ich jetzt bin? – Wenn ich diese meine günstigen Aussichten betrachte, ist es da nicht wunderbar, wenn ich wie eine verzweifelte Frau spreche? – Aber ein ermutigender Umstand ist, so viel ich sehen kann, doch vorhanden. Diese meine übel angebrachte Liebe, die jedermann verdammt, besitzt merkwürdigerweise einen Vorzug, welchen jedermann anerkennen, bewundern muß. Sie bietet einer Frau, die ganz allein in der Welt steht, einen Zufluchtsort.«
Mountjoy machte heftige Einwendungen dagegen, daß sie allein in der Welt stehe.
»Gibt es irgend einen Schutz, welchen ein Mann einer Frau bieten kann,« fragte er, »den ich Ihnen nicht sofort auf die bereitwilligste Weise gewähren wollte? O, Iris, womit habe ich es denn verdient, daß Sie in meiner Gegenwart von sich als von einem verlassenen, freundlosen Wesen sprechen?«
Endlich hatte er sie doch getroffen. In ihren Augen und in ihrem Lächeln zeigte sich jetzt wieder der süße Zauber von früher. Sie stand auf und trat zu ihm hin.
»Welche übermenschliche Güte muß es sein,« sagte sie, »die einen so klugen Mann wie Sie blind macht für die Hindernisse, die jeder andere sonst sehen kann. Bedenken Sie doch, lieber Hugh, was die Welt zu dem Schutze sagen würde, den Ihr treues Herz mir jetzt bietet! Sind Sie ein naher Verwandter von mir? Sind Sie mein rechtmäßiger Beschützer? Sind Sie ein alter Mann? – Nein, Sie sind nur ein Engel von Güte, den ich nun verlieren muß; ich werde noch diese Ihre Güte für mich in Anspruch nehmen, wenn wir uns nicht mehr sehen. Sie werden Mitleid mit mir fühlen, wenn Sie hören, daß ich immer tiefer und tiefer gesunken bin; Sie werden um mich trauern, wenn ich im Elend ende.«
»Selbst dann, Iris, werden wir nicht ganz geschieden sein. Der liebende Freund, der Ihnen jetzt nahe ist, wird auch dann noch Ihr liebender Freund bleiben.«
Zum erstenmal in ihrem Leben schlang sie ihre Arme um seinen Hals. In dem unendlichen Weh des letzten Abschiedes drückte sie den treuen Freund an ihre Brust.
»Lebe wohl, Du Guter!« sagte sie leise und küßte ihn.
Im nächsten Moment überzog ihr Gesicht eine tödliche Blässe; sie schwankte, als sie sich von ihm entfernte, und sank in einen Stuhl. In der Furcht, sie könnte ohnmächtig werden, eilte Mountjoy aus dem Zimmer, um ein Wiederbelebungsmittel zu holen. Sein Schlafzimmer lag am Ende des Korridors, dort hatte er Riechsalz in seinem Toilettekasten. Als er den Deckel aufhob, hörte er die einzige Thür des Zimmers von der Außenseite verschließen.
Er eilte schnell zur Thür hin und rief nach Iris. Von dem äußersten Ende des Korridors erreichte ihn ihre Stimme zum letztenmale – sie wiederholte ihre melancholischen Abschiedsworte: »Lebe wohl!« – Es kam zu keiner Erneuerung der traurigen Abschiedsscene, nicht noch einmal zu all dem Trennungsschmerz; Iris hatte ihm ein rasches Ende bereitet.