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Wie das erstemal, so erhielt ich auch jetzt die nötige Polizeierlaubnis auf den Namen Menschikow und begab mich damit in die Kanzlei des Stadthauptmanns, wo man mir die gewöhnliche Antwort gab, am nächsten Tag meinen Paß zu holen. Als ich am Abend desselben Tages nach Hause kam, bemerkte ich an der Haustür einen Herrn jenes Typus, den man bei uns »Gorochowoje Palto« nennt, das heißt Spion; da man aber bei uns diesen Herren überall begegnet, so legte ich dem keine Bedeutung bei.
Mit einem der Portiergehilfen war ich schon ziemlich gut bekannt. Das war ein Bauer aus einem der Zentralgouvernements, der schriftkundig und sehr wißbegierig war. Ebenso wie alle anderen interessierte ihn auch sehr, was in Rußland vorging, und jeden freien Augenblick, den er hatte, verbrachte er mit Lesen von Zeitungen. Aber solche Augenblicke hatte er, hauptsächlich im Winter, sehr wenig. So oft mir Sergej, so hieß er, begegnete, fragte er mich: »Was steht in den Zeitungen?« Ich teilte ihm darauf immer alle wichtigen Begebenheiten, welche ihn interessieren konnten, mit. Sehr oft zog er dann ein Papier, auf dem er ihm unverständliche Worte, manchmal auch ganze Sätze, welche er irgendwo herausgelesen und aufgeschrieben hatte, hervor und bat mich, sie ihm zu erklären. Weil er auch hier und da für irgend welche kleine Dienste ein Trinkgeld von mir erhielt, wurden unsere Beziehungen schließlich sehr gute. An dem bezeichneten Abend flüsterte er mir, als ich in den Hof trat eilig zu:
»Man will Sie verhaften, den ganzen Tag laufen hier Geheimpolizisten und Polizei herum, haben sich ausführlich erkundigt, wie Sie leben, wann Sie abends nach Hause kommen usw.
Er blickte sich nach allen Seiten um und ging dann schnell weg.
Diese Nachricht enthielt natürlich nichts Angenehmes. Ich konnte aber auch nicht einfach weggehen und nicht mehr in meine Wohnung zurückkehren, da man dann verschiedene Personen verhaftet hätte, die zu mir kamen. Außerdem würde der am Ausgang stehende Spion, wenn er gesehen hätte, daß ich mich wieder entferne, mich ganz bestimmt angehalten haben. Ich ging also die Treppen hinauf in meine Wohnung.
Dort fand ich schon einen Genossen, der auch als Delegierter für die Reise ins Ausland bestimmt war, vor. Ich teilte ihm das eben Gehörte mit und riet ihm, sich schnell zurückzuziehen; nach seinem Fortgang erschien Parvus, den ich auch bat, sich sofort zu entfernen. Darauf vernichtete ich mancherlei und überlegte mir, auf welche Weise ich unbemerkt an dem Spion vorbeikommen könnte. Als ich wieder fort ging, war er nicht mehr da. Er verfolgte gewiß einen der Genossen, die bei mir zum Besuch waren.
*
Ich übernachtete bei Freunden und machte mich am anderen Morgen daran, meine Reisevorbereitungen zu beenden. Ich erfuhr dann auch, daß man gestern abend während der Sitzung die meisten Mitglieder des Exekutivkomitees verhaftet hatte. Ich hatte mich nicht in die Versammlung begeben, weil ich meinen Reiseplan ändern mußte; infolgedessen war ich der Verhaftung entgangen.
Ich mußte jetzt an schleunige Abreise denken. Die Grenze beschloß ich illegal zu überschreiten, aber aus verschiedenen Gründen wollte ich doch den Paß auf den Namen Menschikow aus der Kanzlei des Stadthauptmanns zu erhalten suchen.
Da ich aber befürchtete, die Polizei könnte schon die Anordnungen getroffen haben, mich bei meinem Erscheinen in der Kanzlei zu verhaften, bat ich einen Bekannten, einen Boten mit einem Brief von mir, in welchem ich ihn bevollmächtigte, den Paß zu empfangen, dorthin zu schicken. Der Bote sollte dann den Paß einer bestimmten Person im Neuen Theater übergeben. Mein Bekannter wollte ihn mir überbringen, wenn ich bereits in Finnland in Sicherheit sein würde. Bei dieser Kombination war niemand der Gefahr ausgesetzt, verhaftet zu werden, selbst für den Fall, daß die Polizei den Boten anhalten würde. Es kam jedoch anders, dank meiner eigenen Nachlässigkeit.
Gegen Mittag war ich reisefertig; aber anstatt der Verabredung gemäß nach Finnland zu fahren, ging ich noch ins Neue Theater, um dort einen befreundeten Schauspieler zu treffen. Der Bote konnte erst nach anderthalb Stunden mit dem Paß da sein, denn man hatte mir gesagt, ich solle erst um halb zwei Uhr in die Kanzlei kommen. Folglich stand mir noch reichlich Zeit zur Verfügung.
Im Theater fand zu dieser Zeit gerade Probe statt. Ich unterhielt mich eine Zeitlang mit der mir gut bekannten Direktorin, traf dort den Genossen, welcher mir die Vollmachten unseres Zentralkomitees zu seiner Vertretung bei den westeuropäischen Arbeiterparteien brachte, und setzte mich dann in eine der leeren und dunklen Logen, um mir das neue Stück anzusehen: nach dem ersten Akt wollte ich fortgehen; da erzählte mir mein Bekannter, daß der Bote ihm schon meinen Auslandpaß gebracht hätte. Die Gefahr war also anscheinend vorbei, und ich fand es nicht nötig, mich mit dem Fortgehen zu beeilen.
Zufällig erfuhr ich von einem Theaterdiener, daß Fürst B–ski, ein guter Bekannter von mir, und noch zwei Herren sich im Foyer befänden. Ich begab mich dorthin. Sie saßen gerade beim Frühstück und luden mich ein, daran teilzunehmen, was ich auch annahm. Einer der Herren erzählte gerade eine lustige Anekdote, als sich die Tür öffnete und auf der Schwelle ein Herr in Offiziersuniform erschien.
»Kann ich vielleicht Herrn Menschikow sprechen?« fragte er.
»Er ist nicht hier,« antwortete sofort Fürst B–ski.
Der Offizier rührte sich nicht vom Platz. Wir saßen alle schweigend da, und nur langsam vergingen die qualvollen Minuten, die mir endlos schienen. Um diesem peinlichen Schweigen ein Ende zu machen, stand Fürst B–ski auf und ging auf den Offizier zu; sie sprachen kurze Zeit leise miteinander.
Nach der Uniform konnte ich nicht beurteilen, welchem Ressort er angehörte, aber zweifellos gehörte er zur Polizei. Ich überlegte nun, wie ich aus diesem Zimmer entkommen könnte, aber ich mußte an dem Offizier vorbeigehen, und dieser hätte dann leicht erraten können, wer ich war. Ich hegte noch die Hoffnung, daß Fürst B–ski dem Offizier vorschlagen würde, den angeblichen Menschikow im Theater zu suchen, um ihn auf diese Weise aus dem Foyer fortzubringen. Nach einigen Minuten kam Fürst B–ski zu mir und sagte leise auf Französisch: »Es ist nichts Ernstes.« Der Offizier sah natürlich, an wen von uns dreien Fürst B–ski sich gewandt hatte, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu ihm zu gehen.
»Mit wem habe ich die Ehre? Was wünschen Sie?« fragte ich ihn.
»Ich bin der Pristawgehilfe des Spaskischen Stadtteils. Wir haben den Befehl, in Ihrer Wohnung während Ihrer Anwesenheit eine Haussuchung vorzunehmen,« antwortete er und lud mich ein, ihm zu folgen.
»Wie dumm das herausgekommen ist«, dachte ich, neben ihm her gehend.
»Haben Sie keinen Revolver?« wandte er sich an mich.
»Nein, beruhigen Sie sich,« bemerkte ich lachend.
Er wandte keinen Blick von mir, besonders als ich die Hand in die Tasche steckte, um mein Taschentuch zu holen.
An der Haustür stand ein Polizist und ein geheimnisvoller Mensch mit heraufgeschlagenem Mantelkragen; der Gehilfe fragte ihn: »Ist das dieser?«
»Derselbe,« antwortete er.
Der Gehilfe lud mich ein, mit ihm in einem Schlitten Platz zu nehmen, und befahl den anderen beiden, in einem zweiten zu folgen.
»Nicht wahr. Sie waren unlängst im Ausland?« fragte er mich unterwegs.
»Vor 14 Tagen«, antwortete ich.
»Wahrscheinlich«, dachte ich, »hat die Polizei gegen mich Verdacht geschöpft, weil ich nach so kurzer Zeit mich wieder ins Ausland begebe.«
In der Seitentasche meines Rockes hatte ich einige mich stark kompromittierende Papiere: die Vollmachten des Arbeiterdeputiertenrats und des Zentralkomitees der russischen sozialdemokratischen Partei, mein Notizbuch und anderes. Das alles wollte ich auf unauffällige Weise während der Haussuchung in meiner Wohnung vernichten. Doch wir waren noch nicht an meinem Hause angelangt, als der Pristawgehilfe dem Kutscher plötzlich zu halten befahl, mich aufforderte, auszusteigen und ihm zu folgen. Er führte mich in ein Polizeirevier.
»Durchsuche ihn nur oberflächlich,« befahl er dem Polizisten, als wir in die Kanzlei eintraten.
Ich halte es für nötig, hier zu bemerken, daß die Gerüchte, die sich verbreitet hatten, man wäre bei meiner Durchsuchung grob mit mir umgegangen, vollständig falsch sind. Im Gegenteil, man war mit mir ziemlich höflich.
Auf das Verlangen des Gehilfen, alles abzugeben, was ich bei mir hatte, nahm ich mein Portefeuille, worin sich meine Dokumente und mein Geld befanden aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Die Vollmacht unseres Zentralkomitees, die in französischer Sprache verfaßt war, beachtete der Gehilfe gar nicht. Als er aber auf dem anderen Dokument, welches deutsch geschrieben war, den Stempel des Arbeiterdeputiertenrats sah, ging er damit eilig ins Nebenzimmer, worauf ein dicker Herr in der Uniform eines Obersten erschien, welcher sich mir als Pristaw dieses Stadtteils vorstellte.
»Sie sind der Edelmann A. N. Menschikow?« wandte er sich an mich.
Ich antwortete bejahend. Darauf fragte er mich, ob ich mich als Besitzer der Vollmacht des Arbeiterdeputiertenrats, die sein Gehilfe mir abgenommen, bekenne? Ich bestätigte dies. Dann hörte ich, wie er aus dem Nebenzimmer in die »Ochranoje Otdelenje« (Schutzabteilung) per Telephon berichtete, daß der Edelmann A. N. Menschikow, bei dem man eine in deutscher Sprache auf den Namen Leo Deutsch ausgestellte Vollmacht mit dem Siegel des Arbeiterdeputiertenrats gefunden habe, verhaftet sei.
Während ich mit dem Polizisten allein war, vernichtete ich unbemerkt einige Notizen in meinem Buche. Bald darauf erschien der Pristaw in Begleitung des Gehilfen wieder, fragte mich nach meinem Namen, Beruf und Alter und befahl dem Gehilfen, alle meine Aussagen und meine Verhaftung auf Befehl der »Ochranoje Otdelenje« zu Protokoll zu nehmen. Man las mir dann das Schriftstück vor, aus dem hervorging, daß die Polizei noch am Abend in meiner Abwesenheit bei mir eine Haussuchung vorgenommen hatte, weil alle Sachen, die sie dort gefunden, aufgezählt waren. Die Erklärung, die der Pristawgehilfe dem Fürsten B – ski gemacht hatte, nämlich, daß mir nur eine Haussuchung bevorstehen sollte, erwies sich als diplomatischer Schachzug.
Das Protokoll über meine Verhaftung unterschrieb ich mit dem Namen A. N. Menschikow; aus dem Benehmen des Pristaws und seines Gehilfen schloß ich, daß sie nicht ahnten, wer ich in Wirklichkeit war, und meine Voraussetzung, daß sie mich als » Deutsch« herausspioniert hatten, bewahrheitete sich nicht.
Lange Zeit blieb ich im unklaren darüber, was den Verdacht der Polizei gegen mich erregt haben könnte.
Es wurde mir all mein Geld abgenommen und in die »Ochranoje Otdelenje« geschickt; dann erklärte mir der Pristaw, daß er den Befehl erhalten habe, mich in das Zellengefängnis (Kresti) zu bringen.
Gegen 5 Uhr nachmittags befand ich mich schon in einer Zelle hinter Schloß und Riegel.
*