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Die Flucht

Der Morgen des 9./22. September brach an. Es tagte kaum, als der Wächter berichtete, die Polizisten seien gekommen, um diejenigen von uns, welche die Erlaubnis hätten, Einkäufe in der Stadt zu machen, zu begleiten. Wir machten uns schnell fertig, und ich begab mich mit Skripnikow in die Stadt.

Unterwegs begann ich ein Gespräch mit den uns begleitenden Polizisten, weil ich erfahren wollte, ob es möglich sei, ihre Wachsamkeit einzuschläfern. Einer machte in dieser Hinsicht einen günstigen Eindruck auf mich, der andere war im Gegenteil ein verdächtiger Mensch, der seine fünf Sinne beieinander hatte.

Wir gingen von einem Laden in den anderen, und ich richtete meine Aufmerksamkeit darauf, ob es nicht möglich sei, sich auf eine oder die andere Weise zu verstecken. Anfangs folgten die Polizisten uns auf dem Fuße und ließen kein Auge von uns. Es wurde in diesem kleinen Städtchen auch sehr bald bekannt, daß zwei Verbannte Einkäufe machten. In einem Laden knüpfte der Besitzer ein Gespräch mit mir an und sagte, daß er schon von mir gehört hätte und sich sehr freue, mich kennen zu lernen. Ich erwiderte diese Höflichkeit und ersuchte ihn, uns mit Zeitungen, die wir schon seit mehreren Tagen nicht gesehen hatten, zu versorgen. Er ging in eine andere Abteilung, sie zu holen, wohin ich ihm folgte. Bald erschien auch ein Bekannter von ihm, der mir noch aus Kiew her nicht fremd war, und wir begannen eine allgemeine Unterhaltung.

»Sie werden natürlich unterwegs entfliehen,« sagte unter anderem der Bekannte aus Kiew, »wenn Sie einer Zufluchtsstätte bedürfen, kommen Sie, bitte, zu mir, ich bin absolut unverdächtig.«

»Das freut mich sehr,« antwortete ich, »aber wie kann ich wissen, ob es mir gelingen wird, unterwegs zu fliehen; vielleicht sollte ich es gleich hier versuchen?«

»Aber wie?« riefen beide in einem Tone aus.

»Auf folgende Weise: ich werfe den Mantel ab und gehe da durch,« sagte ich und zeigte auf die Tür, »sie führt doch sicher in den Hof?«

»Ja,« bestätigte der Besitzer, der sich mir gegenüber für mehr als einen »Kadetten«, fast für einen »Sozialdemokraten« ausgegeben hatte. »Aber nach Ihrer Flucht wird die Polizei kommen, mein Haus umzingeln, eine Haussuchung vornehmen und mich zur Verantwortung ziehen!« rief er, die Farbe wechselnd, aus.

»Sie sind ja nicht verpflichtet, aufzupassen, durch welche Tür Ihre Käufer hinausgehen,« erwiderte ich. »Und wenn die Polizei Ihr Haus umringt, bin ich schon längst nicht mehr da.«

Aus meinen Worten und dem Tone, in dem sie gesprochen waren, las er wohl die feste Absicht heraus, ich sei entschlossen, zu meiner Flucht gerade sein Geschäft zu benutzen, denn er fand keine Worte, mir zu erwidern, und ging schnell in die erste Abteilung zurück, wohin ihm auch eilig sein Gast folgte. Durch dieses Manöver schien es, als ob sie die Verantwortung von sich ablenken wollten; sie erregten dadurch den Verdacht jenes Polizisten, den ich schon früher als verdächtig charakterisiert habe. Während ich mit dem Besitzer sprach, hielt er sich in angemessener Entfernung und beobachtete mich nur durch die Tür; als aber die beiden Personen hinausgingen und ich dort allein blieb, näherte er sich mir sofort. Da ich sah, daß mein Versuch nicht gelang, tat ich, als ob ich die in den Fächern liegenden Waren betrachtete, um das Nötige für uns auszuwählen.

Aber ich gab noch nicht ganz die Hoffnung auf, die Flucht aus diesem Laden zu bewerkstelligen.

Ich mußte nur dem Polizisten den Gedanken einflößen, daß ich eine solche Absicht nicht hege. Deshalb trat ich oft, während wir im Laufe von zwei bis drei Stunden aus einer Abteilung zur anderen gingen, in die hintere Abteilung, kehrte aber jedesmal sehr bald zurück, so daß jeglicher Verdacht des Polizisten schwinden und er wirklich annehmen mußte, ich interessiere mich nur für das Einkaufen und Auswählen der für uns nötigen Gegenstände.

*

Gegen halb zwei Uhr mittags hatten wir alle Einkäufe gemacht, und es blieb nur noch ein Geschäft übrig, wir mußten zahlen und die ausgewählten Gegenstände in Empfang nehmen. Als wir zu diesem Geschäft kamen, sagte ich laut zu Skripnikow, daß wir zwei Droschken nehmen könnten, um ins Gefängnis zurückzufahren. Diese Bemerkung wie auch unsere ganze vorherige Aufführung mußte die Polizisten vollständig überzeugen, falls sie noch Verdacht gegen uns hegten, daß sie sich geirrt hatten. Menschen, die entfliehen wollen, machen nicht in so sorgfältiger Weise Einkäufe für 150 bis 200 Rubel – eine Riesensumme in den Augen solch kleiner Beamten, die im Monat 10 bis 12 Rubel Gehalt erhielten. Zum Glücke waren die ausgewählten Sachen noch nicht gepackt; der ältere Kommis saß in der zweiten Abteilung und war mit dem Zusammenstellen der Summe beschäftigt. Ich ging zu ihm, um nachzusehen, kehrte aber sofort wieder in die erste Abteilung zurück, wo die Polizisten mit dem Genossen Skripnikow waren, und drückte diesem meine Ungeduld über diese Verzögerung aus, durch die wir so viel Zeit verlieren mußten. Das alles tat ich auf so natürliche Weise, daß jeder Gedanke an einen Fluchtversuch schwinden mußte. Ich ging wieder in die zweite Abteilung, als ob ich nachsehen wollte, ob unsere Rechnung nicht endlich fertig sei, und begab mich an die Tür, die, wie ich voraussetzte, in den Hof führte.

In größter Erregung öffnete ich sie und befand mich in einem kleinen Hofe, der von allen Seiten von Scheunen und Speichern umgeben war; doch meine Voraussetzung, daß ein offenes Tor auf die Straße führen müsse, bestätigte sich nicht. Nur eine Pforte war da, aber sie war mit einem Hängeschloß versehen; also war es nicht möglich, einfach auf die Straße zu gelangen. Ich überlegte nun, ob ich nicht über die Pforte klettern sollte; den Gedanken gab ich aber schnell wieder auf, denn wenn jemand aus der Nachbarschaft oder von der Straße aus bemerkt hätte, daß ein ergrauter Mensch am hellen Tage über die Pforte kletterte, so hätte man mich sofort unter dem Verdacht angehalten, als wolle ich fremdes Eigentum mitnehmen.

Ich blickte mich wieder im Hofe um und sah, daß kein Abort vorhanden war. Die Entdeckung freute mich. Ich kehrte in die Abteilung des Ladens zurück und ging ganz nahe an den noch immer über den Rechnungen sitzenden Kommis heran und fragte mit leiser Stimme: »Wo befindet sich bei Ihnen der Abort? Ich habe ihn im Hofe gesucht, aber nirgends gefunden.«

»Im zweiten Hofe,« antwortete er.

»Die Pforte ist aber verschlossen!«

»Da ist der Schlüssel,« sagte er.

Als ich von ihm den Schlüssel erhalten hatte, ging ich wieder in den Hof, aber schon mit viel sichererem Schritte als das erstemal; ich öffnete die Pforte und ging hinaus. Als ich die Pforte, die in den zweiten Hof führte, abschloß, wälzte ich noch einen Balken, der in der Nähe lag, davor.

Das Gefühl, welches mich nun ergriff, glich dem eines Menschen, der ein Kriminalverbrechen begangen hat und sich nun bemüht, die Spuren zu verwischen.

Während ich durch die Pforte trat und sie mit dem Balken versperrte, sah ich in der Mitte des Hofes ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen stehen, welches mich mit großen verwunderten Augen anblickte, als ob sie nicht verstehe, wer ich sei und was ich wolle. Sie war wahrscheinlich eine Bewohnerin dieses Hofes, und mein Gebaren konnte sie, als sie sah, wie ein anständig gekleideter Mann sorgfältig die Pforte sperrte, wie es sonst niemand zu tun pflegte, in Erstaunen setzen.

Ich blickte mich schnell um und suchte das Ausgangstor. Es war durch einige Gebäude versteckt, ich ging schnell darauf zu und fand es weit geöffnet. Ich kannte die Stadt überhaupt nicht und richtete mich nur nach der früher erhaltenen Marschroute, die mir vorzeichnete, nach rechts zu gehen. Ich mußte daher an der Ausgangstür und den Fenstern des Geschäftes vorbeigehen, welches ich soeben verlassen hatte und in dem noch Genosse Skripnikow und die zwei Polizisten zurückgeblieben waren.

Es kann zufällig jemand durchs Fenster schauen, ein Käufer kann ins Geschäft hereingehen oder es verlassen, die Tür wird sich öffnen, und man könnte mich erblicken, solche Gedanken gingen mir durch den Kopf und riefen natürlich ein unbehagliches Gefühl in mir hervor: aber alles wickelte sich glatt ab.

*


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