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4. Die Geschichte der Haushälterin

Freitag, 14. Juni, 11.00 Uhr

»So«, meinte Markham, »wie wär's, wenn wir uns jetzt einmal das Haus ansehen würden? Ich nehme an, daß Sie das schon ziemlich gründlich getan haben, Sergeant, aber ich würde mich gern selbst über die Räumlichkeiten informieren. Auf jeden Fall will ich die Haushälterin erst dann vernehmen, wenn die Leiche abgeholt worden ist.«

Heath erhob sich. »Ich möchte mich selbst gern noch einmal umsehen, Sir.«

»Hier unten lebte Benson allein«, erklärte Heath. »Mrs. Platz lebt oben im ersten Stock. Die Küche befindet sich unten.«

Wir traten unseren Rundgang an. Nacheinander besichtigten wir die modern eingerichtete, kleine Küche und das Eßzimmer. Dann standen wir wieder im Flur am Fuß der Treppe, die nach oben führte.

»Wie Sie sehen, Mr. Markham«, sagte Heath nach unserem Rundgang, »muß der Mörder zur Haustür hereingekommen sein. Es gibt keine andere Möglichkeit. Da Benson allein lebte, war er sicher besonders vorsichtig. Das einzige Fenster, das nicht vergittert war, war das hintere im Wohnsalon, aber es war geschlossen und verriegelt. Außerdem führte es nur in den winzigen Innenhof. Die beiden vorderen Fenster waren durch die Gitter gesichert; durch sie konnte niemand hereinkommen. Von dort kam auch nicht der Schuß, denn Benson wurde aus der anderen Richtung erschossen. Es ist wohl so, daß der Schütze durch die Haustür hereingekommen sein muß.«

»Sieht so aus«, sagte Markham.

»Entschuldigen Sie, wenn ich das sage«, bemerkte Vance, »aber Benson muß ihn selbst hereingelassen haben.«

»So?« sagte Heath. Er war nicht überzeugt. »Nun, das werden wir wohl später noch klären können, hoffe ich.«

»Zweifellos«, stimmte Vance zu.

Wir stiegen die Treppe hinauf und gingen in Bensons Schlafzimmer, das über dem Wohnsalon lag. Das Bett war gemacht und bewies, daß es die letzte Nacht unbenutzt geblieben war. Die Vorhänge waren zugezogen. Bensons Abendjacke und die weiße Hemdbrust hingen über einem Stuhl. Ein geschwungener Kragen und eine schwarze Abendfliege lagen auf dem Bett, wohin sie Benson offensichtlich geworfen hatte, als er am Abend nach Hause gekommen war. Ein Paar Abendschuhe standen neben der Bank am Fußende des Bettes. In einem Glas Wasser auf dem Nachttisch lag eine Platinplatte mit vier falschen Zähnen; ein erstklassiges Toupet lag auf der Frisierkommode.

Dieser Gegenstand erregte das Interesse von Vance. Er besah sich das Toupet eingehend aus nächster Nähe. »Höchst interessant«,, bemerkte er. »Unser verblichener Freund scheint falsches Haar getragen zu haben; wußtest du das, Markham?«

»Ich hatte schon immer den Verdacht.«

Heath, der an der Tür stehengeblieben war, schien ungeduldig zu werden.

Wir gingen wieder hinunter, als die Haustür geöffnet wurde und zwei Männer mit einer Trage hereinkamen. Der Ambulanzwagen war angekommen, um den Toten ins Leichenschauhaus zu bringen. Die brutale, geschäftsmäßige Art mit der Bensons Leiche zugedeckt und auf die Bahre gelegt, dann hinausgetragen und in den Wagen geschoben wurde, ließ mir einen Schauer über den Rücken jagen.

»Ich glaube, wir sollten jetzt mit Mrs. Platz sprechen«, sagte Markham. Heath trat an den Fuß der Treppe und rief der Haushälterin.

Gleich darauf erschien eine grauhaarige Frau in mittleren Jahren im Wohnzimmer. Sie wurde begleitet von einem Mann, der eine dicke Zigarre rauchte. Mrs. Platz war eine einfache, altmodische, mütterliche Frau, und sie machte einen guten Eindruck auf mich.

»Setzen Sie sich, Mrs. Platz«, begrüßte Markham sie freundlich.

»Ich bin der Staatsanwalt, und ich hätte einige Fragen an Sie.«

Sie setzte sich auf einen Stuhl nahe der Tür und wartete, indem sie nervös von einem zum anderen blickte. Markhams beruhigende Stimme schien ihr jedoch wieder Mut zu geben, und ihre Antworten kamen immer flüssiger.

»Hat Mr. Benson Waffen im Haus gehabt? Wissen Sie zum Beispiel von einem Revolver?« fragte er Mrs. Platz schließlich noch.

Zum erstenmal während dieses Verhörs schien die Frau unsicher zu werden, ängstlich sogar. »Ja, Sir. Ich glaube, er hatte einen Revolver«, gab sie zu.

»Wo bewahrte er ihn auf?«

Die Frau sah uns fast flehentlich an und zögerte mit der Antwort, als überlegte sie, ob es ratsam sei, offen zu sprechen. Dann sagte sie leise: »In der Geheimschublade im Tisch dort. Man muß auf den kleinen Messingknopf drücken, um sie zu öffnen.«

Heath sprang auf und drückte auf den von ihr bezeichneten Knopf. Eine winzige Schublade schoß heraus, und darin lag ein Revolver, Fabrikat Smith and Wesson, Kaliber achtunddreißig, dessen Griff mit Perlmutter verziert war. Heath nahm den Revolver heraus; öffnete das Magazin und besah den Lauf. »Voll«, sagte er.

Die Frau schien ungeheuer erleichtert zu sein, sie seufzte hörbar. Markham hatte sich erhoben und sah über Heaths Schulter auf den Revolver. »Darum sollten Sie sich besser kümmern, Sergeant«, sagte er; »wenn ich auch noch nicht sehe, was das mit dem Fall zu tun haben könnte.«

Er setzte sich wieder und warf einen Blick auf einen Zettel, den Vance ihm gerade gegeben hatte. »Noch eine Frage, Mrs. Platz: Sie sagen, Mr. Benson kam früher als gewöhnlich aus dem Büro und verbrachte die Zeit vor dem Abendessen in diesem Zimmer. Waren während dieser Zeit irgendwelche Besucher bei ihm?«

Sie richtete sich ein wenig auf, bevor sie antwortete: »Es kam niemand, soviel ich weiß.«

»Aber Sie hätten es doch sicherlich gehört, wenn die Glocke geläutet hätte?«

»Es war niemand da«, wiederholte sie.

»Und letzte Nacht: hat es da irgendwann einmal geläutet, nachdem Sie schon im Bett waren?«

»Nein, Sir.«

»Und Sie hätten es auch gehört, wenn Sie schon geschlafen hätten?«

»Jawohl, Sir. Gleich hinter meiner Zimmertür ist eine Klingel. Sie und die in der Küche klingeln gleichzeitig. Mr. Benson hat sie so anbringen lassen.«

 

Die wichtigsten Tatsachen, die aus dem viertelstündigen Verhör herauskamen, kann man so zusammenfassen:

Mrs. Platz war schon seit vier Jahren die Haushälterin von Benson und seine einzige Bedienstete. Sie lebte mit im Haus, ihr Zimmer war im oberen Stockwerk.

Am Nachmittag des vergangenen Tages war Benson außergewöhnlich früh aus dem Büro nach Haus gekommen – etwa um vier Uhr – und hatte Mrs. Platz erklärt, daß er an diesem Abend nicht zum Abendessen zu Haus sein würde. Er war dann allein im Wohnsalon geblieben und hatte Mrs. Platz gesagt, daß er nicht allzu spät nach Haus kommen würde. Sie sollte aber nicht auf ihn warten. Das tat sie nämlich normalerweise, wenn er beabsichtigte, noch Gäste mit nach Haus zu bringen. Das war das letztemal, daß sie ihn lebend gesehen hatte. Sie hatte ihn nicht mehr gehört, als er in der Nacht spät nach Haus kam.

Sie war etwa um halb elf zu Bett gegangen und hatte wegen der Hitze die Tür nur angelehnt. Etwas später war sie durch eine laute Detonation aufgewacht. Es hatte sie erschreckt, und sie hatte die Nachttischlampe eingeschaltet. Auf ihrem Wecker, den sie jeden Abend stellte, war es kurz nach halb ein Uhr gewesen. Tatsächlich war es diese frühe Stunde, die sie beruhigte. Wenn Benson abends ausging, kam er selten vor zwei Uhr wieder nach Haus; diese Tatsache und die Ruhe im ganzen Haus ließen sie zu dem Schluß kommen, daß der Lärm einfach nur eine Fehlzündung von einem Auto draußen auf der Straße sein mußte. Also hatte sie sich wieder hingelegt und weitergeschlafen.

Um sieben Uhr am nächsten Morgen kam sie wie üblich herunter, und auf dem Weg zur Haustür, von wo sie die Milch und die Sahne holen wollte, bemerkte sie Benson. Alle Vorhänge im Wohnsalon waren zugezogen. Zuerst dachte sie, Benson sei in seinem Sessel eingeschlafen, aber dann sah sie die Einschußstelle in der Stirn und bemerkte, daß sämtliche Lichter gelöscht waren. Da wußte sie, daß er tot war.

Dann hat sie den Mord sofort telefonisch gemeldet.

 

»Und nun, Mrs. Platz«, sagte Markham und warf einen Blick auf die Notizen, die er sich gemacht hatte, »noch eine oder zwei Fragen, dann werden wir Sie nicht weiter belästigen: Haben Sie in letzter Zeit irgend etwas an Mr. Benson bemerkt, was Sie zu dem Schluß kommen lassen könnte, daß er sich über etwas Sorgen machte – oder, sagen wir, befürchtete er, daß ihm etwas geschehen könnte?«

»Nein, Sir,« antwortete die Frau. »Er war im Gegenteil besonders gut gelaunt während der letzten Woche.«

»Mir ist aufgefallen, daß die meisten Fenster hier im Parterre vergittert sind. Hatte er besondere Angst vor Einbrechern?«

»Nun, eigentlich nicht«, war die zögernde Antwort. »Aber er sagte manchmal, daß die Polizei heutzutage nichts tauge – Sie entschuldigen bitte –, und daß man sich in dieser Stadt schon besser selbst schützen müsse, wenn man keine Schwierigkeiten haben wollte.«

Markham wandte sich schmunzelnd an Heath. »Darüber sollten Sie sich vielleicht einmal Gedanken machen, Sergeant.« Dann wieder an Mrs. Platz gewandt: »Wüßten Sie irgend jemanden, der etwas gegen Mr. Benson gehabt haben könnte?«

»Niemand, Sir«, antwortete die Haushälterin. »Er hatte seine Besonderheiten, aber jeder mochte ihn gut leiden. Er ging dauernd auf Parties und gab selbst welche. Ich verstehe nicht, daß ihn jemand umbringen konnte.«

Markham warf wieder einen Blick auf seine Notizen. »Ich glaube, daß das im Augenblick alles ist – oder was meinen Sie Sergeant? Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

Heath zögerte einen Augenblick. »Nein, mir fällt auch nichts mehr ein – aber Sie, Mrs. Platz«, fügte er hinzu und sah die Frau kalt an, »Sie bleiben hier im Haus, bis wir Ihnen die Erlaubnis geben, es zu verlassen. Wir werden Sie später noch einmal brauchen. Sie dürfen auch mit niemandem über diesen Fall sprechen. Zwei meiner Leute bleiben außerdem noch eine Weile hier.«

Vance hatte während der letzten Sätze etwas auf ein Stück Papier gekritzelt, das er Markham gab. Markham sah stirnrunzelnd darauf und schob die Lippen vor. Dann, nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, wandte er sich erneut an die Haushälterin.

»Sie sagten eben, Mrs. Platz, daß niemand etwas gegen Mr. Benson hatte – mochten Sie ihn auch?«

Die Frau schlug die Augen nieder. »Nun, Sir«, antwortete sie, »ich arbeitete schließlich nur für ihn, und ich kann mich wirklich nicht über seine Behandlung beschweren.« Trotz dieser Antwort machte sie den Eindruck, als wenn sie Benson entweder absolut nicht mochte oder ihn zumindest ablehnte. Markham ging jedoch nicht weiter darauf ein.

Er dankte ihr und entließ sie. Nachdem Mrs. Platz den Raum verlassen hatte, sah er Vance fragend an. »Aus welcher Überlegung heraus hast du mir diese Fragen auf den Zettel geschrieben?«

»Vielleicht war es ein wenig voreingenommen, weißt du«, sagte Vance, »aber als die Dame sich über die Beliebtheit des Verblichenen ausließ, hatte ich das Gefühl, daß sie ein wenig übertrieb. Ganz unbewußt sagte sie etwas anderes als das, was sie dachte und empfand. Deshalb kam ich auf die Idee, daß sie ihn nicht sonderlich liebte.«

»Und wie bist du auf die Waffe gekommen?«

»Wenn sich Benson vor Einbrechern oder Dieben fürchtete, müßte er eigentlich auch eine Waffe haben.«

»Nun, Mr. Vance«, warf Heath ein, »Ihre Neugierde hat auf jeden Fall einen hübschen kleinen Revolver zutage gefördert, der wahrscheinlich nie benutzt worden ist.«

»Übrigens, Sergeant«, entgegnete Vance, ohne sich im geringsten auf den Sarkasmus des anderen einzulassen, »was halten Sie denn eigentlich von diesem hübschen kleinen Revolver?«

»Nun«, antwortete Heath, »ich stelle nur fest, daß Mr. Benson einen perlmutterverzierten Smith and Wesson in der Geheimschublade seines Tisches aufbewahrte.«

»Was Sie nicht sagen – tatsächlich!« erklärte Vance mit ironisch gespielter Bewunderung. »Welch eine Offenbarung!«

Markham unterbrach das Geplänkel. »Warum wolltest du über die Besucher Bescheid wissen, Vance? Ganz offensichtlich ist niemand dagewesen.«

»Das war nur so eine Idee. Ich wollte lediglich hören, was die Platz darauf antworten würde.«

Heath zog seinen Sessel an den Tisch heran und sagte: »Und jetzt, Mr. Markham, sollten wir uns über unsere nächsten Schritte klarwerden, damit wir uns keine doppelte Arbeit machen. Je eher ich meine Männer in Schwung bringe, um so besser.«

»Die Nachforschungen sind ganz und gar Ihre Sache, Sergeant. Ich bin nur da, um Ihnen zu helfen, wenn Sie Hilfe brauchen«, sagte Markham.


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